Kein Hülle, alles Gefühl
Die Manic Street Preachers triumphieren, Richard Thompson wütet.
Durch die Platten blättern: Wilco, „Being There“. Tori Arnos. George Jones. Lemonheads. Mazzy Star. Pearl Jam. R.E.M. Screaming Trees. Suede. StinaNordenstam. „Bilingual“ von den Pet Shop Boys. „Unchained“ von Johnny Cash. Die „Beatles Anthology“. Und eine weithin unbeachtete Platte von The Cure, „Wild Mood Swings“. Auch das war 1996. Ein gutes Jahr. Vielleicht nicht so gut wie 1986. Aber ordentlich.
Die Manie Street Preachers galten als erledigter Fall, nachdem ihr Sänger und Agitator Richey Edwards verschwunden war. Im Sommer jedoch brachten die verbliebenen drei Musiker „Everything Must Go“ heraus, ein Statement, ein Fanal unter Tränen. „A Design For Life“, der Hymnus auf das einfache Leben der arbeitenden Bevölkerung, erreichte Platz 2 der britischen Charts. Die Manics waren Popstars geworden – ohne ihren Star. Das Album – einige Texte stammten noch von Edwards – brachte den Brit-Pop an sein linde, ohne überhaupt Hrit-Pop zu sein.
Die pathetische Musik von James Dean Bradfield und seinen brünftiger Gesang hatten sie von dem todessehnsüchtigen „Motorcycle Emptiness“ hinübergerettet, doch die Attitüde stimmte jetzt nicht mehr. Ein paar Jahre zuvor – sie waren aus der walisischen Provinz gekommen – wollten sie größer als Guns N‘ Roses werden, gaben sich rotzig und arrogant, kokettierten mit Nihilismus und Kapitalismuskritik. Nicky Wire trug ein T-Shirt mit dem Konterfei der Porno-Aktrice Traci Lords und war so unberechenbar wie linkisch. Viel Bildungsballast und Radikalität hatte Edwards den Freunden verordnet, und „The Holy Bible“ war sein wütendes Manifest eines Weltekels, der nicht kuriert werden konnte. Nun sangen die Manics tränenblind „No Surface, All Feeling“ – die Umkehrung ihrer früheren Maximen. Und größer, besser und wichtiger als in jenem Sommer 1996 wurden sie nie mehr. Das Werk von Richard Thompson taugte noch nie zum Spektakel, obwohl es mit den Jahren immer besser geworden war. „RumorAnd Sigh“ und „Mirror Blue“ waren zuletzt in Schönheit untergegangen – nun legte der Engländer mit Wohnsitz in Los Angeles ein Doppelalbum vor. „You?Me?Us?“ bündelt in exemplarischer Weise die Themen des vitriolischen Spötters: Liebe und Hass, die Unzuverlässigkeit des Gefühls, die Hölle des Zwischenmenschlichen, die Heuchelei und Bigotterie des Bürgerlichen. Bitterer als hier hat nicht einmal Elvis Costello mit den Schimären des Lebens abgerechnet.
Auf der ersten Platte, „Voltage Enhanced“, spielt der Meistergitarrist einen Reigen unerbittlicher Wutlieder: „Razor Dance“, „Put It There Pal“, „No’s Not A Word“, „Bank Vault In Heaven“ und „The Ghost Of You Walks“ lassen einen schaudern, als müsste man einem akustischen Horrorfilm zuhören, und Richard Thompson richtet mit Jerry Scheff und Mitchell Froom ein wahres Inferno aus falschen Versprechen und enttäuschten Hoffnungen an. Die zweite Platte, „Nude“, ist nur noch Trauer; „Cold Kisses“ heißt ein Stück: „At least we loved too much, felt too much, cared too much.“
Nichts war hier Fassade, alles war Gefühl. Und bald würde Bob Dylan die Antagonismen aussöhnen: Alles sei Oberfläche – und alles Sentiment.