Joana Newsom – London, Barbican
Mit dem London Symphony Orchestra führt Joanna Newsom ihr sublim arrangiertes und literarisch ambitioniertes "Ys" in voller Pracht auf
Am Nachmittag fand in der – tatsächlich Schulaula-artigen – Konzerthalle eine Graduation-Feier statt, und man sah junge Menschen mit lustigen Hüten und Talaren durchs Foyer flattern. Der Altersdurchschnitt blieb am Abend auf gleichem Niveau. Wenige Besucher, die sich generationstechnisch in ihrer mit billigem Rotwein und Andreas-Vollenweider-Platten verschwendeten Studienzeit eine Harfenpsychose hätten einfangen können. Junge Menschen, die den Reiz der Popmusik nicht nur darin sehen, englischen Bands der Sechziger und Siebziger Gitarrenriffs zu klauen, und die auch mal ein Buch lesen und sich länger als eine Viertelstunde konzentrieren können.
Schon als Alasdair Roberts alleine mit seiner Gitarre die Bühne betritt, herrscht eine gespannte Stille, fast wie im akustischen Teil von Bob Dylans 66er Englandtour. Alles wartet auf den Moment, wo’s so richtig losgeht. Als das London Symphony Orchestra den hinteren Teil der Bühne betritt, ruckeln alle unruhig auf den Plüschsitzen. Wie oft, wenn Musiker aus Pop und Klassik einander begegnen, herrscht ein paradoxer Dress-Code. Newsom erscheint zu tosendem Beifall in hochgeschlossenem Kleid mit Schuhen, die sich nicht recht zwischen Oper und SM-Party entscheiden können, ihre beiden Begleiter, der barfüßige Schlagzeuger Neil Morgan und Gitarrist Ryan Francesconi, in schicken Anzügen, das Orchester eher casual in Jeans und schwarzen Hemden. Der fast zur Tatenlosigkeit verdammte Paukist kaut betont cool den ganzen Abend am selben Kaugummi. Der Mittler zwischen beiden Welten, der Schweizer Dirigent Baldur Brönnimann, eine Art Maxi-Version von Ulrich Mühe, schlägt sich an diesem Abend auf die Seite des Pop und trägt Anzug.
Mit einem mädchenhaften „Hello“ löst Newsom die Spannung und beginnt mit „Emily“, dem Eröffnungsstück ihres Meisterwerks „1s“. Das Kieksige ihres Debütalbums „The Milk-Eyed Mender“ ist fast ganz aus ihrer Stimme verschwunden. Dunkler, reifer klingt sie. Das Publikum ist mucksmäuschenstill, labt sich an den punktgenauen Interpretationen des in voller Pracht und Komplexität aufgeführten „Ys“ und kann gar nicht genug davon bekommen, im Wechsel auf Newsoms Hände und das Orchester zu schauen.
Der visuelle Eindruck unterstreicht, wie subtil und sublim Van Dyke Parks diese Stücke arrangiert hat. Hier ein Zupfen, da ein sachtes Streichen, dort ein Klopfen. Brönnimanns Gestik ist eher eine des Beschwichtigens, Abdämpfens und Verfeinerns als eine des opulenten Rausches.
Zu „Only Skin“ kommt Newsoms Freund Bill Callahan alias Smog auf die Bühne geschlichen. Eine Viertelstunde lang steht der Stoiker breitbeinig und fast reglos vor seinem Notenständer, bevor er zum Ende seine drei Zeilen mit Newsom und Morgan im Terzett brummeln darf. Dann verlässt er gebeugten Kopfes die Bühne und öffnet sich ein Bier. Derweil gelangt der erste Teil des Abends mit „Cosima“ zu einem letzten Höhepunkt. „I cannot keep the night from Coming in.“ „This is not a Christina-Aguilera-style costume change“, erklärt Newsom verlegen ihren neuen Aufzug zu Beginn des zweiten Teils, „I was just sweating really hard.“ Leggins, Kleidchen, die Schuhe haben sich endgültig gegen die Oper entschieden. Es folgt ihr bekanntestes, nun ja, Harfen-Riff, das Intro zu „The Book Of Right-On“, und der Jubel des Wiedererkennens brandet auf. War man nach dem Ende des ersten Teils etwas schwermütig gewesen, weil man gedacht hatte, Newsom könne die Intensität dieser Aufführung unmöglich über den Rest des Abends, ja geschweige denn über ihre ¿weitere Karriere retten, spürt man nun, wie schlicht brillant schon „The Milk-Eyed Mender“ war. Ein wundervolles neues Stück ertönt auch, ein bisschen frühe Kate Bush, etwas osteuropäische Folklore, näher am Songformat als „Ys“, aber in seiner Reduktion auf Harfe und Stimme ähnlich komplex. „Clam, Crag, Cockle, Cowrie“ beschließt mit irisierender Schönheit, Newsoms und Morgans Paargesang erinnert an schönste Westcoast-Folk-Harmonien. „There are some mornings when the sky looks like a road“ – und es gibt Abende, an denen würde man einen Platz im Himmel gegen eine Harfe eintauschen.