Kettcar – Nach der Empörung
Einer von vielen Gründen, sich aufs Hurricane-Festival zu freuen: Kettcar! Die Hamburger holen mit ihrem Album "Zwischen den Runden" gerade wieder zu einem Rundumschlag über die Liebe, das Leben und den Tod aus.
Wie macht man weiter, wenn man alles hingeworfen hat? „Wir müssen das nicht tun“, sangen Kettcar 2008 auf „Sylt“. Es ging um eine verlorene Liebe, doch das gesamte Album klang wie eine Verweigerung: Die Hamburger wollten nicht mitmachen beim „Rattenrennen und Eigenheimleisten“, sie erzählten Geschichten von kaputten Träumen, verzweifelten Berufsjugendlichen und prekären Arbeitsverhältnissen. Dass in vielen dieser wütenden Songs doch ein kleiner Trost steckte, merkte man erst später, als der erste Schmerz nachließ. Kettcar gingen dann mit Streichern der Neuen Philharmonie Frankfurt auf Tournee und spielten akustische Konzerte – als wollten sie sich die Schönheit zurückerobern. Und langsam, ganz langsam begannen sie, an einem neuen Album zu arbeiten, ihrem vierten.
Doch bevor „Zwischen den Runden“ Gestalt annahm, verabschiedete sich der Schlagzeuger. Für Sänger Marcus Wiebusch „ein langer, schmerzhafter Weg“ – er hatte mit Frank Tirado-Rosales schon in den 90er-Jahren bei der Punkband …But Alive zusammengespielt. Aber immerhin ist es in Hamburg nicht gar so schwer, einen guten Musiker zu finden, wenn man einen Ersatz braucht. Und Christian „Fieten“ Hake brachte sogar ein bisschen frischen Wind in das bewährte Team. „Nach zehn gemeinsamen Jahren schleichen sich natürlich bestimmte Mechanismen ein“, gibt Bassist Reimer Bustorff zu. „Und Fieten hinterfragt natürlich anders. Wenn er sich erkundigt,, Warum habt Ihr das denn so gespielt und nicht so?‘, dann will man nicht einfach sagen:, Haben wir immer so gemacht, ist halt so.'“ Wiebusch ergänzt: „Oder:, Halt die Schnauze, damit sind wir erfolgreich geworden!'“
So erfolgreich sind Wiebusch und Bustorff auch deshalb geworden, weil sie mit ihrem Kollegen Thees Uhlmann ihr eigenes Label, Grand Hotel van Cleef, gegründet haben, als keiner Kettcar haben wollte. Sie schienen in kein Raster zu passen: nicht intellektuell genug für die Hamburger Schule, aber doch zu anspruchsvoll für die Massen. Zu empfindsam für Leute, die ironische Distanz schätzen, aber doch so norddeutsch, dass sie sich kein billiges Pathos erlaubten. Kettcar machten – anders als Uhlmanns Band Tomte – keine Jungs-Musik, aber sie biederten sich auch nicht bei den Mädchen an. Wer also sollte Kettcar hören? Sehr viele Menschen, wie schon das Debüt „Du und wieviel von deinen Freunden“ zeigte. In den schwierigen Nuller-Jahren, nach 9/11 und Dotcom-Wahn, zwischen Kriegen und Börsencrashs streichelte die Musik von Kettcar ihren Hörern sanft übers Haar und sagte: Es wird nicht alles gut. Aber wir können es überleben, wenn wir zusammenbleiben. Der alte Spruch, in Songs umgesetzt: Die Welt können wir nicht ändern, aber uns selbst. So hat die Band selbst es ja auch geschafft: Sie haben sich ihren eigenen kleinen Kosmos geschaffen, und zur Belohnung brauchen sie sich jetzt von keiner großen Plattenfirma gängeln zu lassen, können sich ihre Produzenten aussuchen, ihre Videos selbst in die Hand nehmen und haben auch bei der Songauswahl für ihre Alben das letzte Wort. Das Schlimme ist: genau das.
Natürlich sind Kettcar mit „Zwischen den Runden“ wieder mal nicht zufrieden. Immerhin gibt Bustorff zu, dass man „sehr kleinlich“ wird, wenn man so lange an Liedern herumpuzzelt, und dass man am Schluss immer meint, mit mehr Zeit noch mehr rausholen zu können. Auf die Bemerkung, er wolle aber doch sicher nicht wie Def Leppard sieben Jahre im Studio sitzen, seufzt er trotzdem spontan: „Das würde ich so gerne!“
Was wahrscheinlich auch für Gitarrist Erik Langer gilt, den Sound-Fex der Band. Möglicherweise hätte sie dann aber der Mut verlassen, ihre Lieder so stehen zu lassen: Beim Liebeslied „In deinen Armen“ wird das Klavier von Lars Wiebusch hemmungslos in den Vordergrund geschoben, und auch sonst geben sie niemals der Versuchung nach, die rührenden Momente unter schweren Sounds zu verstecken. Es ist kein Zufall, dass dieses Album sich eher anschmiegt, als anzuecken – den Anspruch, mit jedem Album etwas Neues zu probieren, haben Kettcar immer noch, so Wiebusch: „Bei, Sylt‘ hatten wir uns einen relativ engen Rahmen gesetzt – düster, krachig, heftig -, und jetzt wollten wir uns nicht wiederholen. Obwohl die Welt vielleicht – Stichwort Finanzkrise – noch deprimierender geworden ist, war es für mich klar, dass wir nicht noch so ein deprimierendes Album machen wollen.“
Die Band zog sich zweimal zu längeren Songwriting-Sessions zurück, zunächst ins Rio-Reiser-Haus in Fresenhagen, dann ins Wendland. Und merkte recht bald, dass es bei den neuen Liedern „freundlichere, hellere Momente“ gab – und weniger Einschränkungen: Zwischen dem hymnischen „Im Club“, dem liebevollen „Weil ich es niemals so oft sagen werde“ und dem grimmigen „Schrilles buntes Hamburg“ liegen kleine Welten. Spätestens als Wiebusch mit Letzterem ankam, war klar, dass jetzt keiner mehr Rücksicht auf irgendein Konzept nehmen muss. Zwar blieb, so Bustorff, die „Sehnsucht nach mehr Ruhe, etwas Schönem“, aber grundsätzlich war alles möglich. Es gab viele Diskussionen, wie man die größtenteils ruhigen Lieder nun instrumentieren sollte, aber am Ende machten Kettcar einfach, was sie am besten können: Sie verließen sich auf ihren Instinkt.
Das gilt auch für die Auswahl der Songs – sieben stammen diesmal von Wiebusch, fünf von Bustorff. Und ein Spaß war es nicht, sich zu entscheiden, welche auf dem Album landen und welche im Papierkorb. „Furchtbar“ sei das, sagt der Bassist. „Ganz, ganz schlimm. Demokratisch halt.“ Und der Sänger sagt nur ein Wort: „Hölle.“ Experten aus dem Freundeskreis fertigten Listen mit ihren Lieblingsliedern an, aber das letzte Kommando mussten die fünf selbst geben. Welche Lieder lässt man liegen, welche nimmt man zwar fertig auf, degradiert sie dann aber zu B-Seiten? Ach, allein dafür könnte man zu Def Leppard werden und sich noch mal Jahre im Studio vergraben!
Die Texte hören sich wiederum an, als gingen sie den beiden Songschreibern leicht von der Hand – sie haben eine nonchalante Poesie, die man jenseits von Sven Regener eher selten findet. Sie formulieren nicht alles aus, sondern deuten vieles nur an, manchmal sagt ein Wortfetzen mehr als zehn Sätze. Aber natürlich ist auch das nicht so einfach, wie es wirkt – zumal ihnen immer noch dieses eine Adjektiv im Nacken sitzt: Von den „befindlichkeitsfixierten“ Anfängen sind sie längst weit weg, und im Grunde war das schon damals ein Missverständnis: Die eigenen Wehwehchen spielten bei Kettcar nie die Hauptrolle, und heute erzählen sie einfach vom Alltag in Deutschland und davon, was es bedeutet, sich nicht kleinkriegen zu lassen. Wie mühsam es ist, warum es sich lohnt. Von Liebe und Tod.
Am Ende von „Zwischen den Runden“ steht „Zurück aus Ohlsdorf“, ein untheatralisches Lied über eine Beerdigung. Natürlich fragte sich die Band: Kann man die Leute so entlassen? Nachdem schon bei dem Stück „Nach Süden“ einer dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen ist, nachdem ein Junge in „Erkenschwick“ sein Glück wahrscheinlich nicht findet? Man kann. Weil all diese Lieder etwas Tröstliches, unbedingt Lebensbejahendes haben – und einen Auftrag, den Wiebusch so formuliert: „Hey, nutze die Zeit, sie ist begrenzt … Je älter man wird, desto mehr macht man sich gewahr, dass es morgen vorbei sein kann.“ Es sind „kleine Geschichten über große Themen“, so nennt Bustorff es. Die letzte Entscheidung, mit welchen Worten sie vom Dasein berichten, liegt beim jeweiligen Texter. Man vertraut sich – wie beim Einstiegssong „Rettung“, in dem Wiebusch von einem Typen erzählt, der seiner betrunkenen Freundin beisteht: „Tatsächlich hätte ich gedacht, dass das Wort, Sabberfäden‘ für mehr Irritation in der Band sorgen würde, aber das wurde gleich durchgewunken.“
Es ist ein kleiner Trick, den Kettcar gut beherrschen: In schlauen Strophen originelle Bilder entwerfen, bis sich der Kern der Erzählung unter der Oberfläche offenbart. Wiebusch liebt die Website songmeanings.net, er kann stundenlang die Interpretationen von Cohen- und Dylan-Liedern durchforsten. Was die Menschen aus seinen eigenen Songs machen, will er gar nicht so genau wissen: „Ich darf mir da keinen Kopf machen, sonst wird man verrückt. Lyrik und Eindeutigkeit haben nichts miteinander zu tun. Songs wie, Rettung‘ sind vielleicht eher klar, aber andere geben viel Interpretationsspielraum.“
Zwischen den narrativen Stücken, den Liebesliedern und den Durchhaltehymnen fällt Wiebuschs „Schrilles buntes Hamburg“ immer noch aus dem Rahmen – ein Lied über die Rolle der Kunst, Verwertungslogik und Gentrifizierung, das die Band nicht nur auf ihre Region beschränkt wissen will, so Bustorff: „In jeder größeren Stadt, in der es einen Kultur-Etat gibt, kann dasselbe Lied gesungen werden – überall gibt es dieses Phänomen, dass Kultur immer an die Wirtschaft gekoppelt werden muss. Dass es immer um Vorzeigeprojekte gehen muss. Gut, neulich sprach ich mit einem aus Wuppertal, die haben gleich gar keinen Kultur-Etat mehr, der konnte das natürlich nicht so nachvollziehen. Bei denen findet nichts mehr statt. Aber ansonsten wird das auch in München verstanden, in Stuttgart oder wo auch immer.“ Wiebusch möchte den Song durchaus als Forderung verstanden wissen: „Kunst darf nicht immer nur auf ihre Wirtschaftlichkeit oder Verwertbarkeit abgeklopft werden, sie darf nicht zur Disposition stehen. Niemals. In Hamburg ist es ja ganz konkret so gewesen, dass die Etats des Schauspielhauses und des Altonaer Museums dran glauben mussten, weil wir uns dieses Leuchtturmprojekt (die Elbphilharmonie) geleistet haben. Aber ganz unabhängig davon geht es einfach darum, dass die Kunst jenseits von Verwertungslogik anerkannt wird.“ Und im Besonderen gilt das auch für dieses Schmuddelkind der Kultur, die Popmusik: „Was hat die Musik für die Stadt Hamburg getan! Und sie wird behandelt wie ein dreibeiniger Hund. Die Clubförderung ist ein Witz, es wird strukturell nichts getan. Bei Popmusik heißt es immer:, Ihr macht das schon irgendwie!‘ Und wir machen es ja auch irgendwie. Aber die Kunst im Allgemeinen braucht Platz, sie muss Freiräume haben.“
Da Kettcar nicht nur eine Band, sondern gleichzeitig ihre eigene Plattenfirma sind, müssen sie einen Spagat schaffen – Budgets und Excel-Tabellen auf der einen Seite, die Musik auf der anderen. „Wir müssen immer auf zwei Hochzeiten tanzen“, gibt Bustorff zu, aber das Entscheidende ist: „Beim Songschreiben können wir uns gut davon freimachen. Wir wüssten auch gar nicht, wie man, marktgerecht‘ schreibt. Zum Glück funktioniert es ja auch so! In unserer Anfangszeit, 2002, 2003, habe ich auf jeden Fall schlechter geschlafen als jetzt.“
Dass sie inzwischen etwas entspannter sind, liegt aber nicht nur daran, dass sie eine solide Zuhörerschaft haben (die beiden vorigen Alben schafften es immerhin auf Platz 5 der deutschen Charts), sondern auch daran, dass sie Prioritäten setzen. Für Wiebusch gilt: „Ich habe für mich ganz klar festgestellt, dass ich ein Musiker bin, der nebenbei ein Label hat. Und nicht, dass ich ein Label habe und nebenbei Musik mache. Die letzten zwei Jahre haben wir uns durch und durch als Musiker gefühlt – natürlich auch, weil wir das Glück haben, dass wir Leute gefunden haben, die den Laden schmeißen. Am Anfang hatten wir ja überhaupt keinen. Jetzt haben wir den Luxus, dass wir tagelang nicht im Büro sein müssen, wenn wir Songs schreiben. Denn am Ende ist es doch das Einzige, was mich wirklich interessiert. Es macht schon auch Spaß, Leuten wie Tim Neuhaus oder Young Rebel Set eine Plattform zu geben oder Thees zu flankieren, aber im Grunde bin ich am liebsten Sänger und schreibe Songs.“
Bustorff sieht das genauso, kann aber auch den schnödesten Label-Aufgaben etwas Positives abgewinnen: „Nach einer Tour mache ich ganz gern mal stumpfe Büroarbeit, das holt einen zurück. So wie es auch gut ist, wieder zu lernen, sich zu Hause selbst Frühstück zu machen, nachdem man auf Tour verwöhnt wurde.“ Durchdrehen werden Kettcar in diesem Leben wohl nicht mehr. Sogar als sie im Dezember mit einem Jubiläumskonzert in Münster ihr zehnjähriges Bestehen feierten, ging es ruhig zu, muss Wiebusch gestehen: „Wir haben backstage pseudomäßig ein Sektchen aufgemacht, aber das war’s dann auch. Vielleicht sind wir da zu kühle Norddeutsche – wir überlegen eher pragmatisch, wie’s weitergeht.“ Auch Bustorff ist kein Typ, der voller Nostalgie an die angeblich guten alten Zeiten denkt: „Wir sagen nicht ständig:, Weißt du noch, damals …?‘ Wir gucken eher nach vorne.“
Wie die meisten Kreativen kennen auch Kettcar die Sorge, ihnen könnte nie wieder etwas einfallen. Deshalb ist es für Wiebusch keine Bedrohung, dass jetzt so viele Songs von Bustorff kommen, sondern eine Erleichterung: „Um Konkurrenz geht es da nicht, wir wollen ja dasselbe: das bestmögliche Album machen.“ Davon leben können wollen sie freilich auch. Das Grand Hotel van Cleef funktioniert trotz der vielbeschworenen Krise der Musikindustrie gut, aber gewisse Zukunftsängste hat Bustorff manchmal trotzdem: „Wie lange geht das überhaupt noch, wie lange kann man noch Musik machen, auf der Bühne stehen? Wie entwickelt sich das Label? Da hängt ja auch unsere Existenz dran. Damit setze ich mich natürlich auseinander. Und verdränge das dann schnell wieder. Wenn ich mir jetzt ausmale, wie die Musikindustrie sich entwickelt, dann sind das nicht gerade rosige Aussichten. Wenn ich das Bild düster male, sitze ich in zehn Jahren zu Hause und muss mir einen anderen Beruf suchen – aber was? Was kann ich denn sonst so? Ich versuche, mir nicht zu viele Gedanken zu machen – oder jetzt schon eine Umschulung anzufangen. (lacht) Scheuklappen auf, weitermachen.“
Wiebusch, 43, ordnet die Band zur Beruhigung in einen größeren Kontext ein: In seiner Generation, in der es lauter gebrochene Lebensläufe gibt, weiß ja kaum einer, was er in zehn Jahren machen wird. Warum also sollte es Kettcar besser gehen? Vielleicht, sagt der Sänger lächelnd, wird er irgendwann Kinderbücher schreiben, „irgendwas mit Zauberern“. Aber noch hat die zuversichtliche Grundstimmung, die „Zwischen den Runden“ prägt, Wiebusch nicht verlassen. Manchmal ist Zufriedenheit auch eine Frage der Ansprüche – und notfalls reicht ihm dann das Wesentliche: „Es wird immer irgendeine Akustikgitarre geben und eine Bettkante, auf die ich mich setzen kann. Und dann schreibe ich einen Song, und das fühlt sich gut und richtig an. Und mit Glück wollen es immer noch ein paar Leute hören.“