Kamala Harris im ROLLING-STONE-Interview: „In welchem Land wollen wir leben?“

Im November wird in den USA gewählt. Im ROLLING-STONE-Interview spricht die amerikanische Vizepräsidentin über die Einschränkung des Abtreibungsrechts und Homosexuellen-Diskriminierung in Florida, über den Gazakrieg, Trump und die Gefährdung der Demokratie

Am Sonntag (21. Juli) verkündete Joe Biden seinen Rückzug von einer erneuten Präsidentschaftskandidatur. Als Nachfolgerin für die Bewerbung wird nun seine Vizepräsidentin Kamala Harris gehandelt. ROLLING STONE traf sie zum Interview, das kurz vor Bidens Entscheidung geführt wurde. Das hier online veröffentlichte Interview lesen Sie auch der kommenden ROLLING-STONE-Ausgabe 08/24. 

In den turbulenten Wochen, die ich mit Vizepräsidentin Kamala Harris für ROLLING ­STONE auf Wahlkampftour verbracht habe (Anmerkung: Die Air Force Two serviert eine Menge Burritos), habe ich erlebt, wie sie sowohl politischen Pragmatismus als auch Leidenschaft verkörpert. Ich war mit ihr in Parkland/Florida, wo sie in der Turnhalle der High­school stand, an der siebzehn Menschen erschossen worden waren, und die nötigen Waffenreformen skizzierte, die für jeden „selbstverständlich“ sein sollen. In Las Vegas, wo sie sich über „Trumps Abtreibungsverbote“ lustig machte und „Four more ­years!“ skandierte. In L.A. und D.C. und New York und wieder in Florida, wo sie an dem Tag, an dem dort ein deutlich verschärftes Abtreibungsrecht in Kraft trat, eine Kundgebung mit der Aussage aufmischte: „In unserer ganzen Nation erleben wir einen Angriff auf die Freiheit – Staat für Staat. Sie wissen, wer daran schuld ist: Donald Trump!“ In einem Interview, das in zwei Teilen geführt wurde – zuerst in New York und dann in ihrem Büro im Westflügel des Weißen Hauses –, sprach Kamala Harris mit uns über ihre Vision für den Wahlkampf, das Land und die Freiheitsrechte.

Kein Präsident vor Ihnen hat je eine Abtreibungsklinik besucht. Ich habe gesehen, wie Sie auf der Wahlkampftour zahlreiche Male über das Recht auf Abtreibung gesprochen haben. Ich weiß auch, dass Sie Ihre Karriere als Staatsanwältin unter anderem deshalb begonnen haben, weil Ihre beste Freundin in der High­school von ihrem Stiefvater belästigt worden war – und dass Sie sie, als Sie davon erfuhren, zu sich nach Hause holen ließen. Können Sie uns ein wenig mehr darüber erzählen? Musste Ihre Mutter erst überredet werden?

Nein.

Gar nicht?

Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der sich die Leute um­einan­der kümmerten. Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der meine Mutter, meine Eltern und meine Großfamilie wirklich wollten, dass Kinder gefördert und gefordert werden und ihnen nicht geschadet wird. Meine Mutter wusste, wie wichtig es ist, sich um Menschen zu kümmern, vor allem wenn sie verletzt wurden oder Schmerzen hatten. Bei vielen der Themen, auf die ich mich konzentriere, geht es mir vor allem darum, wie sich diese Themen im wirklichen Leben auswirken. Das prägt meine Sichtweise, wenn nicht sogar meine Leidenschaft. Und die Erfahrung mit Wanda war wahrscheinlich eine der ersten, bei der mir bewusstwurde, wie sich das im wirklichen Leben abspielt.

Wie haben Sie erfahren, was passiert war?

Ich konnte irgendwie spüren, dass die Beziehung seltsam war. Und dann hat sie es mir erzählt.

Und da dachten Sie sofort: ‚Ich kann etwas tun‘?

Instinkt … Sprechen Sie mit meiner besten Freundin aus dem Kindergarten, Stacey Johnson hieß sie damals, sie wird Ihnen erzählen, dass das schon sehr früh angefangen hat. Ein Kind hatte sie schikaniert und versucht, sie auf dem Spielplatz zu verhauen, und ich ging dazwischen und zettelte eine Prügelei mit dem Kind an.

Kamala Harris

Eine körperliche Auseinandersetzung?

Na ja, was denken Sie denn!

Haben Sie gewonnen?

Es ging nicht um Sieg oder Niederlage. Es war einfach mein Instinkt als das ältere Kind. Meine Mutter hat immer gesagt: „Pass auf deine Schwester auf!“ Ich hatte immer den Instinkt, andere beschützen zu wollen. Ich hasse Tyrannen. Ich kann Menschen nicht ausstehen, die ihre Macht nutzen, um andere Menschen herabzusetzen.

Also haben Sie Wanda gesagt, sie könne bei Ihrer Familie einziehen?

Ja, sie musste bei uns einziehen.

Wie war es, jemand Neues im Haus zu haben?

Na ja, ich hatte eine Kindheit, in der jeder beim anderen abhing. Wir hatten immer ein offenes Haus. Wer auch immer reinkam, hing bei uns ab: „Es ist Essenszeit, setz dich zu uns und iss mit uns.“ Das ist die Gemeinschaft, in der ich aufgewachsen bin. So bin ich groß geworden. Wenn es bei dir zu Hause langweilig wird, gehst du einfach nach nebenan. Es war also nichts Ungewöhnliches an der Idee, dass dieses Kind einen sicheren Ort brauchte – natürlich wird sie zu uns kommen und bei uns wohnen! Das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Über so etwas denkt man nicht nach, man tut es einfach.

Und diese Erfahrung war einer der Gründe, warum Sie Jura studieren wollten?

Es gab eine Reihe von Gründen. Ich denke an Thurgood Marshall (den ersten afroamerikanischen Richter am Obersten Gerichtshof der USA), die Art und Weise, wie er die Leidenschaft von der Straße in die Gerichtssäle unseres Landes übertragen hat, die Fähigkeit, das Gesetz als Werkzeug zu nutzen, um dort Gerechtigkeit zu schaffen, wo sie sonst vielleicht nicht existiert. Ich bin mit den Helden der Bürgerrechtsbewegung aufgewachsen, Dr. King und anderen, aber es waren auch die Anwälte. Mein Onkel Sherman war Anwalt. Er war einer der wenigen schwarzen Studenten in Berkeley. Jeder, der Hilfe brauchte, hörte: „Ruft Sherman an.“ Und ich dachte mir: Oh, okay, Onkel Sherman als Anwalt hat also die Fähigkeit, derjenige zu sein, den jeder anruft, wenn er versucht, sich einen Reim auf etwas zu machen, und wenn er Hilfe braucht. Es waren also die Menschen in meinem Leben, aber auch die frühe Erkenntnis, dass das Gesetz eines der wichtigsten Werkzeuge ist, um Gerechtigkeit zu erreichen.

Wissen Sie noch, wo Sie waren, als Sie zum ersten Mal von der Dobbs-Entscheidung (dem Urteil des Obersten Gerichts von 2022, das die bundesweit freie Entscheidung bei Abtreibungen einschränkt) hörten?

Ich war in der Air Force Two, auf dem Weg zu einer Veranstaltung zu Müttergesundheit in Illinois. Ich rief meinen Mann, Doug, an, denn mit ihm kann ich offen sprechen, Schimpfwörter benutzen …

Das dürfen Sie hier auch.

… und ich weiß noch, wie ich zu ihm sagte: „Beep – beep – beep – sie haben es getan. Sie haben es tatsächlich getan!“ Ich bin mir sicher, dass es für alle, denen das Thema am Herzen liegt, ein surrealer Moment war. Mein ganzes Erwachsenenleben lang war Roe (das 1973 beschlossene liberale US-Abtreibungsrecht) in Kraft. Wir wussten immer, dass wir dafür kämpfen mussten. Wir wussten immer, dass es seit dem Tag, an dem es beschlossen wurde, die Absicht gab, es wieder loszuwerden. Aber um die Wahrheit zu sagen, die meisten von uns haben nicht geglaubt, dass es dazu kommen würde. Und dann haben sie es doch getan. Oh, da hat es mir den Atem verschlagen!

Selbst wenn man damit gerechnet hat, war es ein Schock, denn Amerika ist eigentlich nicht dafür bekannt, Rechte abzuschaffen.

Ich glaube, dass unsere Stärke als Nation von vielen Dingen abhängt, unter anderem davon, dass wir uns im Laufe der Zeit für eine Ausweitung der Rechte eingesetzt haben. Und plötzlich sehen wir mächtige Kräfte, die versuchen, Rechte einzuschränken. Das ist tiefgreifend. Wir als Nation sind sehr stolz auf unser Engagement für Freiheit und Unabhängigkeit. Wir als Amerikaner sind sehr stolz auf diese Konzepte. Was bedeutet es für jeden Einzelnen – unabhängig von seinem Geschlecht –, dass die Regierung jetzt grundlegende Freiheiten einschränkt, wie die Freiheit, über den eigenen Körper zu entscheiden? Und wenn das nun passiert, was könnte dann noch passieren? Das sollte für jeden ein Alarmsignal sein, unabhängig davon, wie man zu dem Thema steht. Und dann ist da natürlich noch der ­Aspekt, wie sich das im Alltagsleben auswirkt. Als die Entscheidung durchgesickert war, konnte ich schon vorhersagen, welche Folgen das für die Menschen haben würde, und zwar jeden Tag. Und ich muss leider sagen, dass ich größtenteils richtig lag.

„Es gibt keine Frau in ihren Zwanzigern, die, wenn sie Sex mit einem Mann hat, keine Angst davor hat, ungewollt schwanger zu werden“

Viele Menschen sind gerade deshalb frustriert, weil sie wissen, dass die Mehrheit der Amerikaner das Recht auf Abtreibung unterstützt, und dennoch anders entschieden wird.

Sehen Sie, das fußt auf einer Agenda, das ist klar. Von der ersten Minute an, als das Urteil in der Rechtssache Roe gefällt wurde, war der Entwurf (für ein schärferes Abtreibungsrecht) bereits in Arbeit. Und wir alle sind Zeugen der Umsetzung dieses Plans. Und wir müssen uns daran erinnern, dass wir jede Freiheit, die wir erkämpft haben, wachsam bewahren müssen. Es ist unsere kollektive Verpflichtung in einer Demokratie, für sie zu kämpfen.

Wie können die Menschen jetzt dafür kämpfen?

Wählen. Punkt. Wählen. Es ist töricht, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: Wie konnte das passieren? Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie es passiert ist: Zunächst einmal gab es einen Präsidenten, Donald Trump, der klar und deutlich gesagt hat, was er zu tun gedenkt. Und er hat es getan. Er wählte drei Mitglieder des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten mit der Absicht aus, Roe rückgängig zu machen, und sie setzten um, was er beabsich­tigte. Aber damit hat es nicht angefangen. Jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang, haben jene, denen „­Choice“ ein Dorn im Auge war, auch angefangen, sich tiefer mit den Wahlen in den Bundesstaaten zu befassen oder mit dem Zuschnitt der Wahlkreise. Sie haben verstanden, dass jede Wahl wichtig ist – nicht nur wer im Weißen Haus und im Kongress sitzt, sondern auch wer der Generalstaatsanwalt ist, wer der Gouverneur ist, wer die Mehrheit in der Legislative hat. Und all diese Dinge zusammen haben dazu geführt, dass in über zwanzig Staaten das Recht der Frau auf eine freie Entscheidung beim Thema Abtreibung gestrichen wurde.

Ihr Ratschlag für Linke ist also, ebenso auf diese Dinge zu achten?

Es widerstrebt mir, das einfach in „links“ und „rechts“ einzuteilen. Hier geht es um grundlegende Freiheiten, und da sehe ich weder links noch rechts. Es gibt keine Frau in ihren Zwanzigern, die, wenn sie Sex mit einem Mann hat, keine Angst davor hat, ungewollt schwanger zu werden. Das ist eine alltägliche Erfahrung, die viele Menschen ­machen.

Trump hat jetzt erklärt, dass er gegen ein nationales Abtreibungsverbot ist und es den Staaten überlassen will.

Ich würde Ihnen empfehlen, ihm nicht zu glauben. Als er Präsident war, unterstützte er ein nationales Abtreibungsverbot und sagte, er würde es unterschreiben. Jetzt behauptet er, er sei dafür, dass die einzelnen Bundesstaaten diese Entscheidungen treffen. Tja, Staaten wie Texas sehen lebenslange Haftstrafen für Ärzte und Krankenschwestern vor. Es gibt Staaten, die versuchen, Gesetze aus dem 19. Jahrhundert wiederzubeleben – bevor sie überhaupt ein Staat waren und bevor Frauen wählen durften. Bundesstaaten erlassen Verbote ab der sechsten Schwangerschaftswoche – bevor die meisten Frauen überhaupt wissen, dass sie schwanger sind. Das sind die Abtreibungsverbote von Trump. Hätte er nicht getan, was er getan hat, könnten diese Dinge nicht in Kraft treten.

„Was für ein Recht haben diese Leute, die in irgendeiner Landeshauptstadt sitzen, in Ihr Haus zu kommen und sich anzumaßen, dass sie besser als Sie wissen, was in Ihrem Interesse ist? Meine Güte! Eine Frechheit!“

Als Woman of Color, die als Senatorin einen von acht Amerika­ner:in­nen vertrat, wissen Sie, was Repräsentation bedeutet. Inwieweit hat eine unzureichende Repräsenta­tion zu dieser Situation geführt?

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Die Mehrheit der Abgeordneten sind immer noch Männer. Und ich frage manchmal – vielleicht etwas scherzhaft, aber treffend –, ob die Männer, die diese Gesetze zum Verbot der Abtreibung nach der sechsten Woche erlassen, überhaupt wissen, wie der Körper einer Frau funktioniert. Wenn ja, scheint es ihnen egal zu sein. Und natürlich geht es um die Repräsentation. Wenn Menschen Entscheidungen treffen, die sich direkt auf das Leben anderer Menschen auswirken, ist es wichtig, dass sie ein Gefühl dafür haben, wie sie sich tatsächlich auswirken. Vor allem wenn es um Angelegenheiten geht, die das Zuhause und das Herz betreffen. Denn in gewisser Hinsicht sollten wir uns alle einig sein: Was für ein Recht haben diese Leute, die in irgendeiner Landeshauptstadt sitzen, in Ihr Haus zu kommen und sich anzumaßen, dass sie besser als Sie wissen, was in Ihrem Interesse ist? Meine Güte! Eine Frechheit!

Apropos Herzensangelegenheiten und Zuhause: Sie haben viel über Ihre Drei-Uhr-Agenda gesprochen und darüber, dass sich Ihre Politik danach richtet, was Sie nachts wach hält. Erinnern Sie sich an das letzte Mal, als Sie um drei Uhr morgens aufgewacht sind?

Oft!

Letzte Nacht?
Ich hatte ein wunderschönes Wochenende und bin dennoch um drei Uhr aufgewacht. Denn ich bin zutiefst besorgt über die Bedeutung und die Folgen der kommenden Wahl. Wir haben immer wieder darüber gesprochen: „Dies ist eine wichtige Wahl! Dies ist die ­richtige!“

Das wird jedes Mal behauptet.

Aber wir befinden uns in einer ganz anderen Situation. Es gab den 6. Januar (den Tag des Sturms des rechten Mobs auf das Kapitol). Wir befinden uns in einer Situation, in der der ehemalige Präsident offen Beinahe-Diktatoren verherrlicht und sagt, dass er vom ersten Tag an selbst ein Diktator sein wird. Er sagt, er werde das Justizministerium mit Waffen ausstatten, er sei stolz auf das, was er in Bezug auf das Abtreibungsrecht getan hat, stolz auf die Tatsache, dass Ärzten und Krankenschwestern Gefängnis droht, stolz auf die Tatsache, dass unsere Tochter und so viele andere weniger Rechte haben werden als ihre Mütter und Großmütter. Ich glaube, dass wir als Amerikaner die Verantwortung haben, uns an einen Standard zu halten. So unvollkommen wir auch sind, so fehlerhaft wir auch sein mögen – wir sind stolz darauf, dass wir für die Freiheit, für die Demokratie kämpfen. Und dies ist einer dieser Momente, in denen wir alle mit einer Frage konfrontiert werden: In was für einem Land wollen wir leben? Das ist die Frage, die im November auf dem Wahlzettel steht.

Joe Biden und Kamala Harris

Unentschlossene Wähler:innen, die in der Mitte stehen, hören von beiden Seiten: „Dies ist ein Kampf für unsere Freiheit.“ Wie überzeugen Sie die davon, dass sie sich Ihrem Kampf anschließen sollten?

Na ja, fangen wir damit an, ob es einen Konsens darüber gibt, dass eine Frau die Freiheit haben sollte, über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Das steht auf dem Spiel. Gibt es einen Konsens darüber, dass wir alle frei sein sollten von der Angst vor Waffengewalt? Wo stehen wir bei der Freiheit, offen und mit Stolz zu lieben, wen man liebt? Wie steht es um die Freiheit, frei von Hass und Fanatismus zu sein? Das sind die Freiheiten, von denen ich spreche.

Und jeder muss entscheiden, ob das die Freiheiten sind, die ihm wichtig sind oder nicht?

Richtig. Ich will niemandem seine Perspektive absprechen, aber ich möchte darum bitten, dass wir alle über einige grundlegende Freiheiten nachdenken. Wir glauben an die Freiheit der körperlichen Autonomie. Wir glauben an die Freiheit der Justiz. Wir glauben an die Freiheit, die gesamte Geschichte Amerikas zu erfahren. Ich glaube fest an diese Freiheiten.

Ich bin mit Ihnen nach Jack­son­ville/Florida gefahren. Sie haben dort über Bücherverbote und Änderungen in der Bildungspolitik gesprochen.

Das macht deutlich, wie viel auf dem Spiel steht. Und dass etwas Perverses in den letzten Jahren in unserem Land passiert ist. Eine Entwicklung, die suggeriert, die Stärke einer Führungspersönlichkeit könne daran gemessen werden, wen man fertigmacht, und nicht daran, wem man auf die Beine hilft. Ist es denn eine Schwäche, Empathie zu haben? Eine der größten Charakterstärken, ist es, ein gewisses Maß an Sorge und Rücksichtnahme zu zeigen und sich um das Leid anderer Menschen zu kümmern und dann etwas zu tun, um deren Situation zu verbessern. Bei dieser Wahl geht es auch um diese Fragen: Welche Art von Führung wünschen Sie sich? Was ist Ihrer Meinung nach die Stärke einer Führungspersönlichkeit? Beruht sie auf großen Worten, die die Menschen niederschlagen, oder basiert sie auf einem Ansatz, bei dem es darum geht: Hey, lasst uns das bedeutendste Infra­struktur­gesetz seit Eisenhower verabschieden und es zu Ende bringen! Lasst uns zum ersten Mal seit dreißig Jahren einen parteiübergreifenden Konsens über die Waffensicherheit erzielen und es zu Ende bringen! Lasst uns in Amerikas globale Führungsrolle bei einer sauberen Energiewirtschaft investieren und es zu Ende bringen! Lasst uns in Technik und Wissenschaft investieren, Lieferketten wiederherstellen und in die amerikanische Halbleiterproduktion investieren und es zu Ende bringen! Die Schließung des juristischen Schlupflochs für Waffenausstellungen war ein großer Sieg für diese Regierung, aber es gibt natürlich noch viel zu tun.

„Ich habe mit und in Gemeinden gearbeitet, in denen den Kindern bei Schießereien gesagt wird: „Spring in die Wanne!“, weil man dort einer verirrten Kugel ausweichen kann.“

Haben Sie die Studie gesehen, die heute herauskam und besagt, dass jeder siebte Amerikaner in einem Umkreis von einer Viertelmeile um einen tödlichen Schuss lebt?

Ich habe sie nicht gesehen. Aber ebenso entsetzlich ist die Tatsache, dass Waffengewalt die häufigste Todesursache für Kinder in Amerika ist. Nicht Autounfälle. Nicht Krebs. Waffengewalt. Es ist erschreckend, dass jeder fünfte Amerikaner ein Familienmitglied hat, das durch Waffengewalt getötet wurde … Die Opfer von Waffengewalt sind natürlich zuerst die Menschen, die erschossen wurden, die getötet wurden, aber auch ihre Familien, die Gemeinschaft, wir alle, psychisch. Das fordert der Gesellschaft einen hohen Tribut ab. Ein großer Teil meiner Arbeit – ich habe in letzter Zeit viel mit Kim Kardashian (die sich für Opfer von Gewalt engagiert) darüber gesprochen – konzentriert sich seit meinen ersten Jahren als Staatsanwältin auf nicht diagnostizierte und unbehandelte Traumata, die das Ergebnis von Gewalterfahrungen sind, entweder direkt oder in der Gemeinschaft. Ich habe mit und in Gemeinden gearbeitet, in denen den Kindern bei Schießereien gesagt wird: „Spring in die Wanne!“, weil man dort einer verirrten Kugel ausweichen kann.

Ich möchte noch über die katastrophale Situation im Gazakrieg sprechen. Sie kommen aus einer gemischt­religiösen Familie. Wenn Sie Gespräche darüber beim Sonntagsfrühstück führen, wie sehen diese Gespräche dann aus?

Na ja, zunächst einmal muss dieses Thema mit Wertschätzung und Respekt für die Nuancen, den Kontext und die Komplexität diskutiert werden. Mich besorgt, dass dieses Thema gern so dargestellt wird, als ob es binär wäre: entweder nur das eine oder das andere. Sprechen wir etwas detaillierter darüber. Am 7. Oktober wurden 1200 Menschen abgeschlachtet, viele von ihnen junge Leute, die gerade ein Festival besuchten. Frauen wurden auf grausamste Weise vergewaltigt. Ich habe an verschiedenen Orten auf der Welt gesehen, dass Vergewaltigung als Kriegsmittel eingesetzt wird. Wir müssen verstehen, dass Israel, als dies geschah, das Recht hatte und es noch hat, sich zu verteidigen. Das hätten auch wir. Und wir sollten verstehen, dass es darauf ankommt, wie Israel das tut, denn es gibt viele Wahrheiten, die gleichzeitig existieren. Viel zu viele unschuldige palästinensische Zivilisten sind getötet worden. Wir haben es mit einer Hungersnot zu tun. Die Hilfe muss ankommen. Und die Geiseln müssen freigelassen werden. Und wir brauchen eine Zwei­staaten­lösung. Und wir brauchen einen Waffenstillstand, damit wir eine Zwei­staaten­lösung anstreben können. Und die Palästinenser haben ein Recht auf Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung. Und die Israelis haben ein Recht auf Sicherheit und Schutz. Und wir müssen den zunehmenden Anti­semi­tis­mus in der Welt bekämpfen. Und wir müssen die Islamophobie bekämpfen. Und die Menschen leben in Angst.

Was hat Sie das Amt gelehrt, und was hat Sie in Ihrer Zeit als Vizepräsidentin überrascht?

Wie Sie an meiner Laufbahn sehen, bin ich eine überzeugte Staatsdienerin. Ich glaube an die No­blesse des öffentlichen Dienstes. Ich glaube, dass man im Dienst des Volkes eine Menge tun kann. Und ich war immer in der Exekutive tätig – die einzige Zeit in der Legislative war im Senat, und das nur kurz. Also ging es bei meiner Arbeit immer darum, Dinge zu erledigen. Meine Arbeit wurde fast immer davon angetrieben, Prämissen infrage zu stellen, Traditionen nicht zu akzeptieren oder sich nicht von ihnen behindern zu lassen. Ich will Dinge voranbringen.

„Es gibt Lehrer, die sich nicht trauen, ein Foto von sich und ihrem Partner aufzustellen, weil sie befürchten, dass sie entlassen werden könnten. Weswegen? Gottes Werk, ein Lehrer zu sein?“

Wenn es darum geht, Dinge voranzubringen, waren Sie bei den LGBTQ+-Rechten immer ganz vorn mit dabei. Sie gehörten zu den Ersten, die homosexuelle Ehen geschlossen und sich für die Gleichstellung eingesetzt haben. Haben Sie Sorge, eine andere Regierung könnte das rückgängig machen?

An diesem Valentinstag haben wir den 20. Jahrestag gefeiert, an dem ich die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen in San Francisco geschlossen habe. Zwanzig Jahre später gibt es in Florida, einem Staat mit einem großen Bevölkerungsanteil, ein „Don’t Say Gay“-Gesetz (das es Lehre­r:in­nen verbietet, über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu sprechen) . Und es gibt Lehrer, die sich nicht trauen, ein Foto von sich und ihrem Partner aufzustellen, weil sie befürchten, dass sie entlassen werden könnten. Weswegen? Gottes Werk, ein Lehrer zu sein? Die edle Arbeit, die Kinder anderer Leute zu unterrichten? Gott weiß, dass wir ihnen ohnehin nicht genug bezahlen. Also ja, wir sollten alle besorgt sein. Wenn wir nun miterlebt haben, wie das höchste Gericht in unserem Land ein so fundamentales Recht wie die Freiheit, über den eigenen Körper zu entscheiden, an sich gerissen hat, muss sich jeder darüber im Klaren sein, was noch auf dem Spiel stehen könnte. Und damit sind wir wieder bei meinem Punkt: Wir müssen immer wachsam sein und für diese Rechte kämpfen. Sie werden sich nicht von selbst erhalten. Also ja, ich mache mir Sorgen darüber. Alle Menschen sollten sich darüber Sorgen machen. Das ist jetzt nicht die Zeit, um passiv zuzuschauen. Bei dieser Wahl entscheidet sich, in was für einem Land wir ­leben ­wollen.

Tasos Katopodis Getty Images
Samuel Corum Getty Images
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