John Cale – Extremsportler
Mal war er wütend, mal mild. Er schrieb romantische Balladen und die Musik für eine neue Gesellschaft, brachte brachiale Avantgarde-Experimente und deftigen Rock. Mit dem neuen Album hat John Cale nun die Entspannung entdeckt.
Mal war er wütend, mal mild. Er schrieb romantische Balladen und die Musik für eine neue Gesellschaft, brachte brachiale Avantgarde-Experimente und deftigen Rock. Mit dem neuen Album hat John Cale nun die Entspannung entdeckt Shn Gesicht ist eine alte Burg. Die Fassade bröckelt ein bißchen, aber die Grundfesten sind unerschütterlich. Dieser Mensch der Extreme, der nicht an Wissen ohne Erfahrung glaubt und oft nicht einmal an Wissen durch Erfahrung, hat ordentlich daran gearbeitet, daß es so aussieht Zwei Jahrzehnte Selbstzerstörung, danach Wiederaufbau am Expander. Cale, der Mensch fürs Extreme. Um noch einmal ins Töpfchen mit den Legenden zu greifen: Cale, der Zerstörer der Modernen Klassik, der als Student an der Berkshire School of Music wegen destruktiver Spieltechniken gerügt wird. Cale, der mit felvet Underground das Rauschen als Kunstform etabliert Cale, der hühnerenthauptende Gewaltphilosoph. Cale, das Drogenwrack, das Anfang der Achtziger die Linien wie ein Staubsauger wegfegt und auf der Bühne über dem Piano zusammenbricht. Das andere Extrem: Cale, der Fitneßfanatiker, der jeden Morgen um acht auf der Streckband schuftet. Cale, der nach Jahren Rock’n’Roll die Klassik wiederentdeckt. Oder auch: Cale, das Sensibelchen, das Angst vorm Fliegen hat Das sind die Eckdaten eines vertrackten Lebenslaufs, die sich in den tiefen Furchen und machtvoll herausgehantelten Adern des 54jährigen nachlesen lassen. Klar, es ist nicht originell, die Geschichte eines Menschen in seinem Gesicht zu suchen, aber im Fall von Cale muß dies erlaubt sein. Schon weil er über die Jahrzehnte sein Konterfei kunstvoll als Handelsmarke etabliert hat und im Interview die Frage, wie er sich auf dem Cover seines neuen Albums präsentiert, überhaupt nicht nebensächlich findet. „Es ist fast nur mein Mund zu sehen“, sagt er. „Ich schreie. Weil es solchen Spaß gemacht hat Diesmal ist der Schrei auf dem Cover, denn in den Songs selbst ist keiner zu hören.“ „Walking On Locusts“ heißt die Platte, kommt Ende diesen Monats heraus und ist das erste richtige Pop-Album seit ^4rtificialIntelligaKe“ von 1985. Meint jedenfalls der Künstler selbst, der hier so entspannt wie lange nicht mehr zu Werke geschritten ist. Fast alle Songs sind Fiktion. Marokkanische Perkussionisten sorgen für sanfte Vibes, das Soldier String Quartet streicht hier mit flirrender Leichtigkeit Dämonen spielen meist nur Nebenrollen. Ein wichtiger Punkt, war der Tod doch die letzten Jahre immer präsent bei John Cale. Im Leben wie im Werk. Freunde wurden beerdigt, die Requiems zur Routine. Andy, Nico, Sterling gingen – John leistete Erinnerungsarbeit. Müßig, hier noch einmal aufzulisten, wo und wann und mit wem er getrauert hat. Cale legt ein Thema nicht so schnell ad acta,er reibt sich gern an den Dingen auf – da ist er Selbstzerstörer geblieben. Beinahe manisch konfrontiert er sich immer wieder mit der eigenen Geschichte. 1990 spielte er mit Lou Reed „Songs For Drella“ ein, ein Requiem für Andy WarhoL Vor kurzem steuerte er für Mary Harrons Film „I Shot Andy Warhol“ eine Suite mit gleichem Titel bei. Trauerarbeit ohne Ende, ohne Rücksicht auf die Kundschaft. Cale glaubt nicht an letzte Lösungen – auch das unterscheidet ihn von seinem oft selbstgefälligen Widersacher Lou Reed. Vergangenheit ist für Cale etwas, das schneller rennen kann als man selbst. Das einen allzu leicht einholt – und zuweilen seltsame Kettenreaktionen auslöst. Etwa neulich, als er den Score zum Film „Antärtida“ komponierte, für den sich der spanische Regisseur Manuel Huerga von Cales Klassiker „Antartica Starts Here“ anregen ließ. Der Waliser gilt als Dickschädel, als störrisch und streitsüchtig gar. Andererseits ist kein zweiter so kooperativ wie er; Cale funktioniert sehr gut in der Symbiose – auch wenn die anderen ihn meist gewaltig nerven, woran er keinen Zweifel läßt. Lou Reed, Terry Riley, Brian Eno, Bob Neuwirth und die zig Regisseure, für die er in den letzten Jahren Soundtracks komponiert hat – der grimmige Riese sucht seine Inspiration in counterparts. Und das geradezu besessen. Während er mitten in dem einen Projekt steckt, macht er für das andere Promotion. Und hat schon drei weitere in Vorbereitung. Vielleicht ist Cale deshalb so fahrig im Interview. Obwohl er gerade aus dem Fitneßraum des Hotels kommt, rutscht er unruhig in seinem Sessel hin und her. Was nicht heißt, daß ihm der Wille fehlt, sich mitzuteilen. Er berichtet konzentriert mit seinem walisischen Baß über zentrale Punkte, um sodann ins Stammeln zu geraten. Du hast Dich selbst als wandelndes Chaos bezeichnet. Heute ist alles um Dich herum organisiert, so daß Du an vielen Projekten gleichzeitig arbeiten kannst. Bedauerst Du, wie Du früher gelebt hast – hätte da nicht noch ein Album eingespielt, ein Ballett aufgeführt werden können? Ich bedaure nichts. Vor knapp 15 Jahren lief mein Leben aus dem Ruder, damals hatte ich keinen Spaß mehr. Lebenswandel und Kunst waren nicht mehr vereinbar. Ich begann langsam zu sterben. Es war eine große Erleichterung festzustellen, daß ich meine Kreativität durch einen anderen Lebenswandel zurückgewinnen konnte. Jetzt weiß ich, daß nicht alles nutzlos gewesen ist. Eine andere Erkenntnis könnte ich auch gar nicht ertragen. Ich habe einerseits dieses selbstzerstörerische Element in min andererseits gibt es eine gesunde Einstellung. Im richtigen Moment hat das eine über das andere Oberhand gewonnen, glücklicherweise. Ich bin ein neugieriger Mensch. Viel zu neugierig, um mich in einen Raum einzuschließen und darüber zu rätseln, wie die Welt da draußen funktioniert. Daß ich Substanzen zu mir genommen habe, die mir nicht immer zuträglich waren, ist ein Nebenaspekt Mitte der Achtziger hast Du Dich wieder der klassischen Musik zugewandt und begonnen, an der „Falkland Suite“ zu arbeiten, die dann 1989 auf „Words For The Dying“ erschienen ist. Hatte das mit der Verändenmgzu tun? Es war umgekehrt. Die Rückbesinnung ging der Veränderung voraus, sie war ein Mittel zur Erkenntnis. Ich verstand, welchen großen Gefallen mir meine Mutter damit getan hatte, all diese Kultur zu vermitteln. Es war die alte Geschichte: Leute erkennen, was sie jahrelang verleugnet haben. War es nicht vielleicht eher die Geschichte, die davon handelt, sich von etwas freizukämpfen, um es dann – als freier Mann – als Geschenk betrachten zu können? Nicht ganz. Du ignorierst deine Gabe, aber irgendwann weißt du: Sie gehört zu dir, du wirst sie nicht los. Wobei ich eine schmerzhafte Erfahrung machen mußte: Ich habe die klassische Musik zwar wiederentdeckt, stellte aber auch fest, daß ichmit ihr kein Neuland mehr erforschen konnte -zumindest in terms of avantgarde adventures. Sprechen wir über das neue Album „Walking On Locusts“. Es ist ein echtes Pop-Werk und klingt sehr befreit. Die Arbeit war alles andere als entspannend: Es war eines dieser riesigen Puzzles: Wir haben an diversen Orten produziert, Aufnahmen gestretcht, Chöre darübergemischt. Ein sehr komplizierter Prozeß. Mir war es wichtig, einige Scheußlichkeiten im Sound zu wahren. Vor ein paar Jahren hätte ich alles daran gesetzt, die Songs, sagen wir: geometrischer zu gestalten. Interessant, daß Du von Scheußlichkeiten sprichst. Das entlarvt Dich als ausgebildeten Musiker. Ich muß zugeben, daß mir die Aufnahmen zuerst ein wenig zu gefällig klangen. Doch dann erkannte ich ihre Eigenheiten, etwa die markanten Modulationen der Harmonien: 100 Prozent Cale. Genau. Vielleicht fühlt man sich unwohl bei einem scheußlich gespielten Akkord, aber diese Aneinanderreihung von Scheußlichkeiten ist es letztendlich, die sowas wie Identität ausmacht. Dadurch unterscheidest du dich vom Rest Ich mußte lange an mir arbeiten, um das zu akzeptieren. Irgendwo in mir steckt ein Perfektionist. Um Kunst zu machen, muß ich ihn überwinden. Ist der Eindruck richtig, daß die Geschichten überwiegend Fiktion sind? Ja, ich habe mich im Keller eingeschlossen. Nach genau einer ‚Wbche habe ich den Stift fallen lassen und habe die Lyrics genauso aufgenommen. Ich muß so arbeiten, sonst vertiefe ich mich zu sehr in die Wbrte und verliere mich darin. Eines der wenigen Stücke, das sich auf eine Person aus meinem Leben bezieht, ist „Some Friends“. Es geht um den Tod von Sterling Morrison. Als er letzten Sommer gestorben ist, konnte ich das nicht begreifen. Der Song ist meine Art, mit dem Unbegreiflichen umzugehen. Nach all den Trauerstücken wirkt “ Walking On Locusts “ entspannt… Und Du glaubst, daß sich deshalb das Thema Tod endgültig für mich erledigt hat, was? Nein, das wäre ein etwas zu triviales Verhaltensmuster für Dich. Tatsächlich finde ich es erstaunlich, wie Du Dich immer wieder mit der eigenen Vergangenheit konfrontierst. Geradezu manisch. War in diesem Zusammhang die Reunion von Veivet Underground wichtig? Mit der war ich aüßerst unzufrieden. Ich wollte eigentlich nur neue Sachen spielen. Statt dessen mußte ich einige Songs erstmal lernen, weil sie zu einer Zeit entstanden sind, als ich die Band schon verlassen hatte. Aber Sterling und Mo hatten ihre Favoriten aus dieser Phase. Es gab gleichzeitig aber auch sehrbefriedigende Momente: Endlich konnten die Leute erkennen, wer da wofür verantwortlich war. Veivet Underground waren nach dieser Tour kein Mysterium mehr. Und die Factory wird nach „I Shot Andy Warhol“ auch keins mehr sein. In dem Film, für dessen Soundtrack Du eine Suite komponiert hast, leben alle legendäre Charaktere. Ist diese Art der Erinnerung nicht fragwürdig, weilßr die Bilder im Kopf eine Entsprechung auf der Leinwand gefunden werden muß? Das kann doch nur scheitern. Nein, es ist überhaupt nicht zum Scheitern verurteilt Die Schauspieler haben sich tatsächlich wie all diese Figuren bewegt Der Film ist sehr lustig und fängt die Stimmung von damals sehr gut ein. Vielleicht zu gut. Ich wurde eines Tages zum Set gebeten. Sie haben die Factory nachgebaut, und diese kleine College-Band – Yo La Tengo heißt die, glaube ich – stand auf der Bühne und imitierte Veivet Underground. Mir wurde schwindelig, ich mußte ganz schnell verschwinden. So echt wirkte das. Geradezu gespenstisch. Christian Buss