Jugend ohne Pop: eine melancholische Vision
Ist Pop nicht entsetzlich fad geworden? Muss Musik denn überhaupt "relevant sein" – reichen Charakter und Persönlichkeit nicht aus …
Eric Pfeils Pop-Tagebuch, Folge 11
Falls Sie zu den Menschen zählen, die beim Lesen dieser Kolumne üblicherweise mit Konfetti im Haar und übergestülpter Pappnase die Champagnerkorken knallen lassen: Das wird heute nichts. Ihr Autor ist nämlich arg melancholisch unterwegs. Warum? Ach, weil die Sache mit der Popmusik doch wirklich entsetzlich fad geworden ist.
Television führen „Marquee Moon“ in Komplettlänge auf, die großen Rockstars bedürfen alle längst der geriatrischen Betreuung, kalifornische Jung-Zausel spielen Sixties-Musik und klingen originalgetreuer als die Originale, und während sie diese Zeilen lesen, bläst eine weitere hochobskure Indie-Band, die sich vor Ewigkeiten aufgelöst hat, zur Wiedervereinigung. Doch es ist alles noch viel schlimmer: Längst wird über jeden, der auch nur halbwegs in der Lage ist, ein Instrument zu bedienen, eine Doku gedreht. Und noch schlimmer: Inzwischen schreiben Menschen Bücher über all diese Probleme oder zumindest melancholische Pop-Tagebuch-Einträge. Auch, wenn es manche noch nicht mitbekommen haben sollten: Es sieht tatsächlich so aus, als wäre die große Zeit der Popmusik als relevante Kunstform endgültig vorbei.
„Kulturpessimistischer Schrat!“, höre ich da manch eine Leserin zetern. „Blöder Pfeil“, rufen andere, „hat weder HipHop, noch Techno mitgemacht, will aber eine neue Jugendbewegung, oder wie haben wir das?“. Nun, was solche Anfechtungen angeht, sehen Sie mich gelassen. Ich muss nämlich gestehen, dass die oben eingenommene Pose in Wahrheit gar nicht die meine ist. Denn mal ehrlich: Wäre es wirklich so schlimm, wenn nichts, aber auch gar nichts Aufregendes oder – nicht auszudenken – Neues in der Popmusik mehr passierte? Es ist doch schon soviel passiert: Rock’n’Roll, die British Invasion, Psychedelia, Soul, Funk, Kraut, Glam, Bowie, Punk, Wave, Industrial, Madonna, Indie, Riot-Grrrl-Bands, Rave, sexistischer HipHop, Hippie-HipHop, Dub Step und die Gay Bikers on Acid: Was soll die arme Tante Pop denn noch alles mitmachen? Womöglich ist Pop, wie es ein Freund mal formulierte, einfach so etwas wie Kirchendeckenmalerei: Hatte mal eine Glanzzeit, ist aber inzwischen vorbei, schön bleibt’s trotzdem.
Vorschlag: Belassen wir es doch einfach mal beim Musikhören. Früher sollte Musik eigentlich nur glücklich machen, dann kam der ganze Unfug mit der Rebellion und der Jugendkultur dazwischen. Um die kommt man vermutlich nicht ganz herum, das sehe ich wohl ein, aber womöglich funktionieren Jugendkultur und Rebellion ja auch ohne Popmusik. Man könnte es ja mal ausprobieren. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin froh, dass mein verhaltenes gesellschaftliches Aufmucken noch zu den Klängen von seltsam zusammengekramter Musik stattfinden konnte. Aber könnte es nicht sein, dass die große Chance der knospenden Jugend darin besteht, sich als Katalysator etwas Neues suchen zu müssen anstatt weiter auf dürre Elektroheinis oder lärmende Gitarrenburschen zu setzen?
Aber ich habe gut reden. Ich bin ein alter Mann, ich höre ohnehin nur noch Musik von früher. Und noch nicht mal die nach Mehrheitsmeinung relevanteste. Vielleicht habe ich deswegen in den letzten Jahren den gerade verstorbenen J.J. Cale so gemocht: Nichts an der wunderbaren Musik auf seinen ersten vier, fünf Platten war je gefährdet, aufregend oder irgendwie „relevant“ zu sein, aber jede hingeworfene Note, jedes gemurmelte Wort dieser müden Musik platzt schier vor Charakter und Persönlichkeit. Wenn ich’s recht bedenke: Mich hat „eigen“ ohnehin immer mehr interessiert als „wichtig“.
Ansonsten warte ich jetzt nur noch auf das große Blödelbarden-Revival. Alles andere hatten wir schon. Als ich ein Kind war, konnte man den Typen kaum entkommen: Männer wie Mike Krüger, die Gebrüder Blattschuss oder der große Frank Zander („Ich könnte Frau’n klau’n“!) veröffentlichten Platte um Platte und hatten veritable Hits. Irgendwann in den Neunzigern war Schluss damit. Meine Theorie: Deutschsprachiger HipHop hat den Blödelbarden ihr Alleinstellungsmerkmal genommen und sie somit obsolet gemacht. Nun aber steht der Veröffentlichung von Frank-Zander-Boxen und werkumspannenden Dokumentationen nichts mehr im Weg. Falls das aber nichts werden sollte, sitze ich einfach weiter bei einem Glas Limonade auf der Veranda und höre J.J. Cale.