Joni Mitchell im RS-Interview: Leben im Director’s Cut

In einem ihrer seltenen Interviews sprach Joni Mitchell 2015 mit dem deutschen ROLLING STONE über Liebe, Lieder, Leben – und Ballett.

Das Universum der Joni Mitchell hat viele Eingänge. Am Haupteingang stehen die Fans der ersten Stunde, die sie zwischen ihrem Debüt 1968 und ihrem Meisterwerk „Blue“ von 1971 entdeckten. Den Nebeneingang nahm, wer Joni später über einen Hinweis in einer Musikerbiografie, über ein zufällig empfohlenes Video auf YouTube, in einem Konzertmitschnitt im Spätprogramm entdeckte. Und dann gibt es noch die, die Joni Mitchell 2003 nach „Tatsächlich … Liebe“ googelten. Eines haben alle gemeinsam: Sie sahen die junge Joni und gerieten in ihren Bann. Dieses Wesen sprach wie eine Schülerin und sang mit einer Autorität, die einem den Atem stocken ließ. Sie stand etwas linkisch am Mikrofon, aber wenn sie die Saiten spielte, erkannte man, dass sie Dinge wusste, die man selbst nur ahnte.

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Vor allem aber sang sie Worte, die die eigenen vagen Gefühle plötzlich verständlich machten und doch nur von ihr selbst zu handeln schienen. Nach einem solchen Erweckungserlebnis bleibt man für immer an ihr interessiert, auch wenn das nicht immer leicht ist. Nicht jedes ihrer rund 20 Alben ist brillant, nicht jeder Song bewegend, nicht jede musikalische Wandlung so spannend wie ihre Hinwendung zum Jazz in den 70er-Jahren. In den Nullerjahren war aus der Elfe mit der exotischen Dulcimer-Zither zudem eine immer noch schöne, aber inzwischen recht verbitterte ältere Dame geworden. Mit 71 veröffentlicht Joni Mitchell nun eine Box mit vier CDs, in der sie Stücke aus 40 Jahren neu geordnet hat – und zwar ziemlich sicher nicht die Stücke, die Fans für eine solche Sammlung ausgewählt hätten. „Love Has Many Faces“, Untertitel: „A Quartet, A Ballet, Waiting To Be Danced“, heißt diese Sammlung. Ein Ballett in vier Akten, das noch seiner Aufführung harrt. Joni Mitchell richtet gern mit der großen Kelle an.

Joni Mitchell: „Meine Songs sind sehr visuell“

„Ich bin eine Malerin, die Lieder schreibt“, erklärt sie im ausführlichen Begleittext zu der Box, die von ihrer Plattenfirma etwas pompös als „novelette“ angepriesen wird. „Meine Songs sind sehr visuell. Die Wörter erschaffen Szenen – in Cafés und Bars – in düsteren kleinen Zimmern – an vom Mond beschienenen Ufern – in Küchen – in Krankenhäusern und auf Rummelplätzen. Sie ereignen sich in Fahrzeugen – Flugzeugen und Zügen und Autos.“

Von außen betrachtet ist die Mitchell natürlich eher eine Songwriterin, die mittlerweile fast nur noch malt, als eine Malerin, die Songs schreibt. Die Wände ihres Hauses in Bel Air sind mit eigenen Werken vollgehängt. Öffentliche Auftritte sind selten geworden. „In den vergangenen Jahren war ich ein totaler couch potato. Ich habe einen Sekretärinnenhintern bekommen und muss etwas für meine Taille tun“, sagt sie. „Aber es macht mir immer noch Spaß, mich hin und wieder aufzubrezeln und unter die Leute zu gehen.“ Erst kürzlich ließ sie sich „aufgebrezelt“ von Hedi Slimane für das „Music Project“ des Modehauses Saint Laurent fotografieren.

Joni Mitchell im Hammer Museum, 2014

Im April vor fünf Jahren hatte Mitchell der „Los Angeles Times“ jenes berühmt-berüchtigte Interview gegeben, in dem sie bekannt gab, dass sie an der Morgellon-Krankheit leidet. Dieses umstrittene Syndrom tauchte um die Jahrtausendwende in Kalifornien auf. Die Betroffenen geben an, dass unter ihrer Haut Nanopartikel und Parasiten herumkriechen. Außerdem werden sie von nässenden Wunden gequält, und ihre Haut soll unerklärliche bunte Fasern produzieren.

Die US-Seuchenbehörde kam zu dem Ergebnis, dass es sich um eine psychische Störung handelt, die vor allem ältere Frauen betrifft, etwa die Hälfte von ihnen ist medikamentenabhängig. Im selben Gespräch erklärte Joni Mitchell dann auch noch den alten Weggefährten Bob Dylan zum „Plagiator“ und kündigte an, sich nun völlig aus dem Musikgeschäft zurückzuziehen und sich den Morgellon-Opfern zu widmen.

Sie muss einen sehr schlechten Tag gehabt haben. Fragen zu beiden Themen verbittet sie sich seither. Dylan solle man am besten überhaupt nicht erwähnen, schreibt die Plattenfirma vor dem Interview. David Crosby auch nicht.

Joni Mitchell und die Künstler, die sie respektiert

Dafür bekommt man eine Liste von Künstlern, die Mitchell respektiert: Jaco Pastorius, Herbie Hancock, Miles Davis, Wayne Shorter, Duke Ellington. Zudem wird man angehalten, die bereits erwähnten Liner Notes zu lesen und sie sich einzuprägen – „this is very important to Joni and she will ask you about it“.

Mitchell schreibt dort unter anderem auch, dass „Love Has Many Faces“ „wie ein Phönix aus der Asche zweier toter Projekte“ entstanden sei. Das erste war nicht ihre Idee: eine Doppel-CD mit bisher unveröffentlichten Stücken oder, wie Mitchell wettert: „verworfenen und beschädigten Arbeiten“ – „sie haben einen Dieb beauftragt, in mein Archiv einzubrechen“.

Mitchell stoppte das Projekt und machte sich stattdessen an die Arbeit an einem anderen: einer Sammlung von Liedern, die als Libretto für ein Ballett zum Thema Liebe funktionieren sollten. Doch Mitchell tat sich schwer, ihren großen Songkatalog auf eine kurze, tanzbare Stunde herunterzukochen. Die Ballettpremiere war für Februar 2014 geplant. Aber Joni Mitchell war es in eineinhalb Jahren nicht gelungen, die Musik für einen Ballettabend zu destillieren.

„75 Minuten reichen einfach nicht, um eine musikalische Erzählung zu entwickeln“, sagt sie. „Es wäre bloß ein Best-of geworden. Das hätte ich nicht mit Stolz präsentieren können.“ Kurzerhand sagte sie das ganze Projekt ab, und das Geld für bereits verkaufte Tickets musste zurückerstattet werden. Das Ensemble war verärgert und viel Geld ging verloren. Nur der Choreograf Jean Grand-Maître, künstlerischer Leiter des Alberta Ballet, stand die Krise mit ihr durch. Der Kanadier, eine Generation jünger als Mitchell, teilt ihren kämpferischen Geist.

Joni MItchell, 1972

2004 hatte er eine Produktion mit dem Titel „Dancing Joni“ geplant und besuchte Mitchell, um ihre Erlaubnis dafür einzuholen. „Damals bereitete ich gerade eine Kunstausstellung mit 64 Triptychons vor. Da waren die ganzen Kriegstreiber vertreten: Stalin, Hitler … und Bush. Es war dessen zweite Amtszeit, und ich war wirklich zornig. Ich hatte ein Miniaturmodell der Ausstellung auf meinem Billardtisch aufgebaut. ‚Wie findest du meine Idee?‘, wollte Jean wissen, und ich sagte: ‚Ich finde sie ein bisschen schlaff, gemessen an der Zeit, in der wir leben.‘ Er schaute sich meine Bilder an und meinte, ich solle ein Ballett für ihn schreiben. ‚Klar schreibe ich dir ein Kriegsballett‘, sagte ich. ‚Aber es wird eines meiner am wenigsten populären Werke werden, und du wirst damit Texas Oil als Hauptsponsor verlieren.‘ Ich zählte ihm nacheinander alle Probleme auf, die auf uns zukommen würden. Und dann fragte ich ihn: ‚Bist du bereit, dieses Risiko auf dich zu nehmen?‘ Und er schaute mich nur an und sagte: ,Aber ja!‘“

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Mitchell hatte einen neuen Verbündeten gefunden. 2007 erschien, für die Öffentlichkeit unerwartet, auf dem Label der Kaffeehauskette Starbucks ihr neues Album „Shine“, im selben Jahr hatte das gemeinsame Ballett „Joni Mitchell’s The Fiddle And The Drum“ Premiere. Als Mitchell von Grand-Maître die neue Zusammenarbeit angetragen bekam, fühlte sie sich gerade sehr krank. Sie hatte Krämpfe, die ihre Beine wie einst bei der Polio lähmten, und konnte oft nur noch kriechen. „Es war eine schreckliche Zeit“, sagt sie. „Aber ich wollte trotzdem kreativ bleiben.“ Die Ballettsache, habe sie gedacht, könne sie „von zu Hause aus machen“. Es sei dann schiefgegangen, aber sie habe trotzdem weiter Lied um Lied, Szene um Szene herausgesucht. Einfach um weiter schöpferisch arbeiten zu können. „Ich wollte nicht alles zusammenbrechen lassen. Das wäre so deprimierend gewesen.“

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Deprimierend ist „Love Has Many Faces“ nicht. Vielmehr schillert das sehr persönliche Extrakt in unerwarteten Facetten: Die Auswahl lädt sehr nachdrücklich noch einmal dazu ein, Joni Mitchells Weiterentwicklung, auch die wenig geliebten Jahre, zu würdigen. Den Irrungen und Wirrungen zu lauschen und den Worten und Akkorden, die sie über die Jahrzehnte für die Liebe fand, ist im Gegenteil ein ziemlich spannender Trip. Wer wäre schließlich ein besserer Chronist der romantischen Liebe als Mitchell?

Liebe und Liebschaften

Schon 1971 hatte der amerikanische ROLLING STONE eine spöttische Illustration gedruckt, die sie als „Freundin des Jahres“ bezeichnete – und, in einem Wortspiel, das auf ihren damals neuen Wohnort, Los Angeles, und das englische Wort für „flachlegen“ anspielte: „Queen of El-Lay“. Mitchell hatte in ihrem Leben mehrere Ehemänner, zahlreiche Gefährten und unzählige Liebhaber. Weil sich die junge Musikerin Mitte der 60er-Jahre im Zentrum des Folk-Rock-Zirkus der USA bewegte, waren die bekanntesten Songschreiber der Zeit unter den Gefährten: Neil Young, Leonard Cohen, David Crosby, Graham Nash.

Neil Young, CSN und Joni Mitchell im Wembley 1974

James Taylor behandelte sie roh, und als Jackson Browne sie verließ, wollte sie sich umbringen. Über ihr Liebesleben wachten von Anfang an nicht nur die Fans, sondern auch die Journalisten mit eifersüchtiger Pedanterie und der Frage, von wem welches Stück handelt. Auf „Love Has Many Faces“ ist allerdings fast keines dieser Liebeslieder enthalten. Denn die Box ist kein Oldie-Festival, sondern ein Ballettlibretto, das von ihrer Epoche erzählt. Darauf legt Joni Mitchell Wert.

„Birth Of Rock’n’Roll Days“ hat sie den ersten Akt überschrieben. Er beginnt mit dem luftigen Jazz-Rock-Song „In France They Kiss On Main Street“ von Mitchells siebtem Album, „The Hissing Of Summer Lawns“ von 1975. Inhaltlich setzt sie also in den Jahren der Kindheit ein. „In den Fünfzigern war das Land sehr konservativ. Man fürchtete sich vor dem Kommunismus, und Mann und Frau sollten plötzlich nicht mehr im selben Bett schlafen. Auf Bildern zeigte man nur noch Schlafzimmer mit Einzelbetten“, sagt sie. „Unsere Generation war dann wild wie die Generation der 30er-Jahre. Während der Prohibition wurde illegal getrunken, wir haben illegal Pot geraucht. Es war eine Wiederauferstehung des lockeren Umgangs, eine Wildheit, die wieder ausbrach. Aber es war auch noch ganz unschuldig. Jedenfalls bis sie anfingen, Präsidentschaftskandidaten zu erschießen.“

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Geboren wurde Roberta Joan Anderson 1943 in der kanadischen Provinz als einziges Kind eines kleinen Ladenbesitzers und einer Dorfschullehrerin. Die letzte Polio-Epidemie Kanadas brachte sie 1952 als Neunjährige ins Krankenhaus, wo man monatelang nicht wusste, ob sie je wieder würde laufen können. Was ihr blieb, war eine geschwächte linke Hand, die für die besondere Klangfarbe ihrer Musik verantwortlich ist: Weil sie bestimmte Griffe am Gitarrenhals nicht ausführen konnte, entwickelte Mitchell von Anfang an ihre eigenen Stimmungen. Die merkwürdig offene, bei aller Intensität vage bleibende Atmosphäre in ihren Stücken ist eine Konstante in Mitchells Musik.

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In Calgary studierte die junge Joni Malerei und kaufte sich eine Ukulele. Halloween 1962 hatte sie ihren ersten bezahlten Auftritt in einem Café in Saskatoon. Sie war sich von Anfang an ihrer Wirkung bewusst und setzte sie ein. Aber sie ließ außer Zweifel, dass sie ernst genommen werden wollte, bewundert für ihr Talent, nicht für ihr Aussehen. Die Kollegen nahmen sie als Konkurrentin ernst – und verzweifelten fast an ihrer Schönheit. „Das Leben ist schwer, wenn du schön bist“, sagt sie heute, als 71-Jährige. „Du bist besser dran, wenn du durchschnittlich aussiehst. Und du hast­ eine größere Chance, wahre Liebe zu finden.“

Amy Graves WireImage
Gijsbert Hanekroot Redferns
David Warner Ellis Redferns
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