Karl Dall: Der Ostfriesling
2006 besuchten wir Karl Dall zu Hause. Unser Porträt über den Komiker, der am 23. November 2020 verstarb
Hausbesuch bei Karl Dall – Ein ROLLING-STONE-Archivtext vom Oktober 2006
18 Prozent aller Zuschauer schalten weg, wenn er kommt. Sein Ruf als Künstler schwankt zwischen Clown und Stinkstiefel, und auf jeden guten Song von Insterburg & Co. kommt ein Film-Klamauk. Karl Dall, der nun seine Memoiren geschrieben hat, bleibt ein zwiespältiger Charakter – doch wenige haben das Medium Fernsehen so an seine Grenzen geführt wie er. So porträtierten wir Dall vor 14 Jahren. Am Montag, den 23. November 2020 verstarb er im Alter von 79 Jahren.
Hier ist das also. Hier liegt der deutsche Humor begraben. So viele Tage, Nächte, Wochen, Jahre haben wir durch die Kanäle geklickt, Zeitungen gewälzt, gemutmaßt und erfolglos gesucht. Und jetzt, wo wir die Ruhestätte des Elefanten endlich gefunden haben, können wir nicht mal einen Blick hineinwerfen. Weil die Jalousien fest zugezurrt sind.
Der riesige Karl Dall erhebt sich halb aus dem Gartenstuhl, zeigt mit dem unwahrscheinlich langen Arm über den Rasen zum verbarrikadierten Fenster hin. „Da unten liegen die“, sagt er. „Die 1000 Shows, die ich gemacht habe. Die liegen alle da unten in meinem Keller. Auf VHS.“ Eben ist es schlagartig dunkel geworden im Garten, weil die Nachmittagssonne den kritischen Punkt erreicht hat und das hohe Hamburger Stadthaus seinen Schatten nach hinten wirft. Man fröstelt kurz und spürt es, die werden da begraben bleiben, die Shows, für immer. Würden sie wie arme Zombies zurückkehren, wären sie ja auch zum Gruseln. Lustig wären sie dann sicher nicht, obwohl es auch lustige Zombies gibt.
Einige Tage vorher hat Johannes B. Kerner bei RTL die berühmte September-1986-Ausgabe der Sendung „Dall-As“ anfordern lassen, in der der Schlagersänger Roland Kaiser mitten in der Talkrunde aufsteht und das Studio verlässt. Weil Karl Dall 65 geworden ist und jetzt sein Autobiografie-Buch erscheint, wird er bald bei Kerner sitzen, und da sollte die Kaiser-Passage wieder mal zugespielt werden. Der Brüller überhaupt. „Aber ich hab das in den Giftschrank gepackt“, sagt Dall. „Die Szene kriegt keiner mehr zu sehen. Ich will nicht… Ich will nicht, dass meine Sendung sich daran messen lassen muss, dass Roland Kaiser von der Bühne gelaufen ist. Es gab ja noch andere schöne Folgen, nach denen fragt komischerweise keiner. Ich als Produzent will, dass das nicht mehr rausgegeben wird, und RTL hält sich daran.“ Was hat Roland Kaiser an diesem Tag eigentlich gesehen, dass er fliehen musste? Hat er nur ins hämische Gesicht eines fiesen Talkmasters geschaut, oder hat er gar – abstrakter – in die wahre Schreckfratze der deutschen Fernseh-Unterhaltung gestarrt, die lieber für alle Zeit im Hamburger Keller weggeschlossen bleiben sollte?
Laut apokryphem Protokoll merkte Karl Dall an dem verhängnisvollen Abend an, sein Talkgast Kaiser habe ja „wieder eine neue Platte auf den Wochenmarkt geschmissen“, und dann: „Na sing schon, damit wir es hinter uns haben!“ – „Stimmt nicht. Das hab ich nicht gesagt“, reagiert Dall im Gartenstuhl. „Ein Jahr später ist Roland Kaiser übrigens noch mal in die Sendung gekommen und hat durchgehalten, das will nie jemand sehen. Was ich wirklich gesagt habe? Weiß ich nicht. Ich hab das abgehakt. Wenn ich mir so eine alte Sendung angucke: Das ist natürlich auch ein ganz anderer Mensch, der da sitzt.“
Schon der junge Dall hat die Leute danach eingeteilt, ob sie ihn wegen seines Auges ärgern oder nicht
Mit so viel Detailkenntnis steht er allein. Dall, die unter Umständen größte Krach-, Lach- und Sachfigur des deutschen Showgeschäfts. Eine in Stein gehauene Physiognomie, wie sonst höchstens Klaus Kinski, Willy Brandt, Didi Hallervorden, Hans-Dietrich Genscher – man könnte auf irre Art glauben, dass solche Fressen (ein Wort, das Dall gern verwendet, vor allem für sich selbst) heute nicht mehr gemacht werden. Das Auge, über das wir nichts sagen, weil schon der junge Dall die Leute danach eingeteilt hat, ob sie ihn deshalb ärgern oder nicht. Sein Buch hat er natürlich trotzdem „Auge zu und durch“ genannt.
Die letzte zitierfähige Umfrage stellt fest, dass 91 Prozent der Deutschen seinen Namen und sein Gesicht, ‚Tschuldigung: seine Fresse kennen. 18 Prozent wiederum – eine andere Statistik, aus Dalls stärkerer Talkshow-Zeit in den Neunzigern – gaben an, sie würden wegschalten, wenn er im Fernsehen komme. Das Lernziel aus über 40 Jahren Dall-Karriere kennen freilich alle: dass er ein aggressives Ekel ist. Oder ein simpler, ostfriesischer Blödmann. Zwei Rollen, die sich vom Menschenverstand her widersprechen, aber Karl Dall hat es irgendwie hingekriegt, beides gleichzeitig zu sein.
Die 82 der 91 Prozent, die nicht abgeschaltet haben, sollte man trotzdem einmal fragen, was der Komiker Dall denn immer so gemacht hat im Fernsehen. Dall hat nämlich kein Palim-Palim wie Hallervorden, kein Jodeldiplom wie Loriot, keine psychiatrischen Spleens wie die neuen Stand-up-Comedians. Abgesehen von den berüchtigten Kinofilmen ist Karl Dall einfach nicht oft wiederholt worden. Sein „Dall-As“ hat eher Phantom-Status, weil damals so wenig Leute RTL reinbekamen. Sprüche waren, auch in der großen Zeit mit der Gruppe Insterburg & Co., meistens Live-Improvisationen – das Mitfilmen seiner Auftritte verbot er dem Publikum ausdrücklich, weil er für flüchtige Gags nicht später haften wollte.
Dass die alten Shows in der Friedhofsruhe des Kellers liegen, ist absolut kein zurechtgebogener Zufall: Für Dall gilt der Witz nur in dem überaus kurzen Moment, in dem er gerissen wird. Die Philosophie der Kneipe. Was auf Bier-Servietten steht, ist nüchtern auch nicht mehr komisch.
Peter Ehlebracht, sein Kindheitsfreund und Insterburg-Partner, musste aufhören, weil er das Lampenfieber nicht los wurde, sagt Dall. „Ich selbst bin eiskalt wie ein Lurch rausgegangen, ob ich den Text konnte oder nicht.“ Überlegt kurz. „Irgendwie habe ich mich ja auf die Art durch mein ganzes Leben geschlingelt.“
Den ersten bezahlten Auftritt als Sänger hatte Karl Bernhard Dall mit 19. Bei einem Ball des Taubstummen-Verbandes, weil er ja nicht singen konnte. Visitenkarten mit dem vom französischen Kino-Cool inspirierten Künstlernamen Charles Bernad hatte er sich als Schriftsetzer-Lehrling selbst gemacht, bevor er in ostfriesischen Kurhäusern bei Talent- und Publikumswettbewerben mitmachte, ganz ohne Talent. Er gewann oft.
„Es ging ja nicht darum, was man konnte“, sagt Dall. „Es ging um den Eindruck, den man bei den Leuten machte. Um den Applaus. Das hab ich schnell erkannt, und am Ende war ich der, der mit dem Fresskorb nach Hause ging. Von den 50 Mark, die ich als Lehrling bekommen habe, musste ich 25 Mark Kostgeld abgeben – da blieb mir nicht mal eine Mark pro Tag, davon konnte man sich nicht mal ein Eis kaufen, auch damals nicht. Ich brauchte Geld, und da hab ich mir was einfallen lassen.“ Für die „Ostfriesenzeitung“ fotografierte er bei der Nutztierausstellung die Kuh mit dem größten Euter, schrieb Theaterkritiken.
„Körperliche Arbeit, Umgraben und so weiter, da hatte ich keine Lust drauf. Und mit körperlicher Arbeit ist noch nie einer was geworden. Ich hatte sehr früh den Spruch: Was vor neun auf der Straße rumläuft, das ist nichts und daraus wird auch nichts! Das habe ich auch schon gesagt, als ich noch um sechs Uhr aufstehen musste. Man muss doch nur mal morgens in die U-Bahn gucken. Die Leute, die da vor halb neun drinsitzen: Das sind die, die als Schrott der Gesellschaft gelten.“
Mit den Konsequenzen dieser Haltung musste der junge, überraschende Deich-Bohemien leben. Als er sitzenblieb, schickten die Eltern ihn gleich auf eine andere Schule, 100 Kilometer weiter – weil der Vater, selbst Rektor in Leer, die Peinlichkeit nicht ertrug. Und als Karl Dall 1963, mit 22, nach Berlin auf die Fotofachschule wollte, prallte er schon an den Aufnahmebedingungen ab. Bei Insterburg & Co. sang er mit Freund Ehlebracht später zwar das Anti-Bildungsbürger-Statement „Wir ha’m kein Abitur, wir ha’m Mittlere Reife“, aber nicht mal die hatte er. Dall zog trotzdem nach Berlin. Rasend beliebt war die Stadt damals nicht bei den jungen Leuten im Westen.
Er arbeitete als Schriftsetzer Joghurt-Werbemännchen und Kneipenkoch, wohnte in einer leerstehenden Bäckerei. Als Cowboy-Komparse spielte er im ersten „Winnetou“-Film und stand im Bild direkt hinter Mario Adorf. Bei der Ufa bekam er erste kleine Sprechrollen, für die Dreharbeiten musste er in der Druckerei krank machen. Dass er bald ein geregeltes Leben als Künstler haben würde, glaubte Dall bei allem faulen Selbstbewusstsein wohl selbst nur in den hellsten Momenten – bis dahin hatte er ausschließlich ernste Rollen gespielt. Und wenn er öffentlich gesungen hatte, dann Schlager, Tanzmusik. Bis Anfang der 60er Jahre sei es noch den Alliierten vorbehalten gewesen, heitere Lieder auf Deutsch zu singen, meint Dall, zum Beispiel den Amerikanern Gus Backus und Bill Ramsey, dem Briten Chris Howland: „Die durften lustig sein, aber Komiker, die Musik gemacht haben, das gab’s bei uns gar nicht. Na gut, dann kam Trude Herr, ,Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann. Das lief unter mordslustig, wenn dicke Leute irgendwas Witziges sangen. Ich hab damals versucht, zu schluchzen und ernst genommen zu werden.“
Erste Hassfigur unter Berliner Langhaarigen war Heino. „Was der gesungen hat, das waren zwar keine Nazi-Lieder, aber es waren Lieder, die in der Nazi-Zeit auch schon populär waren. Das war für uns schon Grund genug, den als Nazi-Sänger zu bezeichnen. Was natürlich Quatsch war.“ Nicht Volksmusik, „Folklore“ hieß der Knäckebrot-Begriff für das, was im tendenziell linken Viertel der deutschen Musikszene Ende der Sechziger passierte. In Anzeigen der Konzertdirektion Karsten Jahnke, heute bekannt für gehobenen Independent-Pop, standen sie damals alle: Hanns-Dieter Husch, Ulrich Roski, Schobert & Black, der Holländer Herman van Veen. Der betont geschichtsbewusste, zupfende Gegenpart zum Eskapismus des Schlagers – eine Mitte dazwischen gab es nicht, noch nicht.
Auf einem Folklore-Abend im Berliner Reichskabarett, den Dall und Ehlebracht im Frühjahr 1967 besuchten, trat Ingo Insterburg auf, ehemaliger Begleit-Gitarrist bei Klaus Kinskis schäumenden Villon-Lesungen, und sang mit Kompagnon Jürgen Barz barocke Liebeslyrik, ein strikt ernsthaftes Programm. Ehlebracht und Dall knüpften Kontakt, eine Woche später spielten sie mit. Und weil Dall als Einziger kein Instrument konnte und auf der Bühne viel Zeit totzuschlagen hatte, musste er sich wieder etwas ausdenken.
Tick eins: Er kann die unglaublichsten Zahlen auswendig
Der aller Wahrscheinlichkeit nach echte Dall, am Sonntagnachmittag im Hinterhausgarten, braun von drei Monaten Kanada mit Ehefrau Barbara, in kariertem Hemd und Leinenhose, mit schräg gelegtem Kopf, nordisch nuschelnd, fertige Gags einwerfend, falls sie zur Frage passen („Früher standen hinterher zehn 21-Jährige am Bühneneingang, heute sind’s drei 70-Jährige. Hauptsache, zusammen 210 Jahre“) – der mutmaßlich echte Dall ist dem Dall aus dem Fernsehen so derart ähnlich, dass einem plötzlich ganz andere Dinge an ihm auffallen.
Tick eins: Er kann die unglaublichsten Zahlen auswendig. Dall weiß nebenbei, wie oft der durchschnittliche Deutsche am Tag von Überwachungskameras gefilmt wird, wie viele Berufstätige auf einen Rentner kommen, wie viel Promille man 1966 am Steuer haben durfte. Tick zwei: Er schlüpft ständig aus den Schuhen, dann wieder rein, einfach so beim Reden. Das steht tatsächlich auch alles in seinem Buch. Es ist Dalls unausgesprochene, alte Taktik, die eigenen Makel immer selbst zu nennen, die Witze darüber zu machen, bevor es ein anderer tut – er hat sich unverletzlich gemacht dadurch. Die fatalste Fehleinschätzung, auf der viele seiner Talkgäste ausgerutscht sind: Sie haben geglaubt, der Selbsterniedrigungs-Profi hätte keine Eitelkeit. Dall hat sicher schon als Schüler gemerkt, dass er mit der Fresse und Körpergröße schlicht keine Chance hatte, nicht aufzufallen. Das wäre so, als würde man versuchen, mit einem Monstertruck ein Dreirad-Rennen zu verlieren.
Die fröhlich erwarteten Unflätigkeiten findet man in Dalls Buch übrigens gar nicht. Schade, aber logisch, denn so hätten die anderen ihn packen können. Nicht einmal die Begegnung mit Götz George steht drin, den Dall 1983 kennenlernen durfte, in Thomas Gottschalks „Na sowas“. George saß da, und Gottschalk rief zur TED-Abstimmung auf: Wer hat den größten Sex-Appeal im deutschen Fernsehen? Die Umfrage war freilich ein vorbereiteter Gag. Georges Farbbalken stoppte früh, Sascha Hehn überholte ihn, am Ende blinkte ein dritter Balken als Sieger, Dalls Name erschien darin. „Die hatten mich hinten versteckt, ich musste dann nur kurz durchs Bild laufen und sagen: ,Hallo Boys, wie geht’s?‘ Und das muss der George persönlich genommen haben. Vier Wochen später treffe ich ihn auf dem Filmball, grüße ihn, und er: ,Wer sind Sie? Ich kenn sie nicht.‘ Er kann da nichts für, bloß: Deutschland ist klein, man läuft sich zwangsläufig über den Weg. Wenn er dann an der Hotelbar steht, Runden schmeißt und seine Nickpuppen um sich rum hat – wenn er mich sieht, dann zahlt er sofort und geht aufs Zimmer. So soll’s auch sein.“
Er könne sich auch durchaus ernsthaft mit Leuten auseinandersetzen, sagt Dall. Mit Reinhold Beckmann zum Beispiel. „Beckmann hat ja immer so zwei, drei Psycho-Nummern drin. Zum Schluss fängt er an, einen zu knacken, er versucht’s zumindest. Und wenn man sich dann verweigert, schneiden sie es halt raus. Ich hab mich bei ihm mal richtig über Uschi Glas ausgekotzt, die gerade mit ihrer Ehe-Geschichte hausieren ging. Ich hab gesagt: ,Das ist die absolute Lachnummer!‘ Dann schau ich mir das abends an, und die ganze Sequenz ist weg. Was war? Eine Woche später hatte Beckmann sie exklusiv. Er hätte mir das vorher sagen müssen. Der wollte mit mir einen Werbespot für Uschi Glas machen, und ich semmel ihr voll einen rein. Wenn Karl Dall bei Beckmann sagt: ,Die Alte kannst du in der Pfeife rauchen – dann geht die da doch nicht mehr hin!“
Der Gedanke macht Dall so großartigen Spaß, dass er kurz mit seiner bekannten, kieksenden Schadenfreude-Ostfriesen-Stimme spricht. Man hört den Lacher der Leute als Echo im Kopf.
Als Karl Dall Ende 2005 in Prag war, um für eine Pro-7-„Rotkäppchen“-Version den König zu spielen, kam beim Geplauder mit der Crew die Rede auf den alten Freund Mike Krüger. Bei dem sei nach „Mein Gott, Walther“ ja nichts mehr gekommen, flachste Dall unter anderem – ein NDR-Team schnitt die informellen Sticheleien mit, führte sie Krüger vor und ließ den sichtbar bebenden Sänger in die Kamera sagen, dass Dall manchmal schon übers Ziel hinausschieße und bösartig sei. Die üblichen Frotzeleien unter Kollegen, meint Dall. Aber wer weiß, wie die anderen über ihn reden. So ein eiskalter Lurch hat nicht unbedingt Feinde, doch allzu viele Freunde sollte er besser nicht brauchen.
Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, Mitte der Siebziger, haben Insterburg & Co. wirklich mal ein Hotelzimmer verwüstet. Im Bahnhofshotel Mönchengladbach hängten sie im Zimmer von Gitarrist Jürgen Barz alle Gardinen ab, entfernten die Beine des Betts und warfen sie aus dem Fenster. Das muss possierlich gewesen sein, weil die Insterburger zwar 5000-er Hallen füllten, Platten in 100 000-er Auflage verkauften, sich wie Rockstars fühlten, aber wie ein Männer-Strickkreis und eine Öko-WG aussahen.
Der leicht reizbare Simpel ohne Abitur
Barz, der Schöne, der auf Tour viel Sex und wenig Lacher bekam. Ingo Insterburg, der alle Instrumente konnte und als Barde mit tirilierendem Ton bis zu 40 Lieder für ein Jahresprogramm dichtete. Der wolkenbärtige Peter Ehlebracht musste die Rolle des jovialen Großvaters spielen. Karl Dall, bedrohlich irrer Blick, meterlang, im blank ausgewaschenen Jeans-Dress, war der leicht reizbare Simpel ohne Abitur, der unter anderem dafür zuständig war, von der Bühne aus ausgewählte Zuschauer zu quälen. Die Parade-Nummer „Diese Scheibe ist ein Hit“ – mit der außergewöhnlichen Zeile „Udo Jürgens und Roy Black/ Sind dagegen der letzte Dreck“ – durfte Karl singen, weil er ja nichts spielen konnte. Da ging er als Schreck ins Publikum, nahm irgendeinem die Brille weg, und wenn er sich verbeugte – „Vielen Dank, Ihr Peter Alexander!“-, spielte Insterburg sehr laut „Der Mai ist gekommen“ auf dem Klavier, um Dalls Applaus abzuwürgen.
„Bei Insterburg stand immer in der Bühnenanweisung: ein Kasten Bier. Kein Schnaps“, erzählt Dall. „In der Pause war der manchmal schon leer.“ Es fällt ziemlich schwer zu erklären, warum sich der oft platte, fäkal- und sexfixierte Humor der Insterburger heute noch anarchisch und explosiv anfühlt. „Wir haben zum Teil die gleichen Witze gemacht wie die alten Schleim-Entertainer“, gibt Dall zu. „Aber wir sind härter rangegangen, bis an den Rand.“ Die Dialoge improvisierten sie, parodierten die umständlichen Song-Erklärungen der Folkloristen, stellten sich gegenseitig bloß. Unter Biereinfluss gingen die Gags dann weit weg vom, sagen wir mal: Gegenständlichen.
Und obwohl sie in der Provinz als Langhaarige gescholten wurden, fanden Insterburg & Co. natürlich keine Heimat bei der linken Intelligenz. „Die haben von uns verlangt: Wenn man so berühmt ist wie ihr, muss man den Leuten auch sagen, was an diesem Staat faul ist. Dass wir aber nur so berühmt waren, weil wir eben kein politisches Kabarett gemacht haben, verstanden die nicht. Aber irgendwann ist auch bei diesen Leuten der Bedarf da: Jetzt möchte ich mal ’n bisschen besoffen und doof sein. Dafür waren wir dann wieder gut.“ Fritz Teufels Kommune I erschien zum Insterburg-Konzert im Berliner Hundert-Platz-Theater, wollte aber keinen Eintritt zahlen. Dall verdonnerte sie, als Gegenleistung das Klavier auf die Bühne zu tragen.
Im „Musikladen“ von Radio Bremen ließ Regisseur Mike Leckebusch sie jeden Monat live improvisieren. Einmal beleidigten sie in einem Gedicht die Queen und den Papst. Hinterher führten die Insterburger das Ausgeh-Kommando mit den Stars aus der Show an. Brian Eno hätte ohne Ingo und Dall ja nie erfahren, wo man in Bremen nachts ein Bier kriegt. Es war wild.
Damit ihm wirklich keiner blöd kommen kann, muss Dall auch immer selbst alle Filme zugeben, in denen er mitgespielt hat. „Quartett im Bett“, in dem Insterburg & Co. 1968 auf die Jacob Sisters und deren Pudel trafen, ist der beste. Schwarzweißer Spontihumor, der den Ernst-Lubitsch-Preis bekam und vor 18 Jahren zum letzten Mal im Fernsehen lief- öfter kamen „Gib Gas, ich will Spaß“ mit Nena, „Das verrückte Strandhotel“ (zum Glück besann man sich und gab dem Film später den viel schöneren Titel „Dirndljagd am Kilimandscharo“), „Sunshine Reggae auf Ibiza“. In dem Dall als Ostfriese Karl nach Ibiza fliegt, um seine Lieblings-Schlagersängerin zu treffen. Er ist die meiste Zeit besoffen, wird von einer nymphomanen Hotelchefin verfolgt und in der Glanzszene von Gottlieb Wendehals mit einem Hämmerchen durch die Straßen gejagt.
Die zweite Hauptrolle spielte der Sohn von Udo Jürgens, weil der Produzent hoffte, auf die Art den wahren Udo für einen ähnlichen Film zu bekommen. Beim „Strandhotel“ nahm die Produktionsfirma extra einen Journalisten mit nach Afrika, der gleich noch eine Rolle bekam und der „Neuen Revue“ per Fax mitteilte, wer mit wem beim Dreh gepimpert hatte.
Wenn man mal besoffen und doof sein will, so wie die 68er in der Insterburg-Show, ist „Sunshine Reggae“ übrigens ein toller Film
Er habe sich vom Wunsch blenden lassen, doch noch Filmschauspieler zu werden, sagt Dall. Schon 1969, zur Insterburg-Zeit, als er nun echt kein Geld mehr brauchte, spielte er in der Sex-Version von „Hänsel und Gretel“ den Spanner im Wald. „Die hatten auch noch meinen Namen besonders dick aufs Plakat geschrieben. Ich bin aus dem Kino raus, bevor es hell wurde, damit die Leute mich nicht erkennen.“
Der wahre strategische Fehler, den der Stratege Dall hier begangen hat: Er ließ sich als Maskottchen casten. Er war niedlich. Wenn man mal besoffen und doof sein will, so wie die 68er in der Insterburg-Show, ist „Sunshine Reggae“ übrigens ein toller Film.
Die Insterburg-Gruppe hatte sich 1979 aufgelöst, zu einer Zeit, als sie längst harmlos im ZDF spielen durften. Eine Auskotz-Sendung wie „Dall-As“ wäre dort nicht möglich gewesen, aber mit dem Start des deutschen Privatfernsehens öffnete sich 1984 ein ganz frisches Fenster für Karl Dalls Entertainertum. Die brauchten ihn sozusagen. Ab Januar 1985 lief die Show samstags um 22 Uhr auf RTL, danach kam ein Tittenfilm aus dem Archiv. Manchmal einer mit Dall persönlich.
„Ich hatte einen Bierdeckel, da standen die Namen der Gäste drauf und wo die sitzen. Nachmittags hab ich mich kurz eingelesen, dann haben wir losgelegt. Nach einer Stunde wurde der Tisch abgewischt, das Publikum umgesetzt, neue Gäste. So wurden zwei Sendungen aufgezeichnet, und ich hatte meine Ruhe.“ „Dall-As“ lief ohne Unterbrechung, weil RTL kaum Werbung hatte. Dall unterstrich die Billigkeit fein mit Lederweste und Pilsglas: „Lass uns erst mal die nötige Primitivität ansaufen!“ Den verunstalteten ARD“Dallas“-Trailer hatte man einfach geklaut.
Im Nachhinein ist es zu leicht, die Sendung als Punk-Rock gegen die Krawatten-Unterhaltung des ARD-ZDF-Samstags zu verklären. Aber zwei Dinge, die heute noch gelten, hat Dall wie kein anderer vorgeführt: dass es auf der Fernsehtalk-Couch nichts zu reden gibt. Und das alte Problem, dass der Moderator immer aus der Mitte der Prominenten stammt, die er interviewt, und nicht so viele Freunde verlieren kann. Dass Dall oft genau das aussprach, was in der Sicherheit der Kneipen über die deformierten Stars geredet wurde, haben ihm auch einige von denen niemals verziehen, die bis zum Ende blieben und selbstironisch gaukelten.
„Wenn einer kam und Witze auf meine Kappe probiert hat – den hab ich erst mal ins Leere reden lassen, und im Lauf der Stunde hat er sein Fett zurückgekriegt. Es ist ein einfaches Spiel, ein bisschen Ping-Pong, ein bisschen Kitzeln. Die Leute haben ja sofort getobt, wenn ich einer prominenten Fresse eins reingewürgt habe. Ich habe mir aber nie Leute eingeladen, die ich nicht mochte. So ein richtiges Arschloch wollte ich da gar nicht haben.“
Als er 1992 zu Sat.1 ging und denselben Talk unter anderem Titel weiterproduzierte, klagte RTL ein Copyright auf das Konzept ein. Und verlor. Vielleicht konnte Sat.1 nachweisen, dass Dall gar kein Konzept hatte.
Zum 60. Geburtstag 2001 bekam Karl Dall vom NDR eine schöne Jubiläums-Show. Er war sichtlich bemüht, zu diesem zwickenden Anlass das zu tun, was sie von ihm wollten. Er tat so, als wäre er freudig überrascht von Überraschungsgästen wie Norbert Blüm. Er sagte „Was willst du denn, du alte Kuh?“ zu Moderatorin Eva Herman. Er gab Reinhard Mey eine Flasche Wein: „Damit du endlich von dem billigen Rotwein mit Schraubverschluss runterkommst.“ Er fragte die Scorpions: „Singt ihr Vollplayback wie immer?“
Doch man wundert sich ernsthaft, was Karl Dall wohl tatsächlich sieht, wenn er auf seine Karriere zurückschaut. Auf sein Werk, das für die Wiederholung, das ewige Gedächtnis des Fernsehens, nicht geeignet ist. Ob er auch das sieht, was Roland Kaiser damals kurz vor der Flucht vielleicht gesehen hat: das Unterhaltungs-Paradox, die Leute gerade dadurch zum Zuschauen zu bringen, dass man sie ständig zum Wegschalten provoziert. Das im Showgeschäft seit Jahrzehnten übliche gegenseitige Ärgern immer noch so weit zu übertreiben, dass es die Form zu sprengen droht. Und das unter Kontrolle zu behalten.
„Auf neue Filme habe ich keinen Bock mehr“, sagt Karl Dall. „Die haben mich ja immer nur genommen, weil sie Karl Dall haben wollten, nicht damit ich in eine andere Rolle schlüpfe. Früher habe ich noch gefragt, warum man mir nicht mal eine unsympathische Rolle gibt. Einen Killer. Oder einen, der sich nicht für Frauen interessiert. Aber da ist keiner drauf gekommen. Auf eine Alterskarriere wie bei Armin Müller-Stahl hab ich keine Lust. Ist ja auch ein bisschen spät für mich.“
Es bleibt ihm viel. Dall ist seit 35 Jahren mit Barbara verheiratet, in seine Tochter Janina ist er vernarrt – sie ist 32 und selbständige Film-Stuntfrau in Kanada, wo sich die Familie im Sommer immer trifft. Mit 25 sei er zwar kurz davor gewesen, Alkoholiker zu werden, erzählt Dall, aber heute trinke er höchstens mal Rotwein. „Italienischen. Die Franzosen gehen mir auf den Magen. Uli Wickert hat mir mal gesagt (näselt gestelzt): ,Ich habe mich auf Bordeaux eingetrunken!‘ Wir werden nie zusammenfinden.“
Gab es denn nie ein Problem mit dem Irrsinn, ganz früher vielleicht? „Nein“, sagt Dall. „Aber Leute, die psychische Probleme haben, fühlen sich zu mir hingezogen. Ich musste in meinem Leben leider schon zwei Leute verabschieden, die Selbstmord begangen haben und in den letzten Wochen ihres Lebens eng an mir hingen. Weil ich zuhören kann. Aber helfen kannst du denen nicht. Ich weiß nicht, ob man das lernen kann. Eigentlich muss man nur zuhören können.“
Fremdanalysen über seine Befindlichkeit hat Dall immer aus der Ferne bekommen. Vom natürlichen Feind, von den Zeitungen. „Als die ‚Dall-As‘ bemerkten, haben sie es auf die psychologische Art versucht: Warum ist der so? Ist das die Rache an der Gesellschaft, weil die ihm als Kind so viel angetan hat? Sie hätten auch einfach schreiben können: Ich hab mich unterhalten gefühlt, aber ich kann den Arsch nicht leiden.“
Und dann schaut Dall plötzlich in die Sonne. Was soll das denn jetzt? „Immerhin, die Medien haben sich mit mir auseinandergesetzt. Mit mir und meiner Art und Weise, ob man das Kunst nennt, wie auch immer. Und das ist doch schon mal eine feine Sache. Bevor man ignoriert wird.“
Das klingt sicher viel versöhnlicher, als Karl Dall sich das gedacht hat. Das wird ihm nicht gefallen, wenn er morgen aufwacht. Wir machen das wie Beckmann. Wir schneiden es raus.