Kate Tempest: Leviten lesen für die Liebe
Sie ist Rapperin und Spoken-Word-Künstlerin, sie nimmt Platten auf und schreibt Bücher: Die Engländerin Kate Tempest sucht zwischen Lyrik und Beats nach Transzendenz, Gemeinsamkeit und Hoffnung im Chaos – und plädiert am Ende für etwas Befreiendes, das einfach klingt: mehr Liebe
Europa ist verloren! „europe is lost“, so hieß Kate Tempests erste Singleauskopplung von ihrem neuen Album. Terroristen und Gentrifizierung, Internetporno, Flüchtlinge und Big Business, Umwelt, Selfies und ein paar andere verstreute Doom-Motive werden unter ihrer geradlinigen Diktion und von Beats, die nach Gullydeckel klingen, gleichsam durch den Track getrieben: „Europa ist verloren. Amerika ist verloren. London ist verloren. Wir sind verloren!“ Nach dieser strengen Litanei können wir eigentlich alle heimgehen.
In den Straßen nachts um 4.18 Uhr
Aber ganz so ist es dann doch nicht gemeint. Da das Album „Let Them Eat Chaos“ nun fertig ist, erfahren wir, dass dort nicht die Künstlerin spricht, sondern eines ihrer Geschöpfe: die Pflegerin Esther, „die sich immer Sorgen macht“, eine von sieben Figuren, die man auf dem Album kennenlernt. Das Personal ist demografisch breit gestreut, lebt aber in derselben Straße und ist schlaflos vereint im Alleinsein und in Unsicherheit: „Es ist 4.18 Uhr“, beginnt Tempest nach ein paar einleitenden Worten die jeweiligen Geschichten.
„Die Uhrzeit“, sagt die Rapperin, „ist mir wichtiger als die Stadt. Klar beschreibe ich das Setting sehr sorgfältig – je präziser man eine Story lokalisiert, desto universeller wird sie, finde ich. Aber stimmungsmäßig ging es mir darum, dass die Leute so früh wach waren, allein, in der Stadt.“
Kate Tempest sitzt im Berliner Büro ihres Labels, Caroline. Mit ihrem runden, offenen Gesicht, um das viele dicke blonde Locken hängen, sieht sie jünger aus als 30 Jahre, sie ist nicht besonders groß, ein bisschen stämmig, sie trägt T-Shirt unter einer verbeulten Jeansjacke. Wie eine wilde Rapperin sieht sie nicht aus, aber auch nicht wie eine der wichtigsten Dichterinnen Großbritanniens. Ist sie aber beides. Sie hat in den letzten wenigen Jahren alle überzeugt, quer durch die Sphären und Genres – ein „Erfolg über Nacht, mit zehn Jahren Anlauf“, schrieb der „Guardian“ schon 2014.
„Ich bin für nur eine Textsorte zu unruhig“
Für ihre Spoken-Word-Performance „Brand New Ancients“ erhielt sie 2013 als erste Person unter 40 den renommierten Ted Hughes Award. Für ihr erstes Soloalbum, „Everybody Down“, wurde sie 2014 für den Mercury Prize nominiert. Und im selben Jahr nahm die einst von T. S. Eliot gegründete Poetry Book Society sie in ihre Liste mit den entscheidenden Dichtern der nächsten zehn Jahre auf. Sie hat zudem schon 2011 ein Album mit ihrer damaligen Band Sound Of Rum veröffentlicht, drei Theaterstücke geschrieben – und vor Kurzem erschien ihr hoch gelobter erster Roman, „The Bricks That Built The Houses“ (auf Deutsch etwas frei als „Worauf du dich verlassen kannst“).
„Ich bin für nur eine Textsorte zu unruhig“, sagt sie achselzuckend. „Sie besetzen je unterschiedliche Orte in meiner kreativen Fantasie, erfüllen unterschiedliche kreative Bedürfnisse und wollen jeweils andere Dinge erklären. Vielleicht wie für einen Komponisten der Unterschied zwischen Walzer und Fuge“, sagt sie – und ist sich als ehemalige Musikstudentin natürlich darüber im Klaren, dass es auch Fugen im Dreivierteltakt gibt. „Aber ich habe da keinen Plan. Aus dem antiken Mythos des Sehers Teiresias, der später mein Gedichtepos ,Hold Your Own‘ strukturierte, sollte eigentlich ein Film werden – der sich dann aber als beschissener Film erwies. Manchmal halte ich Sätze und Wendungen für Reime, und dann stellt sich heraus, dass die das überhaupt nicht sein wollen.“
Nächtliche Exzesse in der Londoner Musikszene
Dafür streifen gelegentlich die gleichen Figuren durch verschiedene Werke. So begegnete man in ihrem Romandebüt dem ungefähr gleichen Personal wie auf „Everybody Down“: einer Gruppe junger Leute, die sich im London von heute zwischen nächtlichen Exzessen und Musikszene durchschlagen und ihre prekären kreativen Existenzen durch Dealen oder mit erotischen Massagen finanzieren. Auf dem neuen Album, das sie wie den Vorgänger mit Dan Carey (Bat For Lashes, Nick Mulvey, Hot Chip, M.I.A.) als Produzent eingespielt hat, taucht mit dem alternden Raver und Drogenesser-Pete immerhin ein Bekannter wieder auf, der, sagt sie, „einfach zurückkommen wollte, während die anderen beschäftigt waren“.Wie die Figuren in ihren inneren Monologen durch den Alltag, das Leben und das Lieben strampeln, erkennt man durchaus typisch Tempestsche Motive: bei Jemma, der ehemaligen Herumtreiberin, die sich rechtzeitig aus dem Sumpf verabschiedet hat, aber bei falschen Männern landet; bei Alesha, der alleinerziehenden jungen Witwe, die von der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann geplagt wird; bei Bradley, der sich aus der Provinz in der PR-Branche hochgeschuftet hat und nun den Sinn vermisst; bei Zoe, die gerade wehmütig ihr gentrifiziertes Viertel verlässt, nur um selbst gleichsam ein neues Viertel zu gentrifizieren; und bei der lesbischen Pious, die vergebens gegen die Einsamkeit anvögelt.
„Mein Album ist politisch, aber nicht in dem Sinne, dass hier einfach ein kaleidoskopisches Spektrum von links nach rechts verhandelt würde“, erklärt Tempest. „Im politischen Diskurs liegt immer jemand falsch, weil immer jemand recht hat. Meine Figuren haben, wie ich es ja auch im gleichnamigen Titel sage, einen Tunnelblick: Sie sehen gar nicht, dass ihre jeweiligen Nachbarn und Mitmenschen sich ähnlich verloren fühlen wie sie selbst.“
Das linke Herz ist ein allwissender Erzähler
Natürlich spürt man in jedem Satz das linke Herz. Aber die hämmernde Empathie ihrer Worte gilt den Figuren, nicht den Thesen, für die sie stehen könnten. Dabei beeindrucken nicht nur der Reichtum der Bilder und die originelle Genauigkeit, mit der Tempest ihre Welt skizziert, sondern auch die bunte Vielschichtigkeit der Stimmen. Jede Rolle bekommt einen eigenen Rhythmus und Tonfall, und dazu gibt es einen gottgleichen Erzähler, der von ganz oben auf die Erde und dann „bis in die jeweiligen Zimmer hinunterzoomt“. Dies geschieht im ausgesprochen klassisch einführenden Gestus eines Prologs.
„Dan und ich hatten schon Songdemos aufgenommen“, erklärt sie. „Aber mir fehlte noch das organisierende Prinzip, alles wirkte schwabbelig und durcheinander – und irgendwann auf Tour in Italien habe ich die Songs wie ein einziges großes episches Gedicht behandelt, so wie ich es bei ,Hold Your Own‘ gelernt hatte. Dabei“, sagt sie und klingt immer noch überrascht, „bin ich auf diese allwissende Erzählerstimme gestoßen. Und ich hatte keine Angst, sie einzusetzen.“ Nun beginnt das Album a cappella, mit ihrer klaren Stimme im abstrakten Raum: „Stellen Sie sich ein Vakuum vor!“ Tempest sagt: „Dan und ich fanden es beide klasse, dass es mit dieser Anweisung losgehen würde, mit diesem eigenartigen Unbehagen, das man bei diesem stillen Einstieg empfindet.“
Tempest wuchs in Brockley/Südlondon auf, „shitty Gegend, bürgerliches Heim“, fasst sie das immer zusammen. Der Vater war Arbeiter, bevor er in Nachtschichten Jura studierte, worauf Tempest ihr eindrückliches Arbeitsethos zurückführt. Die Schule brach sie – anders, als man es gelegentlich liest – nicht ab, aber sie musste, weil sie mit den Lehrern nicht klarkam, nur zu den Prüfungen vorbeischauen. Das Literaturstudium an der Goldsmiths University hat sie jedoch beendet.
„Für mich stehen Rapper an der vordersten Front der Sprache“
Heute blickt sie auf Auftragsarbeiten für die Royal Shakespeare Company zurück, hat Vorlesungen an der Elite-Uni Yale in den USA und an ihrer eigenen Uni Goldsmiths gehalten. Sie zitiert Beckett und Joyce, Blake und Yeats als Einflüsse, und sie wird mehr als Literatin denn als Rapperin wahrgenommen. Gelegentlich scheinen sich Literaturkritiker auch ein wenig darüber zu wundern, dass die gefeierte Schriftstellerin rappt. „Ich habe eine Art Dankgedicht an die HipHop-Kultur geschrieben“, meint sie seufzend. „Darin schreibe ich: ‚Wenn du denkst, dass Rapper Idioten seien, dann ist das eine Sache zwischen dir und deiner Ignoranz.‘“
Mit 14 fing sie an, in einem Plattenladen zu rappen, sah zahllose HipHops, von den Beatnuts über Mos Def bis hin zu Talib Kweli, rappte sich ins Backstage ihrer Helden vom Wu-Tang Clan und trieb sich in der Londoner Rap-Szene herum. „Das war vor YouTube und allem, wir haben da echt noch Vinyl geschnitten“, sagt sie und lacht. „Für mich stehen Rapper an der vordersten Front der Sprache“, erklärt sie emphatisch. „Sie bewahren, beleben, spielen, verstärken die Sprache, und ihr Verhältnis dazu ist wesentlich vitaler, instinktiver, grundlegender, aktiver als in jeder anderen literarischen Form.“
Auf der Suche nach den richtigen Worten
Im Interview spricht Tempest konzentriert, aber auch fast skrupulös, spürbar um die präzisen Worte besorgt, nicht nur um den Inhalt. Wenn man ihr dabei zusieht, ahnt man, wie streng sie an den Texten feilt, bevor diese ins Freie eines Albums oder auf die Bühne dürfen. Dort wiederum zeigt Tempest eine unglaubliche Präsenz. Ihre Texte bekommen eine irre Dringlichkeit, die Worte tänzeln auf beinahe physische Weise durch die Sätze – das ist die Rapschule. Auswendiglernen, die Performance, das Freestylen, sagt sie, „trainieren einen Muskel im Gehirn, der für jede Kreativität enorm nützlich ist. Mit dem Effekt, dass, wenn etwas nicht stimmt, nicht den richtigen Flow hat, der Blick vielleicht darüber hinwegliest. Aber das Hirn weigert sich, es zu sprechen, und korrigiert sofort.“
Seit sie drei Jahre alt gewesen sei, habe sie alles Mögliche an Kunst aufgesogen und später immer gelesen und geschrieben: „Aber erst mit dem Rappen habe ich mich in die Lyrik und die Sprache verliebt. Dank Rappen konnte ich die Dinge laut aussprechen, vor Menschen. Der Drang, zu sprechen und gehört zu werden, ist ein wesentlicher Teil von dem, was ich tue.“ Nach einer Pause meint sie: „Für Ted Hughes war Poesie eine Art aktives Bekennen, der Wunsch nach Veröffentlichung, Ausdruck eines Bedürfnisses nach Bekenntnis. Meist versuchen die Leute das durch interessante Sachen zu verschleiern. Aber es ist trotzdem ein Bekenntnis.“
„Ich habe in der Spoken-Word-Szene gelernt, was ich hasse“
Kate Tempest verschleiert nicht. Ihre Geschichten, ihre Beobachtungen wirken direkt und öffnen sofort die Räume, aus denen sie kommen. Dabei erinnert ihr großartiger Flow nicht nur an HipHop, an den weitgehend refrainlosen Bilderfluss der Wu-Tangs oder die markige Kantigkeit von Brit-Rap-Größen wie Roots Manuva. Man hört auch die Nähe zu Spoken Word und Slam-Poetry. Immerhin hat sie nicht nur in London, sondern auch im New Yorker Nu-yorican Poets Cafe, dem Mekka der Spoken-Word‑und-Rap-Szene, zwei Wettbewerbe gewonnen. Gelegentlich, etwa im kühlen, stoischen Shuffle des einführenden „Lionmouth Door Knocker“, meint man auch den großen britischen Punkpoeten John Cooper Clarke zu hören, mit dem Tempest schon früh auf Tour war. „John ist eine Lichtgestalt für alle jungen Dichter, eine lebende Legende“, sagt sie. „Ich habe in der Spoken-Word-Szene viel gelernt – nicht zuletzt, was ich hasse, was ja sehr wichtig ist, wenn man rauskriegen will, was man mit dem eigenen Werk will.“Nostalgische Gefühle scheint sie dabei nicht zu hegen: „Es gibt irre und tolle Sachen, die einem direkt ans Herz gehen. Aber die Szene hat keinen Maßstab, keine Qualitätskontrolle. Wenn du im HipHop-Cypher stehst und nichts taugst, dann lachen sie dich raus, unterbrechen dich, buhen“, schwärmt sie. „Aber bei einem Poetry-Event kannst du noch so tödlich lahm und klischeehaft reden, und die Leute meinen: Danke, dass du das mit uns geteilt hast!“ Sie grinst. „Wie meine Freunde von Polar Bear sagen: ‚Man nennt es Szene, weil es nicht wirklich ist.‘“ Aber Tempest hält sich mit den üblichen Genreschubladen und -regeln ohnehin nicht auf. Sie sucht „etwas Tieferes, Wahrhaftigeres, das ehrlicher antwortet und präziser funktioniert“. Das erlebt man, wenn sie auf der Bühne steht, denn in ihren Texten werden die Szenen plastisch und lebendig.
Wobei die Musik die entscheidende Rolle spielt. Nicht umsonst arbeitet Kate Tempest so eng mit dem Produzenten Dan Carey zusammen. Und auch dessen Beats klingen hier entschlossener, kraftvoller auf den Punkt gebracht und fokussierter als noch auf dem Debütalbum: Die elektronischen Settings fließen stimmig ineinander, beschwören ihre morgendliche, rot-äugige, übernächtigte Stimmung insistierend, aber elegant in dunklen, aber zugleich sehr verschiedenen Farben, mitunter bedrohlich, auch mal dumpf, aber immer cool bewegt.
„Liebt euch mehr!“
Am Ende von „Let Them Eat Chaos“ gibt es einen schweren Sturm. Er spült die Unsicherheiten, Befürchtungen, Sorgen und Probleme nicht hinweg, bringt aber einen eigenartig friedlich-kontemplativen Ton. „Die Leute spüren in diesem Sturm, dass sie Teil von etwas Größerem sind, finden in einem Moment von …“ Sie zögert. „… Transzendenz zusammen.“ Tatsächlich mündet das Album in das schlichte Statement „Liebt euch mehr!“.
Dann, am Ende des Gesprächs, nimmt Kate Tempest ein wenig Anlauf zu ihrer Grundsatzerklärung, die auch eine Art Glaubensbekenntnis ist: „Wir haben heute mehr Möglichkeiten und können direkter und demokratischer kommunizieren denn je, und doch sind wir weiter und gründlicher voneinander getrennt. Wir brauchen deshalb die Künste, um uns zusammenzubringen, um uns und anderen zu sagen, dass wir Teil von etwas Größerem sind. Und ich suche nach einer emotionalen Wahrheit, die bei aller Aussichtslosigkeit hoffentlich auch Hoffnung bringt.“