Johnny Cash At San Quentin – Johnny Cash
Johnny Cash erinnert sich der vergessenen Männer. Sie lieben ihn dafür. In einem Gefängnis für Insassen zu singen, deren Geist von unserem hirnlosen Strafsystem gebrochen wurde, das ist Revolution á la Johnny Cash. Innerhalb der Gefängnismauern wird Musik zu einer spirituellen Angelegenheit. Ihr haftet etwas an, das den Strafvollzug komplett aushebelt. Musik ist positiv. Musik befreit.
Auch wenn Cash sagt, dass der „alte Johnny immer dann am besten ist, wenn er unter Druck steht“: Er klingt sehr müde auf dieser Platte, bei einigen Songs trifft er nicht die richtigen Töne. Was von der Tatsache, dass hier echte menschliche Kommunikation stattfindet, jedoch mehr als ausgeglichen wird. Die lebendige Kommunikation mit dem Publikum scheint eine aussterbende Kunst zu sein, in der zeitgenössischen Kultur werden nur noch Schallplattenaufnahmen als authentisch angesehen. Selbst die sogenannten „revolutionären“ neuen Bands scheitern jedoch beim Versuch, in einem technologisch hochgerüsteten Studio jene Emotionalität zu entwickeln, zu der sie sonst in der Lage wären. Im Wertekontext der meisten heutigen Musiker scheint der direkte Kontakt zum Publikum keine Rolle mehr zu spielen.
Niemand will mehr menschliche Schwächen zeigen. Auf modernen Schallplatten sind Fehler verboten – es sei denn, als kleiner Gag in einem falsch gespielten Intro. „San Quentin, what do you think you do?“ Cash und Bob Johnston haben auf dem Album einige Minuten belassen, die ganz ohne Musik auskommen müssen. Was zeigt, dass für Cash und seinen Produzenten die realen Lebensumstände des Publikums die höchste Priorität genießen. Wenn man die emotionale Intensität, die sich im Gelächter der Insassen Bahn bricht, wenn man ihren begeisterten Applaus und ihre Buhrufe (als ein Wärter Cash nach dem Song „San Quentin (You’ve Been A Living Hell To Me)“ ein Glas Wasser bringt) dem unsäglichen, künstlichen Gelächter und dem Applaus gegenüberstellt, der etwa Fernseh-Sitcoms untermalt, dann beginnt man einige Dinge zu verstehen: wie wichtig Cashs Annäherung ist, warum er so lebt, wie er lebt, warum er sich dieses Publikum ausgesucht hat. Denken wir einmal darüber nach, welche Werte für die meisten von uns gültig sind, und denken wir einmal darüber nach, wie sich diese Werte nach außen hin manifestieren. Es ist toll, auf Musik und Farben abzufahren. Die Werte, die für jemanden gelten, der den ganzen Tag in einer Zelle vor sich hingammelt, und die Werte eines Mannes, der seine Zeit damit verbringt, für Häftlinge zu spielen, der daran Spaß hat und uns daran teilhaben lässt, haben damit jedoch nichts zu tun.
Die üblichen Kriterien für eine Live-Platte spielen hier kaum eine Rolle, denn hier wird viel mehr transportiert als Musik. Die Show beginnt mit einem neuen Dylan-Song, „Wanted Man“. Cash kommt sofort zur Sache, wenn er singt: „wanted man by Lucy Watson, wanted man by Jeannie Brown, wanted man by Nellie Johnson, wanted man in this next town….“. Lauschen wir seinen eigenen Anmerkungen zum Thema „Gerechtigkeit im Süden“: In Starkville, Mississippi, musste Cash eine Nacht im Knast verbringen, weil er Blumen gepflückt hatte. „I Walk The Line“ kommt als harter, zäher Funk rüber, ein echter Knaller ist auch „A Boy Named Sue“, ein Talking Blues aus der Feder von Shel Silverstein: eine reichlich ödipale und schlüpfrige Angelegenheit, von Cash wunderbar in Szene gesetzt. „San Quentin“ singt er gleich zweimal hintereinander. Was völlig in Ordnung ist, da beide Takes komplett unterschiedlich klingen – „ich glaube, jetzt mag ich den Song auch“, lässt Cash abschließend wissen. Das alte Spiritual „Peace In The Valley“ leitet das Ende ein, gefolgt von einem kurzen, stampfenden „Folsom Prison Blues“. Das Konzert ist vorbei, und auf der anderen Seite der Bucht sitzen diese Menschen noch immer eingesperrt in ihren Zellen. Der Eindruck, wie Cash mit ihnen umgeht, bleibt bestehen. Wie muss er eigentlich drauf sein, wenn er sich mit jenen Menschen so gut versteht, die wir in den Kerker geworfen haben?