„Kevin allein zu Haus“: Ein Familienfilm ohne Familie

Als „Kevin allein zu Haus“ ins Kino kam, ahnte keiner, dass der etwas andere Familienfilm zum Weihnachtsfilmklassiker werden könnte. Die Geschichte einer unverschämten Komödie.

Es soll Eltern geben, die ihren Kindern im Kino die Augen zuhielten, als das fiese Verbrecher-Duo zum zehnten Mal in eine der vielen schmerzhaften Fallen tappte, die Kevin zur Verteidigung seines Hauses geschickt aufgestellt hatte. Murmeln, Christbaumkugeln, Spielzeugsoldaten und Bügeleisen als Kriegswaffen.

Doch dann mussten wohl auch sie über den handfesten Slapstick lachen, der inzwischen Jahr für Jahr im Fernsehen oder Stream fest zum Weihnachtsfest dazugehört.

„Kevin allein zu Haus“, inszeniert von Chris Columbus nach einem Drehbuch des großen Comedy-Spezialisten John Hughes („Ferris macht Blau“), ist ein Phänomen. Auch wenn es heute nicht danach aussieht, aber zu seiner Entstehungszeit war das alles andere als abzusehen. Hughes hatte das Drehbuch für die „Family Comedy Without The Family“ an nur einem Wochenende in Champagnerlaune heruntergeschrieben, es wurde aber bei den Dreharbeiten noch einmal massiv verändert.

So war zunächst Kevins Onkel Frank der Initiator hinter dem geplanten Raub im Haus der McCallisters. Der Onkel Frank, der den Eltern des alleingelassenen Jungen noch im Flugzeug auf dem Weg nach Paris verklickern möchte, dass dies ja alles halb so schlimm sei, schließlich hätte er ja auch seine Lesebrille vergessen!

Glücklicherweise blieb es nicht bei dieser Idee, sonst wäre das wohl dümmlichste Verbrecher-Duo der Filmgeschichte wohl eher zur Nullnummer geraten.

„Kevin allein zu Haus“ bringt die ganze Familie zusammen

Obwohl in der Regel die Besetzung der Kinderrolle am meisten Probleme für die Produzenten verursacht, gestaltete es sich in diesem Fall genau andersherum: Hughes hatte die Rolle extra für Culkin geschrieben. Dafür liest sich die Liste, welche Darsteller für Vater Peter McCallister vorgesehen waren (und dann doch alle absagten) wie ein Who is Who Hollywoods: Michael Douglas, Kevin Costner, Martin Sheen, Dan Aykroyd, John Travolta, Bill Murray, James Belushi, Chevy Chase, Harrison Ford, Tom Hanks, Sean Penn, Mel Gibson, Sylvester Stallone, Christopher Lloyd und Jack Nicholson.

Dem im Grunde eher unbekannten und inzwischen verstorbenen John Heard, der letztlich genommen wurde (und wohl keine Angst hatte, von einem Kind gegen die Wand gespielt zu werden), gelingt es allerdings fabelhaft, das verschmitzte, gelassene Familienoberhaupt zu mimen.

Das ist auch bitter nötig, denn Kate O‘ Hara kämpft als Mutter von Kevin nach der heftigen Verlusterfahrung natürlich bis hin zur Karikatur mit einem schlechten Gewissen und Panikattacken. „Home Alone“, wie der Film gleichermaßen nüchtern und treffend im US-Original heißt, ist aber vor allem ein Mutter-Sohn-Film. Eine Liebesgeschichte zwischen einer standhaften Mutter und ihrem tapferen Jungen. Aber auch die Initiationsgeschichte eines Muttersöhnchens, das frühzeitig lernen muss, sich aus der Komfortzone herauszuwagen.

Regisseur Chris Columbus, der mit dem Drehbuch zu „Gremlins“ schon geübt hatte, wie man dem Weihnachtsfest mit sanften Gruselelementen für ein paar Stunden jede Besinnlichkeit austreiben kann, macht wirklich ernst mit seinem Sujet: Nachdem die (un-)geliebte Familie erst einmal aus dem Haus ist – und in Paris natürlich im Regen steht – lebt Kevin nicht nur ungehemmt seine anarchischen Neigungen aus („Ich esse Süßigkeiten und gucke Quatsch im Fernsehen an. Kommt lieber raus und verbietet es mir!“), sondern muss auch in den Krieg gegen zwei Einbrecher ziehen, die es auf sein Heim abgesehen haben und die ganze im Urlaub befindliche Nachbarschaft berauben.

Kevin: "Pfui, die sind ja alle nackt!"
Kevin: „Pfui, die sind ja alle nackt!“

Die von Joe Pesci und Daniel Stern hinreißend hirnlos gespielten „feuchten Banditen“ mögen zwar zuweilen in ihrer cartoonesken Verzweiflung einem verdoppelten Kojoten gleichen, dem der Roadrunner Kevin ein ums andere entwischt. Tatsache ist aber, dass sie einem eigentlich völlig schutzlosen Kind das Fell über die Ohren ziehen wollen.

Jugendschützer müssen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben: „Kevin allein zu Haus“ ist vor allem im zweiten Drittel und bis zu seiner glückseligen Auflösung am Schluss ein echter Terror- und Hausbesetzungsthriller, der eher „Assault – Anschlag bei Nacht“ von John Carpenter zum Vorbild nimmt, als sich auf die gängigen Vorbilder im Weihnachtsfilm-Genre zu beziehen.

Gewalt, die nicht wehtut

Natürlich ist das auch eine amerikanische und testosterongetriebene Obsession, nötigenfalls mit Waffengewalt das eigene Leben und das seiner Lieben zu verteidigen, zumal alle anderen Autoritäten wegfallen oder sich als debil erweisen. Doch während Regisseure wie Sam Peckinpah für ihre moralisch diffizile Reflexion dieses Albtraums („Straw Dogs“) von Kritikern und Zensoren zuverlässig den Kopf gewaschen bekommen, bleibt Kevin für die Zuschauer, egal was er auch anstellt, das unschuldige Lämmchen, dem nichts übelgenommen werden kann.

Mehr zum Thema
Diese 24 Songs retten jedes Weihnachten

Das Drehbuch schlägt allerdings auch dermaßen viele geniale und absurd-komische Haken, dass diese subversive Pille noch von den nervösesten Zuschauern blindlings geschluckt wird. Hughes hatte schon von Frank Capra („Ist das Leben nicht schön?“) gelernt, dass der Weihnachtsfilm eine glänzende Oberfläche für moderne Märchenmotive – die zwei Wölfe und das Geißlein – abgibt, aber vor allem auch als gesellschaftskritische Projektionsfläche herhalten kann.

Die verführerische Wirkung von Eau De Cologne
Die verführerische Wirkung von Eau de Cologne

Nur die wenigsten Zuschauer folgten den breit gestreuten Anspielungen auf die hochgradig dysfunktionalen Familienstrukturen, unfähige Behörden und Polizisten, die abwesende und mit sich selbst beschäftigte Suburbia-Nachbarschaft sowie den schal gewordenen Konsumismus unterm Weihnachtsbaum. Mal abgesehen davon, dass sie ganz bestimmt nicht an Edvard Munchs „Schrei“ dachten, als sie den Dreikäsehoch im Badezimmer zur Scheinrasur mit inflationärem After-Shave-Einsatz kreischen sahen.

„Aber Nacktstrände haben sie?“

„Bitte segne diese nahrhaften Mikrowellenmakkaroni mit Käse und die, die sie mir so billig verkauft haben. Amen“, sagt der eloquente Kinderheld in einer Szene, und es bleibt unklar, ob hier die scharfe Parodie auf derlei Geschmacksverirrungen nur eine Pose ist oder eben geschickt die Produktplatzierung verschleiert. 1990 war der Werbemarkt noch ein anderer und die „Simpsons“, die sich oftmals auf einer ähnlichen Humorstufe einpendelten, gerade erst für ein paar Monate auf Sendung.

Doch nicht nur solche Gehässigkeiten ziehen sich durch den von der Musik von John Williams watteweich und mit Weihnachtssong-Klassikern festlich aufgepluderten Film, sondern auch Dialoge von geradezu absurder Komik. Nur ein Beispiel, möglicherweise das beste:

Rod: „Wer füttert dann die Spinne, wenn wir weg sind?“
Buzz: „Sie hatte gerade eine Ladung Mäuseinnereien, das reicht für zwei Wochen. Ist es wahr, dass französische Mädchen sich nicht die Beine rasieren?“
Rod: „Ein Paar nicht.“
Buzz: „Aber Nacktstrände haben sie?“
Rod: „Nicht im Winter.

Fieser großer Bruder: Devin Ratray als Buzz in „Kevin allein zu Haus“

Als „Kevin allein zu Haus“ ist Kino kam, bedeutete Familienfilm dann eben doch: Film für die ganze Familie. Heuer wirkt das Genre eher als Ausrede für eine ganze Generation, den Kinobesuch mit der eigenen Kinderschar als Ausrede zu nutzen, um fröhlich die eigene Kindheit wieder zurückzurufen.

Neben all diesen Frotzeleien und der mit dem richtigen Timing inszenierten Comic-Gewalt („Angels With Filty Souls“!), die dem Schreckensszenario in den letzten 30 Minuten den Zahn zieht und auch nach der hundertsten Wiederholung ein Spektakel ist, bleiben aber doch die vielen zu Herzen gehenden Szenen in Erinnerung, die dann – natürlich! – den bekannten und wenigstens zur Weihnachtszeit glänzend polierten christlichen Werten entsprechen.

Läuterung in der Kirche
Läuterung in der Kirche

Kevin besucht nach der Flucht vor den Banditen eine Kirche (versteckt sich, so viel Anspielung darf man den amüsierten Zuschauern zumuten, ausgerechnet im Miniatur-Stall von Jesus), wo er prompt auf einen Nachbarn trifft, vor dem er aufgrund seiner garstigen und ungepflegten Erscheinung – und vor allem wegen der Geschichten seines feisten Bruders Buzz – seit längerem Angst empfindet.

Natürlich erweist sich der Alte als von allen alleingelassener Geist, der dem Jungen nicht nur eine passende Moralpredigt hält, sondern sich auch gleich selbst als helfender Engel anbietet. Und natürlich verhindert er zum Schluss, dass Kevin – von den Banditen wie eines der hilflosen Opfer im „Texas Chainsaw Massacre“ an einen (Kleider-)Haken gehängt – schlimmeres Leid zugefügt wird. Dieser verlorenen Seele, die den zart-melancholischen Anstrich des Films hübsch materialisiert, wird dann auch ein Happy End gegönnt.

Nachdem in nur 90 Minuten durch alle Filmfabrik-Emotionen geritten wurde, Frankreich der Lächerlichkeit preisgegeben und der American Way Of Life patriotisch, aber eben nicht ohne ironischen Unterton zurück ins Recht gesetzt wurde, darf schließlich auch die Mutter als Heiligenfigur noch einmal strahlen (und ihren Sohn doch nur Minuten vor der gelassen nachgereisten Familie in die Arme nehmen).

Was blieb da schon für eine Fortsetzung übrig, als all die Ingredienzien des ersten Teils bis zur Lächerlichkeit und völligen Unplausibilität zu potenzieren, den Rest im Kitsch zu ertränken und dem begnadeten Tim Curry ein paar Minuten gut gemeinten Klamauk zu gönnen…

Folgen Sie dem Verfasser dieser Zeilen, wenn Sie mögen, auf Twitter, Facebook und auf seinem Blog („Melancholy Symphony“).

YouTube
YouTube
YouTube
YouTube
20th Century Fox
YouTube

Weitere Highlights

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates