Kater & Katzengold
Das erste Mal nach Prag kam ich fünf Jahre nach der Wende, fünf Jahre zu spät. Wenigstens war es immer noch schön, von Dresden das Elbtal hinaufzufahren. In meinem Abteil niemand ausser einem jungen Amerikaner, knapp neunzehn. Über dem Schirm seiner falsch herum getragenen Baseballmütze hielt eine silberne Hand ein goldenes Kruzifix mit der vertikalen Aufschrift „TRUTH“. Ich hatte nichts bei mir ausser einem kleinen Sack voller nutzloser Dinge und einem Band mit Short Stories von Harold Brodkey. Es war ziemlich heiss – und irgendwie hatte man das Gefühl, dauernd dreckig zu sein.
„Wie lange warst du in der Ukraine?“ fragte ich. „Zwei Monate.“ Er kam aus Oregon und hatte vor seiner missionarischen Feuertaufe einige Zeit in einem Gottescamp verbracht. Bibel im Rucksack und Basisarbeit in Kiew und Umgebung. Nun befand er sich auf einer unlogischen Zickzacktour durch Europa, um Austauschfreunde zu besuchen. „Ich war noch nie in Europa.“ „Wie findest du es?“
„Cooler Ort. Die Unterschiede zwischen den Ländern haben mich erstaunt. Wirklich, cooler Ort.“
„Und danach?“ „Wahrscheinlich gehe ich aufs College. Ich kann mir auch gut vorstellen, später im Amazonas zu enden, oder so. Es gibt einige ganz -interessante Posten da draussen.“
Prag – Disneyland.
Natürlich kam ich wieder. Es lag nicht an den schönen Häusern. Es lag auch nicht an dem traurigen Mann am Rinnstein. Er saß da, bärtig, und ließ die Schnur seiner Angelrute in den Gulli hängen; Sebastian sagte, er hätte ihn schon des öfteren gesehen. Es lag an den Amerikanern und ihrer Dollarboheme in Joe’s Bar. Es lag an den Interrailern und ihren gitarrenspielenden Neohippies auf der Karlsbrücke. Es lag an kiffenden Tschechen in Szenekneipen voller Krachmusik, die wie eine Atombombenexplosion unter dem gebrochenen Eis der Diktatur war. Diese lag nun in fernster Vergangenheit; ich erlebte das erst jetzt.
Da gab es diese Bar auf der anderen Seite der Moldau, in einiger Entfernung von den Füßen des Hradschin. Eine gerade Straße, Altbauten, Leute vor dem Eingang, rauchend. Wir mußten Eintritt zahlen. Vorbei an einer Konzerthöhle, Treppe zur Bar in den ersten Stock. Früher waren die Wände mit politischen Sprüchen bedeckt gewesen, nun mit Reklamepostern obskurer Punkbands. Über der Türe hing ein Havel-Foto neben internationalen Autokennzeichen; anderswo in der Stadt hatte man den Präsidenten bereits abgehängt.
„Gott was sind wir bürgerlich“, sagte Sebastian. „Ich fühle mich überhaupt nicht bürgerlich“, erwiderte ich trotzig. Die Musik klang so, als hätte man eine Handvoll tollwütiger Ratten in eine Blechtrommel gesperrt und diese an den Verstärker angeschlossen.
„Nein?“ Er sah mich freundlich an, abwartend, die Augenbrauen hochgezogen. An den zwei Tischreihen entlang der Wände rauchten düstere Menschen trompetengroße Joints. Die Jungs neben uns schlugen im Takt auf den Tresen, strahlten uns an. Jemand drückte mir einen Totenschädel in die Hand. Ich starrte auf das Loch für die Wirbelsäule und überlegte, ob ich irgendetwas inhalieren sollte. „Weiterreichen“, meinte Sebastian trocken. Der Schädel wanderte nach links, blieb an einem Tisch hängen. Kopfschütteln.
Wir fuhren zum Schiff. Auf dem Rücksitz Ralph: Vater Schweizer, Mutter Japanerin. Jemand meinte, er sähe aus wie Gregory Peck. Moldaubrücken. Gründerzeitquartiere. Über allem leuchtete der angestrahlte Hradschin in Festbeleuchtung. Pluff, schaltete man das Licht aus. Der Hügel verschwand wie weggewischt: Mitternacht.
Es war noch warm, das umfunktionierte Touristenboot voller junger Leute, Typus Bar von vorhin. Eine Stahltreppe führte nach unten in einen Raum, wo einen das Einatmen bereits high machte. Wir standen auf dem Oberdeck. Pilsner Urquell in den Händen. Um uns zottelige Gruppen im Schneidersitz. Dann setzten sich zwei deutsche Mädchen in schwarzen Bustiers und roten Baseballmützen an den Nebentisch. Es kam zu einer kollektiven Erektion: Männer stürzten aus allen Himmelsrichtungen hinzu, stellten Fragen, machten Witzchen. „Wir sprechen kein Tschechisch, kein Englisch, kein Italienisch, kein Französisch“, quäkte die eine, „nur DEUTSCH.“
Am Wochenende mußte ich zurück nach Berlin. Montags kam ich wieder. Nach zweiundsiebzig Stunden hatte ich Prag in allen Formen von schlechtem Wetter gesehen: Regen, Nebel, Kälte, Sturm. Der traurige Mann mit der Angelrute war duch einen schlafflippigen Dickbauch ersetzt worden, der ein Pappschild emporhielt mit der viersprachigen Aufschrift „Bitte achten Sie auf Ihre Handtasche“. Ich saß abends auf der Mauer der Karlsbrücke und ärgerte mich: das letzte Mal war hier noch alles voller Musikanten gewesen, die auf ihren Gitarren schrummelten und von Rucksacktouristen umgeben waren, die im Kreis am Boden hockten und „Let it Be“ sangen.
„Wir sind per Anhalter nach Wien gereist und von dort mit dem Zug nach Prag. Morgen wollen wir weiter mit dem Zug nach Posen fahren und von dort per Anhalter heimwärts nach Danzig“, erzählte Mariusz. Jarek hörte mit schmalen Wangen aufmerksam zu; sein Englisch war schlechter.
„Was hast du jetzt vor?“ fragte der Wortführer der beiden Studenten und öffnete die Augen hinter der runden Brille. Er hatte leichte, blonde Haare, die sich an den Schläfen zu lichten begannen. Jarek war dunkel, beide unrasiert vom Zelten. „Kennst du hier eine gute Bar?“
„Laßt uns auf die andere Seite gehen.“ „Wir sollten etwas finden, was nicht so teuer ist.“ „Ich habe da oben eine gesehen, wo das Bier nur 14 Kronen kostet“, sagte Jarek, „oder 14,50.“
Wir liefen über die Brücke in Richtung Kleinseite, erstiegen die Straße zum Hradschin. Touristenpreise. Dann fand Jarek sein Lokal. Am Tisch gegenüber ein tschechischer Intellektueller: Brille, Knautschgesicht, Struwwelhaare. Er schäkerte mit seiner Frau, trank Rotwein, aß Ente, lachte neugierig zu uns herüber.
„Reisen junge Polen viel?“ fragte ich.
,Ja, auch innerhalb Polens. Es ist ein ziemlich interessantes Land, und gerade im Sommer gibt es viel zu sehen.“
„Viele Festivals“, sagte Jarek.
„Gerade ist eines in Jarocin. Du solltest da aber nicht hingehen – da herrscht Krieg“.
„Was für ein Krieg?“
„Es ist ein Punkfestival. Die Leute kommen aus ganz Polen und prügeln sich mit der Polizei. Es herrscht richtig Krieg da.“
Jedes Jahr gibt es Tote. Es werden Überlegungen angestellt, das Festival abzuschaffen. Die Einwohner sind nicht mehr sicher. Die Punks schlagen Fenster ein, beschädigen Häuser.“ Er zischte ärgerlich durch die Zähne. „Das ist richtig dumm!“
Englische Punks hatten gegen den Kapitalismus rebelliert. „Warum werden Leute in Polen Punks?“ erkundigte ich mich.
„Sie wollen anders sein. Oft haben ihre Eltern viel Geld, sind sehr reich. Die Kinder wollen damit nichts zu tun haben.“ Unser Bier kam. „Meine beste Freundin ist Punk“, sagte Mariusz. Er studierte Jura. „Diesen Sommer ist sie mit Autostop durch Deutschland, Belgien, Frankreich gefahren. Als sie zurückkam, hatte sie blaue Haare. Es war ein ziemlicher Schock.“ Er grinste zu Jarek herüber. „Eigentlich lieben wir zwei Schwestern. Jarek hat eine sehr attraktive Freundin“ – dieser zauberte ein Photo aus der Brieftasche – „und ihre Schwester ist für mich interessant. Vielleicht werden wir sie beide heiraten. Dann sind wir eine große Familie.“
Er beugte sich zu mir nach vorne. „Ich möchte dich etwas fragen. Was hältst du von unserem Präsident Walensa?“
„Eine große Persönlichkeit. Wale – wie spricht man den Namen eigentlich aus?“
„Ua-uen-sa.“ Mariusz schüttelte den Kopf. „Am Anfang war er sicher sehr wichtig. Aber nun ist er nicht mehr gut. Er ist für sein Amt nicht geeignet. Dauernd sagt er unglaublich dumme Sachen.“
„Richtig dämlich.“
„Verrücktes Zeug. Er ist halt Elektriker.“ „Das klingt aber nach einer sehr kapitalistischen Unterscheidung“, warf ich ein, „ich dachte, solche Unterschiede hat es nicht geben dürfen.“
„Nein, das ist falsch. Das kommunistische System: unten waren die Arbeiter, das Proletariat. In der Mitte war die Stadtbevölkerung. Und oben war die Intelligenz. Nun ist der Kommunismus verschwunden, und wir sind alle gleich. Es gibt z. B. Akademiker, die jetzt Läden besitzen… Das meine ich auch gar nicht. Walensa ist für seinen Job einfach nicht qualifiziert.“
Wir zahlten, liefen die Straße hinunter, überquerten den Platz vor der St. Niklas Kirche. Die beiden Polen wollten den letzten Bus erreichen. „Was für Musik magst du?“ fragte mich Mariusz. „Kennst du The Cure?“
„Natürlich.“
„Dann laß uns ein Lied von ihnen singen!“
„Ich kann nicht singen.“
„Dann sag, welches du gerne hören würdest!“
„In Between Days'“. Ein anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
„Yesterday I felt so old, I thought that I would die“, sangen die beiden mit anschwellenden Stimmen. Es war wieder kalt geworden. Der Schönheit des Ortes tat das keinen Abruch. Barockfassaden, Kopfsteinpflaster – man hatte hier einfach keine Fehler gemacht. „Go on, go on, your choice is made, da-ding da-ding-di-ding diding, da-ding da-ding…“
Wir verabschiedeten uns auf der Karlsbrücke. Die schwarzen Statuen auf dem Geländer standen in schwindender Perspektive eingefroren vor dem blauen Scherenschnitt der Altstadt. Spitztürme, Kuppeln, Zinnen, es war eine sternklare Nacht, und der Vollmond schien. Ich atmete tief aus. Da sah ich plötzlich meinen Atem. Der Herbst hatte begonnen.
Sebastian im Büro: Anzug, Telefone, Menschen am Computer. Ich versuchte mich daran zu gewöhnen, daß ehemalige Mitschüler begannen, Unternehmen zu beraten, selbständig zu sein, Geld zu verdienen. Am Eingang ein Pförtner hinter Glas; das frischrenovierte Haus gehörte einem italienischen Architekten.
„Eigentlich müßtest du mir jetzt ein Zigarre anbieten“, sagte ich. Draußen reisten schwammige Wolken über den Himmel „Nein, aber du kannst gerne einen Kaffee oder Mineralwasser haben.“ Ich blickte über den schwarzen Schreibtisch auf ein Regal voller schwarzer Aktenordner. „Unsere Aufgaben hier sind in erster Linie Ausgliederungen und Kostensenkungen“, wurde mir erklärt.
„Geht denn das so einfach? Ich kann mir irgendwie schwer vorstellen, direkt von der Uni zu kommen und gleich so Leute zu beraten.“
„Ach, das ist alles wirklich kein Geheimnis. Wir – wir haben da zum Beispiel einen Kunden, der seine ganzen Kartons aus Deutschland bezogen hat Hier gibt es die natürlich viel billiger, wir haben ihm einen tschechischen Lieferanten vermittelt, der zu einem Bruchteil produziert, er war natürlich dankbar, und“ – Sebastian hob Augenbrauen und Schultern – „über ein ganzes Jahr summiert sich das dann halt zu vier Millionen Mark.“
Am Abend gingen wir wieder aus. Unser Ziel: Pompous Juan. Als wir vor dem Lokal standen, hatte es bereits wieder dichtgemacht. Hinter den schmutzigen Fensterscheiben sah man die Reste der Einrichtung gestapelt auf den Tischen.
„Vor einer Woche habe ich noch die Anzeige in der Zeitung gelesen“, sagte Ralph.
„Das ging aber schnell“, sage ich.
„Tschechische Krankheit“, sagte Sebastian.
„Und was ist die?“ fragte ich.
„Es werden einem Dinge versprochen, die nicht eintreffen.“
Wir fanden bald eine Alternative. Sebastian hatte zugenommen, aß Unmengen Fleisch, trank Unmengen Bier, würde jede Nacht mit uns Prag auf den Kopf stellen, bis in die Morgenstunden. Das war hier einfach. „Osteuroparhythmus“, sagte er mir. Sein Humor bestand in der ironischen Doppelbelegung von Worten. Wir hatten über zwei Jahre auf dem Internat ein Zimmer geteilt, später zusammen in Afrika gezeltet. Nun fragte ich mich, wie er das durchhalten wollte.
Wir zogen weiter, tranken Gin Tonic mit einem deutschen Immobilienmakler, einem österreichischen Suppenvertreter, einer Berliner Nachrichtensprecherin, die auf Kurzbesuch war. Die geräumige Bar im Wohnzimmerstil befand sich fest in angelsächsischen Händen. Der Mann hinter dem Tresen kam aus Neuseeland, seine Kolleginnen aus Amerika. Eine hatte ein Gesicht wie eine italienische Renaissancemadonna. Ich sah die Konturen und dachte an Raffael; dann sah ich die Nase und dachte an Botticelli. Sie war ernst, schmal und bleich. Für eine Madonna gehörte sich das auch so. Draußen konnte man in die Disco herabsteigen. Man durchsuchte uns nach Waffen. Grundfarbe Schwarz, hohe Räume mit Bars und Reihen glänzender Flaschen, das letzte Zimmer zum Tanzen. Dem Immobilienmakler fiel ein Nigerianer in prächtiger Nationaltracht um den Hals. Zu seiner Entourage gehörten dicke Frauen, die sich mit ihren Männern in stummen Zweierpärchen bewegten: Heute war Black Beauty Night.
Endstation wie jeden Abend eine andere Diskothek mit Hitparadenmusik und Lichtanlage an einer Stahlspinne über der großen Tanzfläche. Die Diskjockeys plapperten zwischen den einzelnen Liedern ins Mikrophon und schössen Luftballons in die Menge.
„Sind das auch Nutten?“ fragte ich Sebastian angesichts zweier junger Mädchen, die auf der Treppe warteten.
„Aber sicher.“
„Die sehen aber gar nicht so aus.“
„Sind halt auch noch nicht lange dabei.“ Schulterzucken. „Viel spielt sich hier halt auch im semiprofessionellen Bereich ab.“
„Was heißt das?“
Ja, die kommen halt dann mal mit, wenn sie dich nett finden, und es hängt davon ab, ob du ihnen gefällst oder nicht, wenn es dann um die Bezahlung geht.“
„Ich glaube trotzdem nicht, daß das Nutten sind.“
„Man merkt halt, daß man alt wird, wenn die anderen auf einmal jung aussehen; die beiden da sind sicher nicht älter als neunzehn.“
„Ich habe mich immer gefragt, was das kostet“
„Ich glaube, auf der Straße bist du mit einem Hunderter dabei. Hier ist’s das zweieinhalbfache.“
Ja?“
„Wir hatten bei uns einmal so einen Fotografen, der dann am Abend auf dem Wenzelsplatz das Bedürfnis äußerte.-„
„War mir nie so ganz klar: Wo macht man’s denn eigentlich?“
„Keine Ahnung. Das habe ich mich auch immer gefragt“
„Die muß doch vollkommen bescheuert sein, mit irgendeinem wildfremden Typen in die Wohnung zu gehen.“
„Ich glaube, die kennt wohl ihre Pappenheimer. Die wird halt wissen, daß sie irgendwelche alkoholisierten Männer…“
„Stimmt. Zum Beispiel niemals gleichzeitig fünf besoffene Finnen-.“
„Ganz genau. Dieser Fotograf hat sie dann mit hoch in sein Hotelzimmer genommen. Das war alles keine Sache.“
„Ich weiß nicht; früher war ich wohl zu feige, so mit sechzehn, siebzehn, und heute, wo man etwas sicherer geworden ist und die ganze Sache demystifiziert worden ist – da hat es irgendwie den Reiz verloren. Was mich an Mädchen interessiert, ist nicht der Orgasmus – der natürlich auch -, sondern der Moment, in dem man herausfindet, daß sie einen mag.“
Ich sah mich um, war gerne spießig. „Und jetzt, diese Sache, ich weiß nicht™“
„Ach weißt du, es lohnt sich einfach nicht“ Grimasse. „Mich würde auch das Bratwurst-im-Backofen-Phänomen abstoßen.“
„Was meinst du denn damit?“
„Die ganzen Vorgänger – solche Mädchen müßten ja schon so richtig…“
„Und dann gibt es ja auch noch AIDS.“
„Gut, aber.“
Ja, natürlich, es ist ganz selbstverständlich, daß man sich schützt, aber ein Restrisiko bleibt doch immer.“
Ja?“
„Das Ding kann reißen.“
„Ha! Da muß man aber schon ziemlich gut drauf sein. Wir werden schließlich alle auch nicht jünger.“
„Eben. Da dauert’s länger.“
Wir bestellten uns neue Whiskeys. Die Musik pumpte weiter. An der Bar wasserstoffblonde Damenpärchen mit Handtaschen. Viele waren wohl auch nur zum Tanzen gekommen. Touristen waren hier in kläglicher Minderheit „Wie lange hast du eigentlich vor in Prag zu bleiben?“ fragte ich.
„So einige Jahre schon.“
„Ist das nicht auf die Dauer etwas schwierig?“
„Ach weißt du, im nächsten Jahr werden wir wahrscheinlich unser Büro in Warschau aufmachen, dann pendle ich halt hin und her, und ich kann mir vorstellen, daß das auch so ganz abwechslungsreich ist. Es hängt natürlich von der politischen Situation ab. Wenn die Sozis an die Macht kommen, hau ich hier ab. Ich habe keine Lust in einem sozialistischen Land zu arbeiten, wo der Spitzensteuersatz zweiundfünzig Prozent beträgt. Fast so wie in Deutschland.“
„Die beiden Amerikaner, von denen du erzählt hast, wollen gehen, nicht war?“
Ja, die wollten einfach nur weg. Das sind menschliche Tragödien, die man hier miterlebt! Man hat das genau gesehen: Die Jungs packen’s nicht mehr, die haben die Schnauze so richtig voll vom Osten. Lustig: Wir haben ihnen von der Schweiz erzählt, und sie haben gesagt: Ja, die Schweiz schön… Wenig los, meinten.wir. Das ist ja auch mals ganz gut, hat einer gesagt! Er kam aus Kalifornien, da scheint die Sonne, es gibt anderes Essen; wir in St. Gallen hatten halt sieben Monate Nebel im Jahr, und da sind fünf schon ein Fortschritt. Es ist halt typisch, da sind viele junge Leute gleich nach der Wende gekommen, direkt vom College, mit ganz roten Bäckchen, und die haben geträumt, hier das große Geld zu machen. Und nun, nach vier Jahren, sind sie einfach nur müde.“
„Wehadagood time.“
Ja – we had a good time… Die sind einige Zeit geblieben, nun zieht die Karawane halt weiter. Wenn das alle anfangen zu machen, alle, die hier investiert haben, dann kann das schon ein Problem werden.“
Hast du eigentlich auch tschechische Freunde?“ Ja, eigentlich eine ganze Reihe.“ „Und wie sind die?“ Er runzelte die Stirne, nickte. „Prima Typen. Ich kenn das noch ganz gut aus Argentinien – die melden sich dann vielleicht für ein, zwei Wochen nicht, dann rufen sie an, oder du halt sie, Ach, hallo – toll, von dir zu hören, heute Abend machen wir das und das, eine ganze Gruppe ist da, komm doch vorbei.‘ Wirklich, super-nett.“
Am nächsten Tag traf ein Dreiergespann aus dem Berliner Büro ein. Die Atmosphäre veränderte sich. Abends wurde nun auch über Probleme gesprochen, Fragen gestellt, Argumente gebracht. Die einen hatten Hunger, die anderen nicht. Sebastian saß am Tisch, die Augenbrauen unverbindlich hochgezogen, Beine ununterbrochen am Arbeiten. Wir saßen im Freien, Kies unter den Schuhen, Blick auf Moldau, Karlsbrücke und Barock im Sonnenuntergang. „Es ist eine Gratwanderung“, seufzte er mir zu. Seine Wohnung war noch nicht eingerichtet; wir alle hatten Matratzen. Beim Schlafen ließ er das Licht brennen. Er meinte, es sei ihm so lieber.
Mozart, Krönungsmesse. Als die ersten Töne erklangen, ging in der Apsis langsam das Licht an. Links daneben glasierte Kalkstatuen von Jesuitenheiligen in verschiedenen Stadien der Gewaltausübung: dramatisch erhobene Arme, weiß und muskulös, führten Blitz und Bischofsstab zum Todesstoß gegen Ketzer, die sich mit stummen Marmorschreien unter ihren Füßen wanden. Die eine Seite des Kirchenschiffes war von Gerüsten bedeckt, über deren Verstrebungen man Stoffbahnen gespannt hatte. Die Musik wurde lauter, das Licht heller. Die Hinterköpfe der Zuschauerreihen traten aus dem Halbdunkel. Neben mir eine blonde Amerikanerin Anfang 30, kräftiges Kinn, gute Familie. Das Pärchen davor hätte dem selben Film entstammen können. Über allem schwenkte die Skulptur von Cyrus dem Großen ein Paar Handschellen; keine Ahnung, was er hier zu suchen hatte.
Ich war auf der Suche nach Geschichten, ging wieder in die Krachbar vom ersten MaL Im ebenerdigen Konzertraum malträtierte eine ohrenbetäubende Punkband ihre Baßgitarren. Oben setzte ich mich an die Bar, bestellte Drinks. Diesmal reichte mir niemand einen Totenschädel. Ich blieb alleine sitzen – armer Typ, der Anschluß sucht. Als ich ging, baute der Leadsänger unten die Anlage ab; vor der Tür versank ein winziger Skoda unter Kabeln und Boxen.
Ich lief zurück, Richtung Fluß. Rechts eine offene Türe, Licht: Joe’s Bar nach Mitternacht. Der Barkeeper kam aus Vancouver. Er sah aus wie ein gesunder David Bowie.
„Eigentlich bin ich einer der Manager“, sagte er, „und helfe nur ab und zu bei der einen oder anderen Schicht aus.“
„Schon lange hier?“
„Zwei Jahre.“ Er putzte Gläser, werkelte herum. Sebastian hatte mir erzählt, daß die Kneipe am Anfang eine richtige Informationsbörse gewesen wäre, mit handschriftlichen Notizen an den Wänden, Jobofferten, Wohnungsgesuchen. Nun hingen auf der einen Seite des Schlauches Lampen mit Künstlerschirmen. „Dieser Ort wird langsam etabliert“, sagte David Bowie, „konservativer. Früher war das anders, die Leute, die waren noch für alles zu haben. Es waren insgesamt viel weniger Westler hier, und alle waren offener. Mensch, man hat in der ganzen Stadt nicht mal eine Pepsi bekommen! Nun sind viele schon wieder dabei zu gehen.“ „Warum?“
„Es wird einfach zu teuer. Früher konntest du hier für einhundert Dollar im Monat prima leben. Jetzt sieht das anders aus. Früher oder später merkt hier halt jeder, daß man sich in Prag mit Wohnungsvermieten jetzt dumm und dämlich verdienen kann.“
„Vielleicht hat das auch so seine Richtigkeit.“ „Und wohin ziehen die Leute jetzt?“ „Weiter nach Osten. Einige sind gerade in Sofia, Bulgarien, andere sind auch nach Rußland gegangen. Die sind nun aber auf Abreise, da die Lage dort immer unsicherer wird…“
Ich lehnte am Tresen, sprach von Zeitungsartikeln über die amerikanische Liebesaffäre mit Prag. Ja, man wollte hier allerhand auf die Beine stellen“, lachte er, „aber das heißt ja nicht immer viel; vielleicht wird nur ein einziges von den geplanten zweihundert Restaurants wirklich eröffnet. Immerhin, es ist uns gelungen, mindestens ein Buch herauszubringen“ – er wies auf den Touristenführer, dessen Einband hinter ihm an der Wand klebte – „und es sieht ganz danach aus, daß ein anderes nun doch in Hollywood angenommen wird.“
Ich stürmte weiter die Moldaubrücken entlang zum Schiff. Der kalte Wind hatte das Deck leergefegt. Nächstes Ziel die üblichen Diskotheken der Vornächte; ich war sicher, jemand von meinen Freunden zu treffen. Bis dahin aber hieß es zu laufen.
„Hast du Geld?“ fragte mich eine Zigeunerin.
„Sorry“, sagte ich.
„Sorreeee!“ kreischte sie mir durch die leeren Straßen nach. Über meinem Weg ein weißes Transparent: MOZART OPEN. Es klang wie ein Salzburger Tennisturnier. Am Ende der ausgestorbenen Fußgängerzone tauchte ein weiterer Turm vor mir auf. Schön, dachte ich mir, den kennst du noch nicht. Da stand ich wieder auf dem Altstädter Ring vor dem Hus-Denkmal. Der Boden glänzte naß im Laternenlicht, und jemand räumte Stühle auf die Tische der Strassencafes.
Schließlich erreichte ich den Wenzelsplatz. An den Ecken Gruppen von Männern in Windjacken auf der Suche nach Sex. Ein Kiosk mit Warteschlange. Irgendwie erinnerte mich das an Hamburg: Ich hatte mir mit einer Freundin die Nacht in einer Heavy Metal-Kneipe auf der Reeperbahn um die Ohren geschlagen, wo wir Vfodka tranken und auf den Morgen warteten. Ein sehr guter Abend – Teenager am Moschen, Vodkas, Nutten bei Sonnenaufgang, eine Imbißbude und Pommes mit Majo.
Ich fand die Disko, müde. Der Immobilienmakler schüttelte den Kopf. Suppenvertreter und Nachrichtensprecherin standen daneben und tranken Cocktails. Der Nigerianer trug heute ein T-Shirt: Black Beauty Night was over.
„Ich halte mich aus afrikanischer Politik vollkommen heraus“, meinte er, „ich sag dir, das ist dort alles total vertrackt. Wenn wir jetzt anfangen darüber zu sprechen, dann sind wir morgen noch nicht fertig.“
Morgen wollte ich gehen. Ich blieb dann aber noch länger, wenngleich nur für einen Tag. Abends gingen wir wieder tanzen, die übliche Tour. Es war eine Nacht der schönen Frauen: Kleidchen, Hotpants, nackte Beine, schwere Schuhe. Der DJ spielte prima Techno.
„Ist das die Frau, die er aufgerissen hat?“ fragte der Dicke vom Büro und starrte auf eines der drei Sofamädchen im Nebenraum.
Ja.“
„Nein!“
„Doch, sie ist’s!“
„Wirklich!“
„Boah, ein richtiger Knaller!“
Drink ex und rüber, mutig. Die beiden unterhielten sich eine Viertelstunde; schließlich hatte man gemeinsame Freunde und Gesprächsstoff. Dann kam er zurück, der Mund eine Zickzacklinie. „Boah, ein richtiger Knaller..“
Der Knaller arbeitete für „EUe“, tschechische Ausgabe. Vorher war sie vier Jahre lang als Fotomodell durch die Welt gereist. Dann bekam sie den Anruf von der Chefredakteurin. Man kannte sich schon von früher.
„Ich bin Slovakin, you know“, sagte sie mir in einer Ecke des Raumes, in dem getanzt wurde. Von der Bar führten Stufen zu ihm hinunter, auf denen Singles die Arme verschränkt hielten, sich geistig abkuppelten und lässig dreinsahen. „Slovaken sind sehr anders ab die Tschechen. Sie arbeiten weniger, genießen das Leben, you know. Aber die Slovakei geht den Bach runter…“
„Lebst du schon lange in Prag?“ fragte ich, geistreich. Die Musik wummerte weiter, zerlegte unsere Sätzchen in Worte ohne Sinn. Auf der Tanzfläche tupften Amerikanerinnen ihre über den Kopf erhobenen Arme synchron nach rechts und links.
„Seit einigen Monaten.“
„Nur?“
„Wie?“
„NUR?“ brüllte ich.
„Ich schau mir nur den DJ an“, brüllte sie zurück. „Mein Freund ist gerade für ein halbes Jahr in New York. Er arbeitet dort auch als DJ.“
„Dann fährst du ihn sicher bald besuchen?“
„Nein! Ich habe keine Zeit! Er auch nicht!“
Ich ging, Sebastian zu suchen. Am nächsten Tag reiste ich endlich ab. Wir umarmten uns im Büro. Hinter der Eingangstür stand ein Mann auf einer Leiter und bohrte Löcher in die Wand.
„Nicht zu doll“, sagte ich entschuldigend, „ich bin etwas schmierig.“
Sebastian lächelte gequält. „Drrjjeh“, machte der Bohrer; die neue Alarmanlage müßte bald betriebsbereit sein.
Am Vormittag hatten wir alle noch zusammen gefrühstückt. Auf dem Rückweg ein Stand in der Fußgängerzone mit Pappschildern von zersägten Stahlköpfen: Reklame für das kommende Pink Floyd-Konzert.
„Gehst du hin?“ fragte ich.
„Ja, vielleicht schon.“
„Ich war in Berlin.“
„Hast du mir erzählt.“
„Hier ist es wahrscheinlich besser, wo die Musik den Leuten wirklich noch was sagt Viele haben wahrscheinlich Jahre davon geträumt.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so voll sein wird.“
„Nein? Stimmt, wenn es in Prag genauso teuer ist wie im Westen.“
„Das kann sich hier halt kaum einer leisten. Mir haben Freunde erzählt, daß sie da schon alle hingehen, aber sie bleiben dann halt vor der Absperrung und hören sich das Konzert so an, ohne zu zahlen. Kürzlich war irgendein anderes Konzert; ich habe vergessen, wer gespielt hat, und da hieß es, daß es draußen fast voller gewesen sein muß als drinnen…“
Mein Zug ging am frühen Abend. Ich hatte eigentlich noch fast einen Tag. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor, es wurde warm.
Man merkte auf einmal, daß wir eigentlich noch August hatten. Wenn es so schön ist, dann bleibe ich noch ein wenig, sagte ich mir. Wolken kamen, und ich fügte mich in meine Abreise. Dann schien wieder die Sonne, und ich wußte nicht mehr, ob ich nun doch bleiben sollte.
„Weißt du zufällig, wie wir hier an eine Wohnung kommen?“ fragte mich eine Amerikanerin in der U-Bahn. Sie war klein und dunkel. Ihre Freundin war groß, blond und dick.
„Keine Ahnung. Vielleicht am American Hospitality Center? Ich glaube, davon kürzlich gehört zu haben.“
„American Hospitality Center. Ich werde mir das merken.“
„Ihr seid hier also offensichtlich nicht auf Durchreise.“ Die U-Bahn rüttelte von Station zu Station: Nämesti Miru, Muzeum, Mustek.
„Nein, um Englisch zu unterrichten“, sagte die Dunkle.
„Um zu leben“, sagte die Dicke.
„Kennst du Christine?“ fragte die Dunkle und hielt mir mit Bernhardinerblick eine Plastiktüte voller Orangen unter die Nase.
„Nie gehört.“
„Eine Freundin von uns ist nämlich krank, und wir wollten ihr das hier vorbeibringen, aber dummerweise wissen wir ihre Adresse nicht. Ich dachte mir, vielleicht wüßtest du…“
Ich stieg aus, lief zur Karlsbrücke. Anhand der Zusammenstellung der Leute auf ihrem Pflaster konnte man erraten, welches europäische Land gerade Schulferien hatte. Ich blieb stehen, ratlos. Eigentlich hatte ich diesen Sommer mit dem Mädchen des Hamburger Abends wegfahren wollen. Das klappte nicht, und meine Ferien gingen baden. Ich wollte nicht alleine verreisen; schließlich fuhr ich nach Prag. Nun spielte das Wetter nicht mit. Ich bedauerte, nicht doch etwas Größeres unternommen zu haben. Wenn jetzt an meinem letzten Tag die Sonne für einige Zeit schien, so hatte ich das Gefühl, als streckte mir jemand die Zunge heraus.
Hinter dem Hradschin ballten sich pechschwarze Wolken am HimmeL Schrecklich. Dann blies der Wind so stark, daß ich vor lauter Staub die Augen schließen mußte. Mit einem lauten Knall kollabierte ein Andenkenstand. Die Touristen zerrten Plastikfummel aus ihren Rucksäcken. Es begann kurz zu regnen. Ich flüchtete mich unter das Brückentor. Der Wind trieb die Wolken schnell weiter. Dann schien wieder die Sonne, aber schwächer als zuvor.
Jolante saß irgendwo auf der rechten Seite der Brücke zwischen der ersten oder zweiten Statue am Boden, den Rücken gegen das Steingeländer gelehnt, und las „Der Meister und Margerita“. Sie war schwer, südländisch, dunkel; man hätte ihr niemals angesehen, daß sie aus Polen kam.
„Das ist schon mein zweites Buch, das ich hier lese – und der dritte Tag, den ich auf der Brücke warte“, klagte sie.
„Worauf wartest du denn?“
„Ich habe mich hier mit einem Freund verabredet. Er hat gesagt, wir würden uns Freitag oder Samstag auf der Karlsbrücke treffen.“
„Eine vagere Verabredung kann man sich kaum vorstellen.“
„Hihi!“
„Ist er nicht von hier?“
„Nein, er kommt aus München.“
„Ich komme auch aus München.“
„Und ich komme aus Danzig.“
„Ich war vor drei Wochen in Danzig!“
„Wirklich? Vor drei Wochen war ich in der Slovakei. Auf einem Naturfestival. Es war viel zu heiß, bis zu fünfzig Grad!“
„Fünfzig Grad?“
„Ich bin auch die ganze Zeit in den Wald gegangen…“
Wir saßen nebeneinander und dachten an verschiedene Dinge. Es war fast ein bißchen warm.
„Schön, noch einmal in der Sonne zu sitzen“, sagte ich.
„Nicht war? Und hast du den Regenbogen gesehen?“
„War hier ein Regenbogen?“
Sie fuhr sich geistesabweisend mit der Hand durch die blau-schwarzen Haare. An ihren Fingern waren abenteuerliche Metallringe. Ja, es gab einen großen Regenbogen. Von der einen Seite des Flußes hinüber zur anderen. Hast du ihn denn wirklich nicht gesehen?“