Joni Mitchell im RS-Interview: Leben im Director’s Cut
In einem ihrer seltenen Interviews sprach Joni Mitchell 2015 mit dem deutschen ROLLING STONE über Liebe, Lieder, Leben – und Ballett.
Die Anfänge von Joni Mitchells Karriere
Im Herbst 1967 lernte Mitchell David Crosby kennen, der gerade bei den Byrds rausgeflogen war und sich entflammt der Aufgabe widmete, die Karriere dieser Künstlerin voranzutreiben. Er bot ihr an, ihre erste Platte zu produzieren. Sie zog mit ihm nach Los Angeles und unterschrieb 1968 bei Reprise einen Plattenvertrag, der ihr völlige künstlerische Freiheit gewährte. Im März erschien ihr Debüt, „Song To A Seagull“. Ein Jahr später folgte „Clouds“ mit „Both Sides, Now“ und „Chelsea Morning“ – dem Chelsea Clinton der Sage nach ihren Vornamen verdankt.
Die Kritik war begeistert. Mitchell, inzwischen mit Crosbys Kumpel Graham Nash liiert, lebte im von Künstlern bevölkerten Laurel Canyon, und kein Jahr später erschien ihr drittes Album, „Ladies Of The Canyon“. Darauf waren die Hits „Big Yellow Taxi“ und „Woodstock“. Joni Mitchell bekam zum ersten Mal Platin, und das Business begann ernsthaft auf sie zu setzen.
Im Sommer 1969 war Mitchell eingeladen worden, 170 Kilometer nordwestlich von New York bei einem Festival namens Woodstock aufzutreten. Ihr Promotor, David Geffen, riet ihr jedoch, in der Stadt zu bleiben. Er hatte ihr für den nächsten Tag einen Auftritt in der quotenstarken „Dick Cavett Show“ organisiert und befürchtete, dass sie auf der Rückfahrt im Verkehr stecken bleiben würde. So verfolgte Joni Mitchell das wichtigste Wochenende der Hippiegeschichte am Fernseher und schrieb dabei die legendären Zeilen „We are stardust/ We are golden/ (…)/ And we’ve got to get ourselves back to the garden.“
Kein einziges Stück von ihren ersten drei Alben hat Joni Mitchell für ihr Libretto ausgewählt. Die „bizarre Verehrung“, die sie in diesen Jahren plötzlich erfuhr, ist für sie zwiespältig geblieben. „Die Leute wussten doch gar nicht, wem sie da huldigten“, sagte sie einmal. Einer Künstlerin nämlich, die sich im Widerspruch zwischen Liebesglück und Unabhängigkeit zerfleischte.
1970 türmte sie nach Europa und kiffte in der Hippiekolonie Matala auf Kreta ein paar Wochen lang mit amerikanischen Kriegsdienstverweigerern, die sich dort in prähistorischen Wohnhöhlen einquartiert hatten. Im Gepäck hatte sie die neue Dulcimer, die zu ihrem Markenzeichen werden sollte. Per Telegramm beendete sie von unterwegs aus die Beziehung zu Graham Nash zugunsten ihrer Freiheit und begann nach ihrer Rückkehr eine mit James Taylor, den sie im Jahr zuvor bei einem Songwriter-Workshop auf dem Newport Folk Festival kennengelernt hatte. Aber der machte Schluss. In der emotionalen Wirrnis dieser Zeit nahm Joni Mitchell das Album auf, das sie zur Göttin machte: „Blue“, erschienen im Juni 1971, ist von so roher Emotionalität, dass Kris Kristofferson beim ersten Anhören im Kollegenkreis gesagt haben soll: „Mein Gott, Joni, du musst auch etwas für dich selbst aufheben.“
Das Titelstück steckt im zweiten Akt von Joni Mitchells Ballettmusik wie ein vibrierender Fremdkörper im Polster der wesentlich flauschiger produzierten Tracks aus den 80er- und 90er-Jahren. Auf ästhetische Diskussionen darüber lässt Mitchell sich nicht ein. „Das Libretto erzählt davon, wie man in verschiedenen Phasen seines Lebens liebt und wie schwierig das ist“, erklärt sie. Dieser Akt trägt den Titel „The Light Is Hard To Find“. Darin setzt sie den Selbstmord aus „Trouble Child“, den Hassprediger aus „Tax Free“ und den Serienmörder aus „The Wolf That Lives In Lindsey“ hintereinander.
„Blue“ und die Geburt von Joni Mitchells Tochter
Jetzt, da ihr Liebesleben geordnet sei, könne sie sich endlich mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen, hatte sie in einem Interview gesagt, nachdem sie 1982 den Bassisten Larry Klein geheiratet hatte. Kritiker begründeten die nie wieder erreichte Intensität von „Blue“ später mit einem Geheimnis, das Mitchell erst Jahrzehnte später lüftete: Im Frühjahr 1964 war sie von ihrem Kommilitonen Brad McMath schwanger geworden. Noch vor der Geburt setzte er sich ab. Am 19. Februar 1965 gebar sie in Toronto ein Mädchen, was sie ihren sittenstrengen Eltern verheimlichte.
Wenige Wochen später tat sie sich mit dem amerikanischen Folksänger Chuck Mitchell zusammen, der sie heiraten wollte. In den ersten Wochen besuchten sie Jonis Tochter regelmäßig im Kinderheim. Nach der Hochzeit wollte Chuck Mitchell dann doch nicht das Kind eines anderen aufziehen. Schließlich gab Joni ihre Tochter zur Adoption frei und zog mit Chuck nach Detroit, wo sie als Duo jeden Abend spielten und in der lokalen Szene langsam bekannt wurden. Chuck Mitchell entpuppte sich dabei als mäßig begabter Künstler und als unbegabter Mann: Er ertrug es nicht, dass seine Frau talentierter und entschlossener war als er. Als er sie zu schlagen begann, verließ sie ihn und ging nach New York. Was sie mitnahm, waren der Name und die Arbeitserlaubnis für die USA.
Bereits für „Court And Spark“ hatte Mitchell sich 1974 die Jazzrockband L.A. Express ins Studio geholt. Für „Hejira“ spielte sie zwei Jahre später mit dem Jazz-Bassisten Jaco Pastorius. 1977 befreite sie sich mit „Don Juan’s Reckless Daughter“ ganz von der Folkvergangenheit. Für das Cov-er ließ sie sich in der „Shaft“-artigen Maskerade ihres schwarzen Alter Egos, „Art Nouveau“, fotografieren. Die Fans waren irritiert, und die Kritik war entgeistert. Aber der bereits an ALS erkrankte Charles Mingus lud sie ein, mit ihm zu arbeiten. Ihr zum Teil gemeinsames Album, „Mingus“, das 1979 kurz nach seinem Tod erschien, kostete sie noch mehr ihrer Getreuen.
Die Achtziger waren keine gute Zeit für Joni Mitchell. „Damals schlug der reine Materialismus zu, Madonna – ,gib mir dies, gib mir das, gib mir Kleider, gib mir Autos‘. Seither bauen sie hier überall diese riesigen Protzhäuser. Darin wohnen dann unglückliche Menschen, die über Marmorböden klappern“, sagt sie über ihre Nachbarn. Seit 1974 lebt sie im Reichenviertel von Los Angeles. Die Stadt, einst ein Paradies der Gegenkultur, hat sich für sie zur „Welthauptstadt der schlechten Facelifts“ gewandelt. Sie nimmt der Welt die Veränderung übel. Auch ihr wurde schließlich Wandel immer übel genommen.
1993 verriet eine ehemalige Zimmergenossin von der Kunstakademie der Presse das Geheimnis um Joni Andersons Schwangerschaft. Daraufhin machte Mitchell sich auf die Suche und fand ihre Tochter, Kilauren Gibb, die inzwischen selbst Mutter war. Es folgten ein paar Jahre in der Rolle der stolzen Matriarchin. Doch 2001 zerbrach die Beziehung wieder – nicht die einzige, die in die Brüche ging.
„Travelogue“, das 2002 erschien, sei ihr letztes Album, ließ sie verlauten. Sie verlasse nun die „Jauchegrube“ der Musikindustrie. Für das Doppelalbum hatte sie 22 alte Stücke neu interpretiert. Ihre Singstimme war seit den Neunzigern ständig tiefer geworden und hatte inzwischen ein lebenswarmes, brüchiges Jazztimbre. „Rauchen ist eines der größten Vergnügen, die das Leben zu bieten hat“, sagt sie gern. Sie rauche seit ihrem neunten Lebensjahr – und mit ihrer Stimme habe das gar nichts zu tun.
Auf „Love Has Many Faces“ hat sie sich tatsächlich öfter für Interpretationen aus jüngerer Zeit entschieden. So etwa im Fall von „The Last Time I Saw Richard“, ursprünglich auf „Blue“, die auf den glockenhellen Vortrag der Originalversion von „A Case Of You“ vom selben Album folgt. „Es wird ein paar Deppen dazu einladen, unfaire Vergleiche anzustellen“, so Mitchell. „Es stimmt, in der älteren Version von ,A Case Of You‘ war meine Stimme makellos und ich konnte die Töne tagelang halten. In der späteren Version von ,Richard‘ habe ich meine Soprantöne verloren. Aber das sind für mich keine Kategorien. Der Vortrag des Textes war besser. Und darum geht es hier!“
In ihrem Universum ist Joni Mitchell immer noch die alleinige Herrscherin.
Dieser Text ist ein Artikel aus dem ROLLING-STONE-Archiv (2015)
Weitere Highlights
- So klingen die größten Schlagzeuger ohne ihre Band
- Welches Equipment verwenden eigentlich…Pink Floyd?
- Musikalische Orgasmen: 6 Songs voller Höhepunkte
- Studio-Magier: Die 8 besten Musikproduzenten
- So arbeiteten die Beatles am „Weeping Sound“ für das White Album