JUNG UND FREI

Um ihn herum ist nur das Streichen der Blätter einer warmen Nacht im Schwarzwald zu hören. Die Glühwürmchen tanzen, als Joe mit einem Freund auf der Ladefläche eines 1970er-Vans die ersten Zauberpilze zu sich nimmt. Henry, der dritte, nimmt keine, er ist müde von der Reise. Sie sind schon lange unterwegs. Ein bisschen wie Zigeuner. Freewheeling durch Europa. Sie hatten viel über die Reformation gelesen, sie waren in Worms, in Augsburg, in Köln. Sie folgten dem Rhein. Irgendwann kommen sie im Schwarzwald an. Von Henry hört man nur noch ein Schnarchen. In dem Moment, in dem Joe die Affen bemerkt, ist er ganz auf sich allein gestellt. Sie kommen in Zehner-Geschwadern durch den Wald geflogen. Das knorrige Geäst der Bäume erzittert lautstark durch ihren Flug. Die Flugaffen haben Flügel auf dem Rücken, deren Federn an der Spitze rot sind. Sie tragen eine Pagen-Uniform. Ihr Geschrei ist so unheimlich, so kreatürlich beängstigend. „Joe, bist du wach?“, flüstert sein Freund. „Yeah. I’m fucking scared“, antwortet Joe.

Joes Vater hatte Krebs. Wie sein Vater wollte Joe Schauspieler werden. Mit 18 bewirbt er sich an der Royal Academy of Dramatic Art. RADA hat den Ruf, die größte, die wichtigste Akademie Großbritanniens zu sein. Joes Vater wurde dort ausgebildet. Es war sein Wunsch, dass Joe aufgenommen wird. Joe scheitert an der Aufnahmeprüfung. Für seinen Vater gibt es keine andere Schule als die RADA. Joe bekommt die Zusage zur Webber Douglas Academy of Dramatic Art -kurz bevor sein Vater stirbt. Die Webber Douglas ist auch in Ordnung, gibt ihm sein Vater noch zu verstehen. Kurz nachdem Eric Flynn am 4. März 2002 stirbt, macht sich Joe auf die Reise mit seinen beiden Freunden.

Inzwischen nennt sich Joe wieder Johnny. Er heißt auch eigentlich Johnny, nannte sich aber Joe, weil es schon einen Schauspieler mit dem Namen Johnny Flynn gab. Aus dem Schauspieler Joe Flynn wurde der Musiker Johnny Flynn. Aus dem vagabundierenden Jungen auf der Suche nach sich selbst ist ein junger Mann geworden. Mit Frau und Kind lebt er im Londoner Stadtteil Hackney in einem kleinen Backsteinhäuschen. Die Straßen sind eng, und bis auf ein riesiges Wohnhaus, auf dessen Balkonen hunderte Satellitenschüsseln, Teppiche und Turbane zu sehen sind, sieht es eigentlich ganz nett aus. Dieses Haus ist aber echt übel.

Hackney ist das Berlin-Neukölln Englands. Man hat so ein bisschen Angst, wenn man durch die Straßen geht, aber links und rechts sind die Organic-Coffee-Shops, in denen Frauen mit über den Brüsten tätowierten Pulp-Zitaten vegane Brownies verkaufen. Kein Witz, im Ausschnitt der Bedienung von einem dieser Läden steht wirklich „I want to sleep with common people“. Johnny will ins Campania, so ein italienisches Deli. Aber das hat zugemacht. 2008 betrug die Monatsmiete noch 16.500 Pfund, gerade kam die Erhöhung auf 20.000. Vor der Tür hängt noch ein Zeitungsartikel, in dem steht, dass Alex Turner von den Arctic Monkeys mit seiner It-Girl-Freundin Alexa Chung gerne hier aß. Ein paar Fernsehköche hätten auch eine Petition ins Leben gerufen, das Campania zu erhalten. Am Ende haben 600 Leute unterschrieben, und das Campania ist jetzt woanders.

Johnny trägt einen Bart, blondbraunrot ist der. Sein Gesicht ist etwas mitgenommen, so verschlafen fertig. Johnny zündet sich eine Selbstgedrehte an. Seine Fingernägel sind ganz sauber, und er riecht nach warmer, frisch gemangelter Baumwolle, wie aus einer anderen Zeit.

J ohnnys Mutter führte damals ein Buch. In den späten Sechzigern sang sie Folksongs und notierte die Akkorde mit den Texten. Joni Mitchells Songs standen darin, aber eben auch die frühen Dylan-Songs. Hunderte waren das. „Ich hatte ihn noch nie singen gehört, aber ich wusste, dass seine Songs groß waren. Ich habe sie ja nachgespielt.“ Mit elf stieß Johnny auf „The Freewheelin‘ Bob Dylan„.“Und auf einmal hörte ich seine Stimme. Alle meine Freunde hörten Blur oder Oasis, leichte Popmusik eben.“ Und Johnny wollte so sein wie Dylan. Er war beeindruckt, wie jung Dylan war, als er seine zweite Platte einspielte, wie groß seine Lyrik war.

„Country Mile“ heißt Flynns drittes Album, einen Soundtrack eingerechnet, ist es sogar das vierte. Und er klingt so amerikanisch weit und tief wie eine lange, ratternde Zugfahrt von der Ost-bis zur Westküste. Er singt seine „Gypsy Hymn“, glasklar und wärmend den Strahlen einer aufgehenden Sonne gleich. Und doch ist da auch immer Raureif, eine fröstelnde Melancholie, wie in „After Eliot“. „It sang Holly Golightly bright as the day/Fresh as the moon and stale as the hay/Cold as the window frozen with frost/You never been seen and you never been lost“, dazu spielt eine Slide-Gitarre, und man will jetzt eine große Tasse Tee trinken, um sich hinter den Butzenscheiben, durch dessen undichte Rahmen es stets zieht, zu wärmen.

Johnny spielt Gitarre, Trompete, Klavier, eigentlich fast jedes Instrument. Er bekommt zunächst für die Pilgrims‘ School ein Musik-Stipendium und anschließend eins für die Bedales School. Er geht mit Patrick Wolf in eine Klasse, spielt auf dessen erstem Album Geige. In einer Theatergruppe ist er Regisseur und castet den drei Jahre jüngeren Luke Pritchard für ein Stück. Pritchard wird später der Sänger von The Kooks und durfte nicht mehr in die Theater-AG. „Eine der Regeln war, wenn du betrunken warst, dann musstest du ein Wochenende zu Hause bleiben und dich stündlich melden. Wenn du aber betrunken warst und kotzen musstest, dann wurdest du suspendiert.“ Pritchard wurde suspendiert. Bedales ist eine der ganz elitären Schulen: Über 10.000 Pfund kostet dort ein Trimester. Eine Menge Geld. In England denken manche, Johnny sei ein privilegiertes Kind gewesen. „Mein Vater war zwar Schauspieler, aber er hatte meistens keine Arbeit, als ich ein Kind war. Wir hatten gar kein Geld. Wir waren arm. Und trotzdem musste ich immer lesen, ich sei ein Posh-Kid.“ Er weiß, wie viel Glück er hatte, diese Art von Bildung zu genießen.

Pilgrims‘, das ist wie in „Harry Potter“. Sie haben dort einzelne Häuser, in die die Schüler gehen. Saxons, Normans, Monks, Wrens und Romans. Johnny war Normanne. Und sie traten im Fußball gegeneinander an. Sie sangen im Kirchenchor die Stücke von Orlando Gibbons und Thomas Tallis. „Englische Chormusik ist die erlesenste Musik der Welt“, sagt Johnny. Aus Richtung Süden jaulen die Sirenen. Wahrscheinlich Brick Lane. Wahrscheinlich Gangs aus Bangladesch, meint Johnny. Aber wer weiß das schon.

In Bedales lernt er den Lehrer Aleister kennen. Das Bedales ist eine liberale Schule, die Lehrer sprechen die Schüler beim Vornamen an. Zwar ist es eine Privatschule, aber jeder darf anziehen, was er mag. Aleister unterrichtete Johnny in Englischer Literatur. „Ich zeigte ihm ein Gedicht von mir, und das schönste Kompliment von allen war, dass er meinte, ich solle mal T.S. Eliot lesen“, erinnert sich Johnny auf der kleinen Bank im Park Ecke Elwin Street/Barnet Grove. Laura Marling wohnt nicht weit von hier. Sie singt auf Johnnys zweitem Album. Die Jungs von Mumford & Sons sind auch aus der Gegend. Mit ihnen geht es bald auf Tour in Amerika. 15.000 Zuschauer hat Johnny Flynn dann jeden Abend. Er lacht. Das sind mehr an einem Abend, als manche Bands in ihrem ganzen Leben sehen werden. Auf dem Fahrrad fährt Johnnys Frau vorbei. Ihr dunkles Haar weht im Wind. Aleister wohnte neben der Schule. Abends durfte Johnny mit ihm und seiner Familie zu Abend essen. Sie tranken Wein, redeten über Philosophie, diskutierten bis in die Nacht. Ab und an treffen sie sich noch.

Es ist fast ein kleines Wunder, dass Johnny noch Musik macht, noch überhaupt die Lust und Kraft aufbringt, Stücke zu schreiben. Man kann so schnell untergehen zwischen Managern und Industrie. Als er sich 2006/07 nach der Schauspielschule, nach ersten Filmengagements und Theaterproduktionen entschließt, Musiker zu werden, entdeckt ihn bald Universal. Er unterschreibt einen Fünf-Platten-Vertrag. 100.000 Pfund gibt es im Voraus. Es war der letzte Plattenvertrag dieser Größenordnung, den Universal England für ein Debüt ausgab, meint Johnny. „A Larum“ läuft gut. Die Platte mit dem Shakespeare-Titel wird von den Musikmagazinen in England als ein großartiger Erstling gefeiert. Flynn ist damals 24. Das letzte Razorlight-Album erscheint im Sommer, steigt auf Platz eins. „Warum macht Johnny Flynn keine Lovesongs? Warum hast du keinen Radio-Hit?“, fragt ihn die Plattenfirma. Sie stellten ihm ein Ultimatum. Noch mal 5.000 Pfund für die Demo eines neuen Albums. „Wenn du Pop-Hits ablieferst -geil. Wenn nicht, bist du gefeuert.“ Johnny nimmt das Geld, teilt es mit seinen Freunden aus der Band. Die Amerika-Tour ist schon gebucht. Sie wollen spielen. Sie geben halbfertige Songs ab. Die Tour wird zum finanziellen Desaster. Ohne die weitere Unterstützung des Plattenlabels machen sie 70.000 Pfund Schulden. „We were fucked!“

Die zweite Platte erscheint 2010. Zur gleichen Zeit bekommt Johnny mit seiner Frau einen Sohn. Er nimmt wieder Rollenangebote an, um sein Leben zu finanzieren. Auf den Bildern von damals sieht er noch aus wie ein Posterboy des Folk. Aber inzwischen ist er ein Mann geworden. Die Labelstreitigkeiten, die Verantwortung als Vater und Ehemann haben ihnen wachsen lassen. „Country Mile“ nimmt er zusammen mit seinem Freund Adam Beach auf der ganzen Welt auf.

„Country Mile“ ist ein vielschichtiges Geschenk. Jeder Song ist in ein anderes Papier aus alten Zeiten gepackt, und man findet so viele Verweise, dass man gar nicht weiß, wohin mit all den Gedanken, den Erinnerungsfetzen, den Assoziationen. „Fol-De-Rol“ heißt eines der Stücke. Folderol bedeutet Schnickschnack, Larifari, Kokolores. Flynn fand es in einer 1950er-Ausgabe des „Brewer’s Dictionary Of Phrase And Fable“. Bei „Gypsy Hymn“ muss man an Leonard Cohen denken. Und doch schwebt Dylan über allem. „The Lady Is Risen“ – die Orgel, sie klingt wie bei The Band damals. Obwohl Flynn inzwischen in einem Haus wohnt, obwohl er so angenehm gesetzt ist, zieht es ihn wieder nach draußen. Die anstehende Tour -er freut sich wie ein Junge, für den es nichts Größeres gibt, als sich nachts aus dem Schulgebäude zu schleichen, fünf Dosen Cider mitzunehmen, sie mit den besten Freunden auf dem nahe gelegenen Feld zu trinken und den Lehrer auszutricksen.

Wirklich, das Wort, das ihn am besten beschreibt, ist freewheelin‘. Die Affen aus dem Schwarzwald waren am nächsten Morgen verschwunden. Der Bus trug die Reisegruppe bis nach Frankreich. Sie lebten zwei Wochen bei Schaustellern. „Wir waren Reisende, wir waren jung, wir saßen am Feuer und waren frei.“

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