Karneval im Winter
Wenn The Decemberists Gitarre und Schifferklavier auspacken, tanzen Karrenburschen, Geheimagenten und Soldatenbräute
Als vom Privatfernsehen irreparabel verzogener Mensch mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne würde man gern behaupten, man habe Spaß an alten Seekarten und Kupferstich-Pergamenten, an Sozialismus-Kitsch und Albumbildchen. Interessant werden diese Sachen erst, wenn die Figuren sich bewegen, an die Scheibe klopfen und ihre Geschichten vorsingen, wie in den Liedern der Decemberists: „Picaresque“ heißt die neue Platte, ein lebendiges Buch über den Jungen mit der Schubkarre, der als Geist umgeht, weil er seinem Schatz das versprochene Kleid kaufen will. Über gegnerische Geheimagenten im Kalten Krieg, die sich tragisch ineinander verlieben. Über 16 Soldatenbräute, die wie im Abzählreim die Männer im Feld verlieren, und über den Seemann, der als vorletzter Überlebender im Bauche des Wals ausgerechnet auf seinen Todfeind trifft.
Das könnte eine ganz gräßliche Kunst-Etüde sein – wenn die Decemberists nicht, eine der grandiosesten Chamber-Pop- und Folklore-Folk-Bands wären, die uns das akademisch autgeklärte Hippietum je beschert hat. Nicht nur gut gemeint, sondern schillernd, berauschend, zum Wegschwimmen schön. Der sonore Sänger und Liedautor Colin Meloy sitzt auf einer Perlenkiste voll Melodien und Versen, bei denen selbst Muttersprachler ab und zu im Wörterbuch suchen müssen. „Wir wissen genau, daß man uns leicht für eine Gimmick-Band halten kann“, sagt er., Aber unser Publikum will Rockmusik hören, und weil wir ihnen das geben wollen, verzichten wir auf zuviel Theatralik. Die lenkt ab.“
Nun gut, eine Rockband wird aus den Decemberists nicht mehr, und zumindest ihre Fotos, mit Kinderschminke und Kostümen, sind reines Theater. Meloy hat in der Highschool in Montana geschauspielert, machte dann den Uni-Abschluß in Creative Writing, wollte Schriftsteller werden. „Die Professoren rieten mir: Bevor du promovierst, nimm dir drei Jahre frei und hol dir ein wenig Lebenserfahrung. Ich zog also nach Portland, arbeitete in einer Pizzeria und machte Musik, zum Spaß und als Nebenverdienst. Und dann hat sich das verselbständigt.“
Die Decemberists galten mit ihren tausend Zimbeln und Ziehharmonikas als Alptraum aller College-Mischer, hatten am Anfang den größten Erfolg in – wo schon? – San Francisco und landeten mit ihren drei Platten ausgerechnet beim ultralinken Label Kill Rock Stars. Meloy kann ausführlich darlegen, wie man in universell-historischen Liedern Kitsch vermeidet und warum er über einen Freibeuter, aber nie über eine Piraten schreiben würde. Und daß seine Band oft wie ein musikalisches Pendant zu den stilisierten Exzentriker-Filmen von Paul Thomas Anderson wirkt („Rushmore“), findet er auch: „Seine Filme feiern die jungen, geächteten Intellektuellen. Das ist genau das Publikum, das ich auch im Kopf habe. Zu einer Zeit, in der sich Yale-Absolventen in der Öffentlichkeit absichtlich dumm stellen, um als normale Menschen durchzugehen.“ Ein Buch ist doch noch aus Colin Meloys schiefgelaufenem Portlander Schreib-Exil entsprungen: ein Bändchen über das Replacements-Album „Let It Be“. Was haben die fragilen Decemberists von dieser Punk-Band gelernt? „Sich nicht zu ernst zu nehmen. Ab und zu aus der Hüfte zu schießen.“