Kabul rocks
Clubadressen sind geheim, Live-Auftritte gefährlich, Popmusik Teufelswerk. Vom Leben zwischen Taliban-Rerror und Thrash-Metal - eine Reportage aus Afghanistan
Nur langsam gewöhnen sich die Augen an das rötliche Licht im Innern des kleinen Clubs. 150, vielleicht 200 junge Menschen drängen sich in einem niedrigen Kellerraum. Es ist 21 Uhr und alle warten. Der Laden heißt Hoodies, seine Wände sind weiß getüncht. Ein roher Ort, ohne Bar, ohne Deko, ohne große Technik. Wir sind in Kabul und hier schlägt der Puls des afghanischen Rockundergrounds.
Als Raby Adid, Sänger der Thrash-Metal-Band White Page endlich auf die Bühne steigt, setzt es Pfiffe und anheizendes Gegröle. Raby brüllt seinen Song „Disorder“ ins Mikrofon. Die Band knüppelt im Akkord, nicht anders als andere Thrash-Metal-Bands weltweit, ihre langen Haare peitschen den Musikern ins Gesicht, Headbanging ringsumher. Die Luft ist stickig von Zigarettenqualm und Schweiß. Vor der kleinen Bühne sich schüttelnde Körper, vornüber gebeugte Köpfe. Die Fäuste werden standesgemäß gereckt, zwei Finger voran – auch hier kennt man das „metal sign“. Von der Bühne ein erlösendes Growling zum Abschluss. Härteste Musik für ein noch härteres Leben. Kabul rockt im Verborgenen.
Auf dem von hohen Betonmauern umgebenen Innenhof der Kelleranlage stehen ein paar Jungs herum. Nur Eingeweihte kennen die genaue Adresse des Clubs. Konzerte werden per Flüsterpropaganda beworben. Zehn Jahre nach dem Einmarsch der internationalen Truppen ist die Sicherheitslage in der afghanischen Hauptstadt weiterhin katastrophal. Clubs und Bars wie das Hoodies sind das Feindbild der wiedererstarkten Taliban – und ideale Anschlagsziele. Ungezügelt, westlich, areligiös: Für die fanatischen Glaubenskrieger sind Kunst und Musik Teufelszeug, das es zu zerstören gilt. Die vier Musiker von White Page etwa werden als Satanisten angefeindet. Bei einer Probe mussten sie deswegen sogar vor der Polizei fliehen. Für Sänger Raby Adid steht fest: „Schuld an unserer Lage sind fehlende Aufklärung, reaktionäre Politiker und das Gedankengut der Taliban, das sich wieder in den Köpfen der Menschen breitmacht.“
Selbst für Mainstream-Musiker ist der Kampf um Anerkennung äußerst schwierig. In den Ohren konservativer Hardliner klingt auch ihre Musik wie Blasphemie, und das kann lebensbedrohlich für Bands und Fans werden. Die Jungs von White Page sind alles andere als Mainstream – obwohl sie alle am Afghanistan National Institute of Music (ANIM) studiert haben. Seit einem Jahr existiert die Band nun und spielt Thrash-Metal im Underground. „Man kann das afghanische Volk nicht zwingen, diese oder jene Musik zu hören“, sagt Lead-Gitarrist Hojat Hameed. „Die Afghanen sind immer Querköpfe gewesen, was uns bisweilen auch stolz gemacht hat. Doch immer wieder die gleichen seichten, abgesegneten Popsongs? Irgendwann ist auch mal gut.“
Obwohl die lokale Rockszene im vergangenen Jahrzehnt einige Fortschritte gemacht hat, bleibt kaum Platz für neue Musikstile und experimentelle Klänge. White Page sind gelangweilt von den eingefahrenen Strukturen. Innovationen gebe es kaum, berichten sie. Und wenn, kämen sie nur aus dem Ausland. Sogar junge Musiker würden immer wieder auf bewährte Songs setzen und diese neu vertonen, in der vagen Hoffnung auf kommerzielle Erfolge. „Die afghanische Musikszene ist durchseucht von Vetternwirtschaft. Auf diese Weise werden jedes Jahr untalentierte Popgruppen als Vertreter der afghanischen Rockszene zu Festivals in Indien entsandt, wo sie dann ausgepfiffen werden. Total peinlich“, erzählt Raby Adid.
Dabei ist die Lage von White Page ungleich besser als für viele andere Untergrund-Künstler. Sie können im ersten professionellen Rockmusik-Studio der Stadt üben, sie haben mit Humayun Zadran einen Manager und Sponsor. „Wir haben mit einem Plektron angefangen“, erinnert sich Drummer Reshad Afzali. „Bis wir mein Schlagzeug zusammen hatten, war es ein weiter Weg …“ Afzali hält inne, als lausche er dem Gesagten nach. Hojat Hameed nimmt den Faden auf. „Wir wollen weitermachen. Wir möchten leben. Wir lieben das Leben“, sagt der Gitarrist fast beiläufig. Alle lachen, als wollten sie seiner Äußerung das Gewicht nehmen. Die Musiker sind selbstbewusst, ihre Worte klar und unverblümt. Wenn sie reden, schwingt Bitterkeit mit, auch Wut über das afghanische Unvermögen. Aber auch über die Exil-Afghanen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. „Große Musiker, Entertainer und Künstler dieses Landes leben und arbeiten weltweit. Sie sind nicht bereit, ihr Wissen unserem Land weiterzugeben. Aber sie beschweren sich, wenn es hier keine Fortschritte gibt.“ White Page sagen, sie hätten sich bewusst zum Bleiben entschieden. „Unsere Musik ist wichtig für Afghanistan, vor allem für die Jugend“, erklärt ihr Bassist Rateb Ramisch. Nach drei Jahrzehnten Krieg und Zerstörung tue „die befreiende Seele des Rock“ einfach gut.
„Wir pokern mit unserem Leben und wissen nicht, was die Zukunft bringt“, sagt Hojat Hameed. „Wir wissen nicht mal, was uns der morgige Tag bringt oder die nächsten zehn Minuten“, ergänzt Rateb Ramisch und grinst schräg. „Vielleicht passiert der nächste Anschlag direkt nach dem Gespräch hier.“ Und wieder lachen sie.
Auch District Unknown sind an diesem Abend ins Hoodies gekommen. Die vier Mitglieder der dienstältesten Heavy-Metal-Band des Landes stehen rauchend an der frischen Nachtluft. Sie alle schlagen sich mit verschiedenen Jobs durch. „In Afghanistan kann niemand nur von seiner Kunst leben, schon gar nicht von unserer“, erklärt Drummer Pedram Foushanji. Er arbeitet als Ingenieur im Betrieb seines Vaters. Sein Bruder Qasem, Bassist und Sänger der Band, ist bildender Künstler. Inspiriert durch Heavy Metal visualisiert er in seinen Gemälden, Fotografien und Installationen die eher düsteren Aspekte des Lebens. Sein bisher größter Erfolg ist eine Mixed-Media-Installation auf der diesjährigen Documenta in Kassel. Die Brüder lebten lange Zeit im iranischen Exil. Nun bekommen sie als Rockmusiker die geballte Intoleranz vieler Afghanen zu spüren: „Wir werden in ein Doppelleben gedrängt. Man beschwert sich über unsere Kleidung, unsere langen Haare, unsere Musik. Dabei geht das niemanden etwas an“, erregt sich Qasem. „Das ist meine Privatsache. Wir haben und wollen keinen Ärger mit der Religion.“
Vor über drei Jahren begannen sie mit ihrer Musik, eine Art Frustventil. Als Vorbild diente ihnen die Nu-Metal-Band Slipknot, ihre großen Idole aus Amerika. Schnell entwickelte sich daraus eine professionelle Leidenschaft, die der in Kabul lebende australische Journalist und Musiker Travis Beard unterstützte. „Wir wollten und wollen nie kommerzielle Musik machen oder unbedingt bekannt werden“, erzählt Bassist Qasem. „Es gab einige Anfragen von afghanischen Medien, doch wir möchten nicht in den Fokus der heimischen Öffentlichkeit.“ Das hat mit ihrer unkommerziellen Grundhaltung zu tun – aber auch mit der Sorge um ihre Sicherheit. Düsterer Rocksound, grausig geschminkte Gesichter, zerschlissene Klamotten – für viele Afghanen sind das Zeichen von Unglaube oder Teufelsanbetung. „Auf unseren ersten Gigs maskierten wir uns, um nicht erkannt zu werden. Wir wollten kein Risiko eingehen, am nächsten Tag angegriffen zu werden“, berichtet Qasem. Erst als ihr Förderer und Mentor Travis Beard im vergangenen Jahr das „Sound Central Festival“ in Kabul organisierte und ihnen bewusst wurde, dass sie Teil einer wachsenden Szene sind, entschieden sich die Musiker, die Masken abzunehmen. Beim ersten Open-Air-Rockfestival Afghanistans waren schließlich zehn Bands vertreten. Für dieses Jahr haben sich bereits 26 Bands angekündigt. Nicht nur aus Afghanistan, auch aus anderen muslimischen Ländern mit der Endung „-stan“. Wie im vergangenen Jahr wird auch 2012 der genaue Termin aus Sicherheitsgründen erst kurz vorher bekanntgegeben.
Trotz der Fortschritte, die der Rockunderground nach dem Festival machen konnte, überwiegt Vorsicht. Auch bei Gitarrist Qais Shaghasi: „Nach all den Kämpfen sind viele Afghanen gleichgültig geworden. Es geht zwar voran, aber nur sehr, sehr langsam.“ Für Jugendliche gebe es in Afghanistan kaum Angebote, kaum Spaß, kaum Beteiligung. Nicht nur Kabuls Kreative schauen mit großer Angst auf das Jahr 2014, wenn der Abzug der ausländischen Truppen beginnt: „Was wird, wenn wieder schwarze Turbane und buschige Bärte das Land regieren und dich mitnehmen, nur weil du etwas gepflegter rumläufst?“
Mit der Eroberung Kabuls 1996 erließen die Islamisten zahllose Gesetze, mit denen sie das Leben der aufgeklärteren Bevölkerung in Kabul reglementierten. Rasierte Männer wurden drangsaliert, Frauen aus der Öffentlichkeit gedrängt, Kopfbedeckungen waren Pflicht. Auch heute noch sind die Rechte der afghanischen Frauen beschränkt. Nur wenige Mädchen können die Schule besuchen, ihre Teilhabe am öffentlichen Leben bleibt auf ein Minimum reduziert. „Zu unseren Gigs kommen natürlich viel mehr Männer, nur sehr wenige Mädchen“, bestätigt Qasem. „Sie würden gerne, aber sie fürchten sich.“ Für Frauen ist Rockmusik noch viel mehr eine Underground-Angelegenheit als für afghanische Männer. Immerhin: Pedram hat schon drei afghanischen Frauen Schlagzeugunterricht gegeben. „Eine von ihnen bemüht sich gerade, gemeinsam mit drei anderen Mädchen eine Punkrockband zu gründen.“
Die vorsichtig keimende Rockszene Afghanistans ist Teil des Wandels, der für das Land nach 30 Jahren Krieg, Zerstörung und Bevormundung bitter notwendig ist. Er muss von innen kommen und kann nicht von außen importiert werden, glaubt Pedram: „Der Prozess des kulturellen Austauschs wird noch einige Blessuren verursachen. Und bis wir uns wirklich in die Gegenwart gekämpft haben, werden wir noch zahlreiche schmerzhafte Störungen erleben. Die Älteren werden vor den Kopf gestoßen, die Jüngeren können sich auf dem Weg dahin selbst verlieren. Aber es gibt keine Alternative zum Jetzt.“
Immerhin: Einen Radiosender, der Rockmusik spielt, gibt es schon. Auf dem Weg dorthin geht es für uns allerdings nur stockend voran. Ein kühler Wind weht den vertrauten Duft von Holz, Benzin und würzigem Kabab durch das halb geöffnete Autofenster. Der schmelzende Schnee der letzten Monate hat die ungeteerten Straßen Kabuls in eine braune Schlammlandschaft verwandelt. Schlaglöcher haben sich zu kleinen Gruben ausgeweitet, in denen immer wieder Autos steckenbleiben. Schäbig gekleidete Händler werkeln in ihren kleinen Läden am Straßenrand, begleitet von Bollywood-Schmachtfetzen, die aus großen Boxen vor ihren Kabuffs tönen.
Wer Kabul aus früheren Tagen kennt, wundert sich über den Verfall der tristen Lehmbauten, die damals solide und stark erschienen. Zu lange dauert dieser Krieg nun schon. An einem der ungezählten Checkpoints kommt der Verkehr ganz zum Erliegen: Ein Militärkonvoi aus gepanzerten Fahrzeugen prescht durch die Straßen der noch immer umkämpften Hauptstadt. Schließlich erreichen wir Kart-e-Seh, einen Bezirk im Süden. War das Viertel in den 90er-Jahren, zu Zeiten der islamistischen Mudschahedin, noch stark umkämpft, steht es heute vor allem im Zeichen des zaghaften Aufbruchs. Einige Medienunternehmen, unter anderem einer der größten Fernsehsender des Landes, „Ariana TV“, sind dort angesiedelt, so wie auch das afghanische Parlament Shora-e-Milli. Hier befindet sich zudem das Gebäude der Killid Group, eines öffentlich-rechtlichen Medienverbundes und Trägers der ersten Rockfrequenz des Landes.
Verantwortlich für Planung und Moderation der Sendung „Kabul Rock Radio, FM 108“ sind die Mitglieder der Band Kabul Dreams, die im vergangenen Sommer durch eine subversive Aktion schlagartig bekannt wurden. Sie fand im relativ wohlhabenden Neustadt-Viertel Shar-e-Nau statt, einem wirtschaftlichen Zentrum der Stadt, in dem die Mieten hoch, und die zahlreichen Geschäfte, Restaurants und Hotels verhältnismäßig schick sind. Hier waren plötzlich rockige Klänge zu hören. Vor einem Supermarkt hatten sich drei Indie-Rocker zu einem unangekündigten Straßenkonzert eingefunden. Verdutzte, verwirrte, aber auch ein paar begeisterte Zuhörer wurden Zeugen dieses denkwürdigen und ungehörigen Auftritts der Band. Nachdem sich einige Hardliner standesgemäß über ihren Open-Air-Gig erregten, wurden die BBC und andere ausländische Medien aufmerksam.
Im Vergleich zu den anderen Rockbands Afghanistans halten sich Kabul Dreams zurück, wenn es um Politik und Repression geht. „Wir haben mit unserer Musik eigentlich keine größeren Probleme gehabt. Es gab natürlich die einen oder anderen, die uns nicht gut fanden, aber die sind auch gegen alle anderen Musikrichtungen“, meint der junge Sänger und Gitarrist Sulyman Qardash. „Für uns zählt, dass wir den kommenden Generationen das Recht erkämpfen, auswählen zu können, was sie hören wollen.“ Dennoch ist auch ihre Angst vor Anschlägen in Kabul groß. Wann immer sie auftreten, begleitet sie auch die Furcht. „Das Leben ist an jedem Tag ein Risiko. Du verlässt morgens das Haus und läufst vielleicht in einen Anschlag hinein.“ Während Qardash redet, lacht Schlagzeuger Mujtaba Habibi: „Vor allem Sulyman, der sich ständig in der Stadt rumtreibt – kaum schaut man weg, ist Sulyman schon verschwunden.“ Da ist er wieder, der schwarze afghanische Überlebenshumor. „Dieses Problem haben ja nicht nur wir, sondern alle Künstler“, relativiert Bassist Siddique Ahmad. Und verstummt. Die drei Musiker bleiben misstrauisch: „Ausländische Journalisten interessieren sich doch kaum für unsere Musik. Sie bringen uns mit ihren politischen Fragen in Schwierigkeiten. Wenn man mich als Privatperson politisch befragt, habe ich viel zu sagen, als Band jedoch möchten wir das nicht.“
Plötzlich bekommt Qardash eine Nachricht auf sein Smartphone: „Khaled Hosseini (der Autor des Bestsellerromans „Drachenläufer“, Anm. der Autorin) findet uns ‚inspiring‘ – hab ich grad über Twitter reinbekommen“, erzählt er lächelnd. Social Media wie Facebook oder Twitter ist für sie der Rahmen, in dem man sich austauschen kann, Gleichgesinnte findet. Konzerttermine geben sie diskret per SMS weiter. Um Risiken zu mindern, um keine Sittenwächter zu wecken. „Einfach ist es wirklich nicht“, räumt Habibi ein, „doch es gibt für uns kein Zurück mehr. Die Leute warten jeden Tag darauf, dass wir etwas Neues präsentieren. Wir sind zuversichtlich, dass wir was ändern können, zumindest für die nächste Generation.“ Derzeit arbeiten die Musiker mit dem Münchner Sponsoring-Unternehmen SellaBand zusammen, bei dem Fans die Möglichkeit haben, ihre Lieblingsbands zu unterstützen. Mit dieser Crowd-Funding-Aktion soll ein professionelles Album produziert und eine Tour durch Europa finanziert werden. Ob es noch weitere Rock-Bands in Kabul gebe, die sich für Veränderungen in Afghanistan einsetzen, frage ich zum Schluss. Drummer Mujtaba Habibi empfiehlt uns, Masoud Hassanzada zu treffen, einen guten Bekannten und Mitglied der Bluesrock-Band Morcha.
Wir besuchen ihn in seiner Wohnung am Ufer des Flusses Darya-e-Kabul. Über weite Strecken ist er nur noch ein Rinnsal, in dem sich der Unrat der Stadt sammelt. Morcha heißt Ameisen, ihr Lyriker und Gitarrist Masoud Hassanzada hat sich erst vor kurzer Zeit mit seinen Band-Kollegen in die neue Bleibe mit schalldichtem Proberaum einquartiert. Das Gebäude ist ein verlassener Rohbau, umgeben von Steinen und Schutt. Haschischgeruch weht über die Baustelle. Keiner weiß, wer sich um diese Uhrzeit in den dunklen Ecken des unfertigen Gebäudes aufhält.
Eigentlich sollte Morchas unspektakulärer Bluesrock eher wenig Aufsehen erregen. Ihre weichen, hippiesken Klänge erinnern eher an afghanische Folkmusik als an westliche Dekadenz. Doch wer ihre Texte versteht, weiß, warum die Band aus der Provinz Herat immer wieder beschuldigt und zensiert wurde. In ihrem Song „Headlines“ heißt es beispielsweise: „Geheime Gefängnisse in Kabul / Staatliche Korruption in Bamian / Erneut Lehrer geköpft / Angriff der Nato auf Hochzeitsgesellschaft / Aids, Amerika, Demokratie / Unser Jahrhundert ist ein feines Jahrhundert.“ Seit ihrer Gründung 2005 verpacken sie harsche Gesellschaftskritik in postmoderne Lyrik, vertonen diese in einer sehr eigenen Form von 70er-Jahre-Bluesrock-meets-afghan-Sounds – und ziehen damit den Zorn der Autoritäten auf sich.
„Wir alle sind Kinder der Taliban-Ära. Das einzig Positive an dieser Zeit war, dass sie uns in die Hinterräume verbannten, wo wir uns im Stillen weiterbildeten“, erzählt Masoud Hassanzada. „Wir flüchteten uns in eine Art Rebellendasein und dachten dabei an den Protagonisten dieses oder jenes russischen Romans, deren Helden ebenfalls rebellierten und dafür im Gefängnis saßen.“ Musik zu hören oder gar zu spielen war damals verboten, wie nahezu alles, was Freude bereitet.
Trotz der Widrigkeiten, Bedrohungen und Strafen thematisieren Morcha die Lebenswirklichkeit in Afghanistan. Hassanzada und seine Band-Kollegen Shafiq Najafi, Behrouz Shojaiy und ihr ehemaliger Leadsänger Shakib Mousadeq prangern Korruption, Wahlbetrug der Regierung Hamid Karzais und die unzähligen zivilen Opfer des Krieges an – nichts soll ausgelassen werden. „Vor unseren Konzerten kündigten wir schon so manches Mal an, keine Musik zu spielen, sondern aktuelle Nachrichten vorzutragen“, erzählt Masoud Hassanzada. Er ist ein ernster Mann, beinahe streng. “ Botschaften, wie wir sie verbreiten möchten, kommen im Rahmen normaler Popmusik einfach nicht an. Deshalb spielen wir einen Sound, der noch nicht so gängig und ausgelutscht ist.“
Unter den Taliban war der studierte Journalist und Musiker inhaftiert worden. Der Grund: der Besitz von Musikinstrumenten. Aber auch nach der Taliban-Herrschaft bleibt das Leben für Masoud Hassanzada und seine Bandkollegen gefährlich – obwohl Morcha mit dem 2007 veröffentlichten ersten Album „Minority Report“ bekannter wurden. Die CD schaffte es zwar auf die Verkaufsliste von iTunes, jedoch nicht in die afghanischen Medien: „Zwei Lieder davon wurden im Radio gespielt, danach nie wieder eins. Es ist interessant, dass gerade diese Regierung, die sich demokratisch nennt, uns versteckt zensiert.“ Das afghanische Kulturminis-terium habe damals alle Radiosender angewiesen, keine Morcha-Songs zu spielen. Ihr Sänger Shakib Mousadeq konnte die Repressalien nicht mehr aushalten und floh 2010 nach Deutschland.
Dennoch hat Hassanzada seine Liebe zur Musik nie bereut. Das Leben in Dissidenz hat die Gruppe zusammengeschweißt. „Ich kann mir nicht vorstellen, in einem anderen Land zu leben. Ich werde hier gebraucht. Wir möchten mit unserer Musik Aufmerksamkeit schaffen, daher gestalten wir unsere Texte so einfach, dass alle Bevölkerungsgruppen sie verstehen können.“ In Hassanzadas Stimme schwingt der Stolz über das bisher Geleistete mit. „Unsere größte Angst ist, dass alle paar Jahre eine reaktionäre Radikalisierung stattfindet. Erst vor wenigen Tagen forderte beispielsweise der Rat der Religionsgelehrten (Shora-e-Ulama) eine komplette Geschlechtertrennung im Bildungssystem. Zudem soll Frauen verboten werden, sich ohne männliche Begleitung zu bewegen.“ Jene Vorschläge, die an die Edikte der Taliban erinnern, werden sogar von Präsident Hamid Karzai begrüßt.
Zehn Jahre nach dem Einmarsch der ausländischen Truppen in Afghanistan zeigt die Rockszene, was die Interventionen für das Land gebracht haben. Eine eher traurige Bilanz. Hilfsgelder in Milliardenhöhe fließen in das zerklüftete Land, versiegen oft irgendwo. Korruption, Vetternwirtschaft und politische Kämpfe auf allen Ebenen wirken als Treibsand. Es sind Künstler wie Masoud Hassanzada, die dem Leben junger Menschen in Afghanistan Hoffnung geben, ohne damit das Land wirklich weiterbringen zu können. „Wir geben einen Großteil unseres Geldes, unserer Zeit, unserer Energie für die Rockmusik“, sagt er. „Wir geben das nicht nur für uns, sondern vor allem für dieses Land.“
Als wir Kabul verlassen, hat die Sonne die schlammigen Straßen nach nur wenigen Tagen trocknen lassen. Feiner Lehm- und Sandstaub wird von nun an bis zum Winter zur ständigen Plage. Aber die ist eine der geringeren Sorgen in Afghanistan.