Wir erzählen, um zu leben
Zum Tod der großen amerikanischen Schriftstellerin Joan Didion
Es war der vorletzte Tag des Jahres 2003, an dem Joan Didions Mann John Gregory Dunne in der gemeinsamen Wohnung in New York City starb. „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.“ Das waren die ersten Worte, die sie für den Bericht „The Year of Magical Thinking“ schrieb, das Buch über ihren Mann und die Krankheit ihrer Adoptivtochter Quintana. Als „The Year of Magical Thinking“ im Jahr 2005 erschien, war Quintana gestorben. „Blue Nights“ von 2011, die Erinnerungen an ihre Tochter, ihre einzige, blieb Joan Didions letzte Arbeit.
In den letzten Jahren wurden Joan Didions Erinnerungen überlagert von den Bildern des Dokumentarfilms „The Center Will Not Hold“, den ihr Neffe Griffin Dunne 2017 gedreht hat. Er handelt davon, wie die zerbrechliche alte Dame in ihrer Wohnung lebt, wie sie in Fotoalben blättert, wie sie vorsichtig einige Schritte im Park macht, wie sie noch immer die Blumen liebt. Wie sich Joan Didion erinnert. Ihr Schreiben war immer Ausdruck ihres Bewusstseins, ein Nachfühlen der Gedanken und Wörter, eine Prosa von der kristallinen Schönheit großer Lyrik. In dem Requiem für ihren Verleger Henry Robbins zitiert sie Delmore Schwartz‘ Gedicht „Bleibe bei mir: Geh nicht fort“: „Wir drosseln das Tempo, ehe wir alt werden/ Gehen zusammen auf der entschwindenden Straße/ Wie Chaplin und seine Waisenschwester.“
In fast all ihren Reportagen und Essays kehrt Jona Didion zurück in ihre Kindheit in Sacramento, wo sie am 5. Dezember 1934 geboren wurde, ihre Studienzeit in Berkeley und die ersten Jahre in New York, wo sie seit 1955 – übrigens wie Sylvia Plath – für die Zeitschrift „Mademoiselle“ arbeitete (nachdem sie mit einem Aufsatz „Über Selbstachtung“ einen Wettbewerb gewonnen hatte), dann für die „Vogue“. Sie war zu gewissenhaft, zu nachdenklich und zu langsam als Redakteurin und wusste es. Ihr erster Roman, „Run River“, erschien 1963, und später blickte sie wie eine Fremde auf diese Arbeit. Sie heiratete den Schriftsteller 1964 den Schriftsteller John Gregory Dunne und zog mit ihm nach Kalifornien. Sie lebten in Malibu und in Brentwood – ihre Häuser und Gärten dort sind den Lesern von Joan Didions Reportagen wohlvertraut.
1968 erschien „Slouching Towards Bethlehem“, eine schmale Anthologie mit den Essays, die sie für Zeitungen geschrieben hatte. Unter den Berichten, man muss sagen: Erzählungen sind „Das Spiel ist aus“, „Stunde der Bestie“, „Notizen einer Tochter des Landes“ und „John Wayne: Ein Liebeslied“. Es ist ein Buch über das Verschwinden des Amerika, das die gescheite, gebildete, wohlanständige Joan Didion schon vermisste, als es sie zum Star des Journalismus machte. In dem Haus am Strand von in Malibu unterhielt sie einen Salon für die Autoren und Schauspieler von Hollywood: Warren Beatty war häufig zu Gast und wollte stets neben Didion sitzen, deren zarte Schönheit wie gemalt wirkte. Harrison Ford, damals Zimmermann bei den Dunnes-Didions, nahm ebenfalls teil.
Im selben Jahr wurde Joan Didion zu einer der kalifornischen Frauen des Jahres gewählt – neben Nancy Reagan, über die sie später das luzideste und melancholischste Porträt schrieb. Nancy Reagan war ihr wahrscheinlich so fern wie Patty Hearst, über die sie ebenfalls schrieb. Sie versteht diese Frauen über ihren Sinn für Ästhetik, für Teeservice und Kleider, für das Symbolische, das ihr Leben zusammenhielt wie das Leben Joan Didions, die aus Haufen von Zetteln, Tonbandaufnahmen und Notizen die Texte ziselierte, die über „das Alltägliche“ hinauswiesen. Didion misstraute „dem Alltäglichen“. Sie sah die Zeichen. 1970 erschien ihr Roman „Play It As It Lays“, 1977 „A Book Of Common Prayer“. Mit ihrem Mann schrieb sie das Drehbuch zu „Panic In Needle Park“ (1971) und arbeitete an weiteren Entwürfen, manchmal überarbeitete sie vorhandene Drehbücher.
Im Jahr 1979 erschien ihre zweite Essay-Sammlung, „The White Album“, der späte Abgesang auf die 60er-Jahre am Ende der 70er-Jahre. „Am Morgen nach den 60er-Jahren“ heißt das erste Stück, 1970 geschrieben. An der zentralen Erzählung „Das Weiße Album“ schrieb Didion von 1968 bis 1978. Es sind die schönsten 40 Seiten über jene Zeit. Bei Joan Didion gibt es nichts, was zum Klischee geronnen ist oder je zum Klischee werden wird.
Sie schrieb dann Reportagen für die „New York Review of Books“: Berichte von den Parteitagen der Republikaner und der Demokraten, sie beschrieb den aufstrebenden Bill Clinton nicht als heuchler, sondern als System, sie dekonstruierte 1992 den Prozess gegen fünf Verdächtige, die angeblich eine Joggerin im Central Park vergewaltigt und ins Koma geprügelt hatten. Sie schrieb über El Salvador und Miami, über Washington und über New York, wo sie mittlerweile mit Gregory Dunne wohnte, als unwirkliche Orte. Wirklich war für sie Hawaii, wo sie mit Mann und Tochter im Hotel wohnte und schrieb, darunter eine Kolumne für „Time“, wo Loudon Wainwright II ihr Redakteur war. Von Dunne war sie kaum einen Tag getrennt. In ihrre Wohnung hatten sie ihre Schreibtische in Hörweite. „Es gab nichts, worüber ich nicht mit John sprach.“ Nach „Das Jahr magischen Denkens“ sind Joan Didions Werke von Antje Ravic Strubel endlich systematisch ins Deutsche übersetzt worden, darunter auch „Woher ich kam“ und „Süden und Westen“, großartige Essays über ihren Herkunftskomplex.
„John Wayne: Ein Liebeslied“ ist in dem Band „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“ enthalten, der „Slouching Towards Bethlehem“ und „The White Album“ zusammenfasst. „We tell ourselves stories in order to live“ ist der erste Satz in „The White Album“. Im Sommer 1943 sah sie John Wayne zum ersten Mal. „Sah den Gang, hörte die Stimme. Hörte ihn zu einem Mädchen in ,Die Hölle von Oklahoma‘ sagen, dass er ihr ein Haus , an der Biegung des Flusses, wo die Pappeln wachsen‘, bauen würde. Nun bin ich nicht eine jener Frauen geworden, die zur Filmheldin in einem Western taugen, und obwohl Männer, die ich traf, viele Vorzüge hatten und mich an Orte mitnahmen, die ich im Laufe unseres gemeinsamen Lebens dort liebgewann, waren sie doch nie John Wayne, und sie nahmen mich nie an die Biegung des Flusses mit, wo die Pappeln wachsen.“
Am 23. Dezember starb Joan Didion im Alter von 87 Jahren in New York City.