Johnny Marr – Ein Held der Gitarre
Wie lang ist der Schatten der Smiths? Johnny Marr riskiert einen Neuanfang, erklärt New Wave und erwähnt Morrissey kein einziges Mal.
Wenn er nie die amerikanische HipHop-Band Naughty by Nature getroffen hätte, gäbe es heute womöglich keine Solo-Songs von Johnny Marr. Zumindest keine so guten. Dabei ist der ehemalige Smiths-Gitarrist in den letzten zehn Jahren weiß Gott auf genug andere inspirierende Zeitgenossen gestoßen und hat manch wundersamen Pfad beschritten: Im Jahr 2006 stieg er überraschend als festes Mitglied bei der amerikanischen Indie-Wunderband Modest Mouse ein, später dann bei den eher bodenständigen Brit-Buben The Cribs. Nebenbei arbeitete der einzige echte Guitar Hero des Achtziger-Indie-Pop mit so unterschiedlichen Künstlern wie den Casting-Nervensägen Girls Aloud und dem genialischen Songwriter Robyn Hitchcock zusammen. Doch auch darüber hinaus gab es genug zu tun: Marr komponierte einen Teil der Filmmusik für „Inception“ und warf mit der Firma Ray-Ban eine limitierte Marr-Sonnenbrille auf den Markt. Im vergangenen Jahr brachte der Instrumentehersteller Fender gar Johnny Marrs ursprünglich aus Einzelteilen zusammengebaute Jaguar-Gitarre als offizielle Special Edition heraus. Aber wenn es eine Erfahrung gab, die sein Leben in den letzten Jahren wirklich grundsätzlich verändert hat, dann war es die Begegnung mit Naughty By Nature.
„Wir hingen vor etwa acht Jahren gemeinsam rum. Was mir an ihnen gefiel, war, wie sie sich um ihre Gesundheit kümmerten. Ihre Haltung war: Du bist nur stark, wenn du gesund bist. Das behagte mir damals mehr als dieser ganze Rock’n’Roll-Kram.“ Seither geht Marr, zu Smiths-Zeiten ein begeisterter Konsument von Gras, Speed und beträchtlicher Mengen Rémy Martin, täglich joggen. Gut zehn Kilometer reißt der bekennende Veganer jeden Tag runter. Die Folge: Marr, der im Oktober 50 wird, hat den Körper eines 17-jährigen Zigarettenknaben. Viel entscheidender aber ist: Beim Laufen kommen ihm die guten Ideen für Songs. „Am besten ist es, wenn ich auf Tour bin und einen Jetlag habe. Es ist die perfekte Art, einen fremden Ort kennenzulernen. Ich habe mich schon immer für Psychogeografie interessiert: der Einfluss, den eine Umgebung auf die Wahrnehmung des Individuums hat. Deshalb gibt es in den neuen Songs auch so viele Architektur-Referenzen.“ Wären ihm die meisten Songideen nicht beim Laufen gekommen, die Stücke hätten wohl kaum diesen drängenden Sound.
Die Songs, über die Marr spricht, haben tatsächlich wenig zu tun mit den etwas behäbigen Rock-Exerzitien, die er im Jahr 2002 als Johnny Marr & The Healers veröffentlichte. Das sei damals durchaus ein wichtiger erster Schritt gewesen, um sich als Frontmann zu fühlen, aber bei den Healers habe es sich eben doch um das Band-Projekt dreier sehr unterschiedlicher Menschen, mithin also um einen Kompromiss gehandelt. Darum betrachte er auch „The Messenger“ als sein Solo-Debüt. „Die meisten Leute sehen Solo-Platten ja als Gelegenheit, elfminütige Dudelsongs mit komischen Elektronik-Experimenten aufzunehmen. Bei mir war es andersrum: Ich wollte nichts Düsteres, nichts zu Emotionales, nichts Selbstgefälliges. Ich wollte ein Album wie eine Juke-Box. Ich wollte eine Handvoll Knaller-Songs, die sich anhören wie von einer New-Wave-Band.“
Womit ein wichtiges Stichwort gefallen ist: Marr bezieht sich mit „The Messenger“ bewusst auf die musikalische Ära, die der Wirkungszeit der Smiths vorausging. „Ich war damals 17, 18 Jahre alt. Insofern sind Post-Punk und New Wave für mich das, was für Leute wie Lennon oder Richards der Rock’n’Roll war. Es steht für no bullshit. Heute verstehe ich, was all die Sechziger- und Siebziger-Leute mit dem Rock’n’Roll hatten. Wenn du jedes Studio-Experiment gemacht hast, dann willst du irgendwann Musik ohne jeden Mumpitz spielen. Und New Wave ist sogar noch besser als Rock’n’Roll, weil New Wave nach Artrock und nach Bowie kam. New Wave hatte alles verinnerlicht: das Schwule ebenso wie das Politische. Und trotzdem war es ganz klar No-bullshit-Musik.“
Auch über die Soundästhetik hinaus sind die späten Siebziger enorm bedeutsam für Marrs neues Werk. In einem der schönsten Songs, dem schimmernden „New Town Velocity“, erzählt er vom entscheidenden Wendepunkt seines Lebens: Marr besingt den Tag, an dem der damals 15-Jährige gemeinsam mit seiner Freundin Angie beschloss, die Schule hinzuwerfen und von zu Hause abzuhauen. Plötzlich roch ganz Manchester nach Freiheit. Ein typisch süßer Es-gibt-kein-zurück-Moment, wie man ihn nicht allzu oft erlebt. „Es wäre nicht anders gegangen“, sinniert Marr. „Meine Situation zu Hause war wirklich nicht besonders schön. Ich musste raus aus den Vororten, raus aus der beschissenen Schule und meiner Bestimmung folgen.“ Angie, das Mädchen, das damals mit ihm die Schule sausen ließ, ist heute seine Frau und die Mutter von Marrs Kindern Sonny und Nile. Marr ist sich des Umstands, eine nicht nur für einen Popstar außergewöhnlich lange währende stabile Beziehung zu führen, bewusst: „I’m a lucky bastard. Ich ging durch vieles in meinem Leben, was ohne eine stabile Beziehung, ohne einen echten Partner nicht möglich gewesen wäre. Ich wollte schließlich bei den ganz Großen mitspielen. Vielleicht kennst du ja diesen Satz: Man soll aufpassen, was man sich wünscht, denn es könnte sein, dass man es bekommt.“
Marr ist mit seiner Vergangenheit spürbar im Reinen. Auch mit dem übergroßen Schatten der Smiths. Zwar müsse er, wenn das Gespräch auf die Jahre an der Seite Morrisseys komme, immer einen Schalter umlegen und gleichsam auf Smiths-Modus schalten, aber das tue nicht weh. Doch was fragt man einen, der jede Smiths-Frage schon zig Mal beantwortet hat? Vielleicht dies: Gibt es bei aller Beklatschung des Smiths-Werks eigentlich ein paar Songs, ein paar Texte Morrisseys womöglich, die ihm gar nicht mehr behagen? Marr überlegt: „Ich bin wirklich stolz auf all unsere Platten, und die Texte sind alle wirklich sehr gut. Aber wenn ich heute, That Joke Isn’t Funny Anymore‘ höre, finde ich den Song auf faszinierende Weise rätselhaft. Er klingt für mich wie eine Frage ohne Antwort.“
Im März wird Marr auf UK-Tour gehen. Derzeit probt er in Manchester, wohin er kürzlich mit seiner Familie nach einigen Jahren im amerikanischen Portland zurückgekehrt ist: „Ich brauchte einfach wieder den Regen und vor allem diese Steifheit“, lacht Marr. Neben dem Material des neuen Albums und einiger Electronic- und The-The-Songs finden sich immer mal wieder Coverversionen im Programm. „Gestern haben wir aus Spaß, I Fought The Law‘ gespielt, letzte Woche waren es mehrere Animals-Stücke.“ Nur Smiths-Songs singt er keine, es ist, als wollte er die Worte seines Songwriting-Partners (dessen Namen er nie im Interview erwähnt) nicht in den Mund nehmen.
Bei aller Bejubelung des Smiths-Katalogs: Wird die Band nicht auch manchmal ein bisschen überschätzt? Marrs Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Nein. Nur Kritiker können etwas überschätzen. Und Kritiker sind hier schlicht nicht der Maßstab. Die Leute, die unsere Musik lieben, tun dies aus vollem Herzen. Sie lieben den Sound, die Melodien, die Texte, die Emotionen, das Spiel, die Produktion, was auch immer. Es berührt die Leute. Bis heute begeistert es immer wieder neue Fans. Aber du kannst nicht berührt werden, weil dir irgendein Kritiker oder Blogger sagt, dass du diese und diese Musik lieben musst oder weil eine Platte in der Liste der ‚Hundert besten Alben aller Zeiten‘ ist.“ Das sei bei ihm selbst im Übrigen genauso. Er liebe seinen großen Helden Ennio Morricone nicht, weil er in irgendeinem Blog gelesen habe, dass Morricone dringend zu verehren sei, sondern weil ihn die Musik des Römers zutiefst anrühre.
So endet das Gespräch denn auch in einer langen Morricone-Fachsimpelei über die besten Arbeiten des Meisters. Und dann wird Johnny Marr, der Komponist einiger der schönsten Songs der Pop-Geschichte, plötzlich ganz Fan: „Mein Lieblingsstück von Ennio Morricone ist eigentlich ein sehr, sehr, sehr dummer Song. Er heißt ‚Vamos a matar, Companeros‘, ein Revolutionsstück. Und weißt du was? Ich habe hier die Original-Single von 1968. Ist das Leben nicht großartig?!“
Marrs grösste Momente
Einige Songs von den Smiths und Matt Johnsons The The, bei denen Johnny Marrs legendäres Fender-Gitarrenspiel besonders brillant heraussticht
The Smiths: „Suffer Little Children“ (1984) Schon auf dem Debütalbum der Smiths hatte Marr zu seinem eigenen charakteristischen Gitarrenspiel gefunden. Hypnotisch schwelgt er hier zu Morrisseys Barmen und der unvergessenen Sentenz „Oh Manchester, so much to answer for“.
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (1986) Trügerisch beginnt das Eröffnungsstück des dritten Smiths-Albums: Ein Chor stimmt den Weltkriegsschlag „Take Me Back To The Dear Old Blighty“ an, bevor Marrs infernalische Gitarrenkreisel die Melodie zersägen.
The The: „Good Morning Beautiful“ (1989) Nach dem Ende der Smiths fand Marr in Matt Johnson für ein paar Jahre wieder einen kongenialen Partner, dessen Songs er mit silbrigen Klangschichten veredeln konnte. Hier füllt er den auseinanderklaffenden Beat mit kreischenden Solo-Parts.
The The: „Love Is Stronger Than Death“ (1992) Drei Jahre später war der Ton gedämpft. Marr glänzt in dieser flehentlichen Ballade ausnahmsweise mal nicht an der Gitarre, sondern spielt einige wunderschön verwehte Mundharmonika-Passagen.