RS-Check

Kendrick Lamars neues Album ist eine Hip-Hop-Therapiestunde

King Kendricks Rückkehr: Auf „Mr. Morale & the Big Steppers“ blickt der beste Rapper der Welt in den Spiegel, stellt sich seinen Traumata und durchbricht den Familienfluch. Ein erster Eindruck des neuen Albums.

Kämpfe in den Straßen, Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, aber der Sprachmächtigste blieb stumm. Sein Song “Alright” war zur Hymne der neuen Bürgerrechtsbewegung geworden, zwischen “I Can’t Breathe”- und “Black Lives Matter”-Rufen wurde Kendrick Lamars Hook gesungen: “We gon’ be alright!”

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Aber er selbst, der gewaltige Chronist afroamerikanischen Lebens, der wichtigste Rapper der Welt, mied in der aufgeladenen Zeit die Öffentlichkeit, ließ die bisher längste Pause zwischen neuen Projekten immer länger werden.

Ist das eine Waffe?

Jetzt, heute, nach fünf Jahren, endlich, ein neues Album. “Mr. Morale & the Big Steppers”. Auf dem Cover eine bescheidene Familienszene: Kendrick steht mit einem Kleinkind auf dem Arm vor einem Bett, auf dem eine Frau liegt, die ein Baby an ihre Brust hält. Kendrick trägt eine Dornenkrone. Was bedeutet sie? Die Bodenständigkeit der Szene – die braune Wandfarbe blättert ab, ein Heizkörper hängt spröde neben dem Bett – läuft jeglicher Yeezus-Megalomanie zuwider.

Aber: Was steckt da in seinem Gürtel, halb versteckt zwischen Hose und Hemd? Ist das eine Waffe? Die Friedlichkeit des biblischen Bildes ist dahin. Die Wandfarbe ist an vier Stellen abgeblättert. Vier Einschusslöcher? Eines für jede Person. Das sind keine Dornen an seiner Krone, sondern Kugeln. Seine Tage sind gezählt.

Eine große kritische Selbstbeschau

Der Sprachmächtigste spricht wieder: “United in Grief.” So beginnt das Album, das wieder sehr gut ist, sein bestes bisher vielleicht, die Zeit wird es zeigen. Ein herausragendes Album, musikalisch wie textlich. Eine 73-minütige Psychoanalyse, Kendrick richtet seinen scharfsinnigen Blick in den Spiegel, beichtet und berichtet die Dinge, die sein Ego ausmachten, spricht über seine Daddy Issues und seine Bindungsangst, seinen Narzissmus und sein Geltungsbedürfnis, seine Macho-Männlichkeit, unter der vor allem Frauen leiden mussten. Kann er den Fluch, das Trauma, über Generationen weitergegeben, in der Erfahrung der Sklaverei begründet, durchbrechen?

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Die Produktion ist exzellent. So viel passiert auf diesem reichen Album, das Piano als dominierendes Instrument verbindet sich virtuos mit den polyrhythmischen Beats, dem Klackern und Klacken, dem Steppen, den Drum Machines, dem harten Trap, den warmen Samples. Es gibt viele Stimmen, viel Gesang, Kendrick ist näher am Gospel als je zuvor, die religiöse Dimension der Therapiestunde, ihre Nähe zum Beichtstuhl, wird musikalisch gespiegelt.

“I hope you find some peace of mind in this lifetime”, singt eine sakrale Stimme ganz am Anfang. Ich hoffe, dein geplagter Geist kommt zur Ruhe. Und zwar noch in diesem Leben. Nicht die jenseitige Ruhe interessiert ihn. Denn es ist das Hier und Jetzt, in dem er seine Kinder großzieht. “The money wiping the tears away”, aber das ist kein Flex. Zwar kann der Wohlstand die Tränen trocknen. Aber es kommen immer welche nach. “Take off the Chanel, take off the Dolce, take off the Birkin bag”, rappt er im nächsten Track. ”Take all that designer bullshit off, and what do you have?”

Manchmal schwer auszuhalten

Die Frau auf dem Albumcover ist seine Frau, die Kinder auf dem Albumcover sind seine Kinder. Die Intimität des Albums ist manchmal schwer zu ertragen, der Ehestreit auf “We Cry Together“, mit der Schauspielerin Taylour Paige gespielt, mündet in einer “Fuck you! Fuck you!”-Line, die nach einer sehr realen Auseinandersetzung klingt.

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“I bare my soul, and now we’re free”, heißt es am Ende des Albums. Nur wenn ich alles offenlege, kann ich wirklich frei werden, das Trauma transzendieren, den Familienfluch durchbrechen. “Heavy is the head that chose to wear the crown”, rappt er. King Kendrick weiß, wovon er spricht.