Keine Zeit zum Älterwerden: Udo Lindenberg feiert seinen 75. Geburtstag
Udo Lindenberg feiert seinen 75., der eigentlich sein 50. Geburtstag ist. Denn 1971 fing alles an – und Udo blättert mit uns zurück in seinem Fotoalbum und erzählt von Helmut Schmidt, Ted Herold und New Yorker Polizisten.
Besonders viele interviews gibt Udo Lindenberg nicht zu seinem 75. Geburtstag (17. Mai). Stattdessen singt er in dem neuen Lied „Mittendrin“ folgende Zeile: „Keine Zeit zum Älterwerden, wir bleiben einfach nie stehen.“ Der gemeinsam mit Johannes Oerding geschriebene Song ist ein klassischer Udo-Riffrocker, und natürlich kennt man auch das Thema längst von ihm. Viele Lindenberg-Songs handeln zwar vom Altern, aber stets auf der Basis von Durchalte- und Beschwörungsmotiven. Auf spielerische Weise setzt Lindenberg in ihnen die Naturgesetze außer Kraft, will sie für sich nicht gelten lassen. Vor allem handelt es sich bei Texten wie dem von „Mittendrin“ aber natürlich um eine Absage an gesellschaftliche Konventionen: Udo Lindenberg ist nicht bereit, auf die Weise zu altern, die die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat – zahnlos, zurückgezogen, leise.
„Mittendrin“ ist einer von vier neuen Songs, die Udo Lindenberg uns allen und sich selbst zum Geburtstag geschenkt hat. Sie runden die bislang umfangreichste Lindenberg-Werkschau ab: „Udopium“, eine typische Udo-Wortschöpfung. Je nach Konfiguration bis zu 75 Songs aus allen Karrierephasen, mit deutlichem Schwerpunkt auf den großen Alben der Siebziger und jenen der vergangenen Jahre. Ausgespart wurde lediglich die Zeit zwischen 1995 und dem Comeback mit „Stark wie zwei“ (2008) – wie man weiß, die dunklen Jahre, in denen man mit einer Wette auf Lindenbergs 75. Geburtstag keine gute Quote erzielt hätte. Dennoch erschienen damals permanent Alben, und nicht alle sind schlecht.
Der Anlass ist also klar: Wenn der Mensch Udo Gerhard Lindenberg seinen 75. feiert, wird die von ihm erschaffene Kunstfigur automatisch 50 Jahre alt. Im August 1971 erschien mit „Lindenberg“ das deutlich von Krautrock und Hippie-Psychedelik geprägte erste Album noch auf Englisch, ein Jahr später näherte er sich auf „Daumen im Wind“ in Texten und Sound bereits seiner späteren Trademark an, die dann erstmals auf „Alles klar auf der Andrea Doria“ (1973) gänzlich ausformuliert wurde.
Udo Lindenbergs Musik erzählt unsere Geschichten
Sein Leben und das in diesen 50 Jahren erschienene Werk – allein 35 Studioalben sind es bis heute – verhandeln bundesrepublikanische Geschichte aus allen Phasen, künden aber auch von der zunächst oft hölzern wirkenden Art und Weise, wie Rock’n’Roll in Deutschland aufgenommen und interpretiert wurde. Insofern war die Musik von Udo Lindenberg immer auch ein Fenster in die Nachkriegswirklichkeit. Und genauso wie es natürlich falsch ist, den „Tatort“, in dessen Erkennungsmelodie zumindest in einer Version bekanntlich der noch junge Schlagzeuger Udo Lindenberg zu hören ist, immer wieder mit Hollywood- oder amerikanischen Netflix-Produktionen zu vergleichen, so gibt es auch für die Musik von Udo Lindenberg keine sinnvolle internationale Kategorie, mit der man sie vergleichen könnte. Sie erzählt unsere Geschichten, die alten und die neuen, die von gestern und von morgen.
„Kompass“ heißt ein weiterer neuer Song, und ja, wer in den 70er- und 80er-Jahren erst ein Kind und dann ein Jugendlicher war, der hat vielleicht von Udo Lindenberg zum ersten Mal etwas über schwule Liberalisierungskämpfe und Homophobie erfahren („Na und?!“), über die verheerende Wirkung tradierter sexistischer Erziehungsmuster („Der sizilianische Werwolf“), patriarchalisch geprägte Frauenbilder („Mädchen“), die innere Zerrissenheit der zweiten Einwandergeneration („Ali“) oder über ewig gültige Udo-Dauerthemen wie alte und neue Nazis, die deutsche Teilung, den Alkohol, Aufrüstung und Kriegstraumata sowie, klar, die Qualen von Liebeskummer und Eifersucht. Natürlich hatte man nicht die geringste Ahnung, was Feminismus, Homophobie, Rassismus oder Patriarchat überhaupt bedeuten, aber diese Begriffe verwendete Lindenberg auch nicht. Sondern er brachte diese Themen einer ganzen Generation im Stil eines Europa-Hörspiels nahe, setzte auf Liebe, Abenteuer und Mitgefühl gegen die bleierne Schwere der Nachkriegszeit. Insofern konnte man sich aus seiner Musik als junger Mensch ein politisches Koordinatensystem zusammensetzen, was sie für viele tatsächlich wie einen Kompass durch das Leben funktionieren ließ und lässt.
Nicht zuletzt für ihn selbst: Die „Mittendrin“-Zeile „Wir starten wieder durch, das war genug Entbehrung“ zielt natürlich auf die Corona-Pandemie ab, die Lindenberg bislang überwiegend in vorsichtiger Distanz aus einem nicht näher benannten temporären Exil verfolgt, aber immer wieder mit Durchhalteparolen und Ermutigungs-Posts auf seinen sozialmedialen Kanälen kommentiert hat. „Selbst die dunkelste Stunde hat nur 60 Minuten“, heißt es einmal in „Mittendrin“, aber bei aller Aufmunterung geht es in diesen Liedern auch ums Innehalten. Ein sanfter Zweifel durchweht sie, und der steht ihm gut. Denn natürlich weiß auch Udo Lindenberg um die Vergänglichkeit aller Dinge. So ganz geheuer scheint ihm die Zahl 75 nicht zu sein.
„Ich hab letzte Nacht geträumt, es wär vorbei und der Tod stand vor der Tür/ Ich ließ ihn rein“, singt er in „Wieder genauso“. Udo Lindenberg bekommt nachts übersinnlichen Besuch: So einen Song hat er schon einmal gemacht. Er hieß „Du heißt jetzt Jeremias“ und war auf dem Album „Alles klar auf der Andrea Doria“. Beinahe 50 Jahre ist das nun her … Herzlichen Glückwunsch!
Exklusiv für ROLLING STONE erinnert sich Udo Lindenberg an weniger bekannte Momente seiner Karriere
Im Hamburger Onkel Pö (1974)
„Ja, im Pö, erste große TV-Show mit Steffi Stephan, Gottfried Böttger, Helmut Franke und Hans-Otto Mertens – und über Nacht: echter Rockstar, endlich. Geiler Beruf!“
In New York City (1977)
„Das war der erste Band-Ausflug nach NYC. Haben da gut angebreitet irgendwelchen Scheiß gebaut. Erst wollten mich die Cops festnehmen – aber dann hab ich denen irgendeinen Joke erzählt, und es war wieder Ruhe im Karton in the Bronx.“
Backstage im Hamburger Logo (1977)
„Da sieht man mich gemeinsam mit Freya Wippich, damals bei uns im Chor: ‚Hey, Baby, komm, wir machen uns ready für den Auftritt gleich.‘“
Beim Shooting für „Panische Nächte“ (1977)
„Eine Referenz an Ted Herold. Er war die Inkarnation von allem, was man sich in den Fünfzigern in Deutschland unter Rock’n’Roll vorstellte: ‚Oh Baby, Baby, ich bin ein Mann‘, haha. Herold war ein 50er- Jahre-Star und ein Jugendidol von mir. Also habe ich ihn wiederentdeckt und ins Studio eingeladen.“
Beim Maitreffen der SPD in Bad Segeberg (1980)
„Das war kurz vor einer Podiumsdiskussion mit Schmidt und Egon Bahr auf der Open-Air-Bühne. Themen: damalige Atomraketen-Aufrüstung, der sogenannte Nato-Doppelbeschluss. Schmidt dafür, ich dagegen … Millionen dagegen, größte Friedensbewegung gegen Pershings und SS-20. Gefährliche Zeiten.“
Mit Richard von Weizsäcker (1984)
„Wir sprachen über Jugendkultur und politische Rockmusik. Und über meinen Film ‚Panische Zeiten‘, in dem ich den Kanzler einer Bunten Republik Deutschland spielte. Ein Kabinett mit vielen bunten Greenpeaceler-Smarties. Eine erste Vision von einer Peace-und-Klima-sowie-Tierschutz-Partei. DPP, Deutsche Panik Partei.“
Auf dem Roten Platz in Moskau (1985)
„Die geradezu highligen Bolschoi-Edeltänzerinnen, zum ersten Mal genehmigt für ein Fotoshooting mit Dr. Schleuderknie alias Udo Lindenberg.“
Bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes mit Walter Momper (1989)
„Mixed Feelings: Ich und ein Orden? Ist das so richtig? Der Orden wurde später dann zu so einer Art Wanderpokal aufm Kiez. Jeder durfte ihn mal tragen, basisdemokratisch. Irgendwann ist er von Eddy Kantes Lederjacken-Revers abgerutscht, runter in den Gully. Haben ihn aber wieder rausgeholt … Heute hängt er in der Panik City Reeperbahn.“
Frankfurt, Commerzbank-Arena (2015)
„Ein letzter Blick in den Spiegel, weil man auf Schönheit nicht gern verzichtet, und dann sagt Controletti: ‚Signore, die Bühne ist angerichtet.‘ Das Fluggerät steht bereit, ich denke dann: Einer muss den Job ja machen.“
Auf dem Gelände der Meyer Werft, Papenburg (2017)
„Da bin ich total im Eldorado-Rausch. Das war ein Riesen-Open-Air in Papenburg, voll der Regen. Feuchtgebiete, alles nass, beste Laune: Singing in the rain.“
Im Museum der bildenden Künste in Leipzig (2019)
„Mit ‚Ejakulator‘ gemalt, meiner patentierten Erfindung, dem farbenspritzenden Schlagzeug. Das war eine große Ausstellung anlässlich 30 Jahren Mauerfall und Montagsdemos. Meine Verneigung vor den mutigen damaligen Demonstranten gegen das DDR-Horrorregime.“
Auf Tournee (2019)
„Dr. Feelgood! Das ist alles in Echtzeit, beim Song ‚König von Scheißegalien‘. Was da drin ist im Joint, unterliegt meinem privatärztlichen Schweigegelübde.“
Dieser Text wurde aus der Mai-Ausgabe des ROLLING STONE entnommen. Hier geht es zur Bestellung.