Jesus muss wieder ran
Der Schöpfer hat eine simple Botschaft: „Seid lieb!“ Aber kaum macht Er einmal Urlaub, versinken die Menschen in Hass und Elend. Was also tun? Ein exklusiver Auszug aus John Nivens neuem Roman „Gott bewahre“.
Es ist spät. Gott sitzt allein in Seinem Büro. Eine einsame Bibliothekslampe mit smaragdfarbenem Glasschirm taucht Seinen Schreibtisch in grünes Licht, die sich um Ihn herum auftürmenden Kisten voller grässlicher, schonungslos detaillierter Schilderungen des 20. Jahrhunderts werfen lange dunkle Schatten.
Das Herz ist Ihm schwer, so schwer. Schwerer als Blei. Es fühlt sich an, als bestünde es aus Plutonium, das mit seiner Atommasse von 244 die zwanzigfache Dichte von Wasser besitzt. Ach was, tatsächlich fühlt sich Sein Herz an, als wäre es aus Franzium, dem schwersten aller Alkalimetalle. Ein Mineral, so dicht, dass sich in der Erdkruste niemals mehr als dreißig Gramm davon befinden. Dafür hat Gott gesorgt.
Und es ist nicht nur Sein Herz, das Ihm schwer ist: Alles ist Ihm schwer. Seine Beine, Arme, Organe. Alles fühlt sich an, als wäre es durch und durch aus Franzium geschmiedet. Er kann kaum das Whiskeyglas an Seine Lippen heben.
Gott stützt Sein Franzium-Kinn in Seine Franzium-Handfläche. Und Sein Blick, tränenverhangen von den Whiskeydämpfen, schweift hinüber zu einem anderthalb Meter hohen Stapel mit Akten, deren oberste mit BOSNIEN-HERZEGOWINA-KONFLIKT beschriftet ist. Er spürt, wie Ihm übel wird, weil Sein Blut vor Wut aufwallt. Er spürt, wie sich kalte, brutale Rachsucht in Seinem Denken ausbreitet: Ein paar Witzfiguren, ein paar beschissene Gehirnamputierte haben beschlossen, an irgendeinen abartigen Dreck zu glauben, und das kommt dann dabei raus.
Spül die ganze Scheiße das Klo runter und fang von vorne an.
Es wäre so einfach. Du musst die Sonnentemperatur um wenige Grad erhöhen, die Erdumlaufbahn um einen Tick verschieben, und da unten wäre in kürzester Zeit alles vorbei. Du könntest einen weiteren Meteoriten nach ihnen schleudern. Einer von der Größe Belgiens dürfte den Zweck erfüllen. Kabumm. Sagt Hallo zu meinem kleinen Freund. Oder ein Virus. Er hatte Proben hier im Labor, mit denen nicht einmal Er in Berührung kommen wollte: Zeug, das AIDS wie einen Schnupfen und Ebola so ansteckend wie die B-Seite einer Indierock-Single erscheinen ließ. Ein paar Gramm davon in die Wasserversorgung, und Zentraleuropa sähe innerhalb eines Monats aus wie der dritte Teil eines beschissenen Zombiefilms.
Und dann, und dann … Er dreht sich um und betrachtet die neuen Regale, die hinter Ihm die Wand füllen, sich biegend unter der Last der Bücher, Platten, CDs und DVDs. Er geht sie von links nach rechts durch, von Daniel Defoe bis Irvine Welsh, einer zerkratzten Schellackplatte von „An der schönen blauen Donau“ bis zu The Chemical Brothers, von „Panzerkreuzer Potemkin“ bis zu einem Boxset von The Wire. Was für eine Leistung, der Schritt vom jeweils einen zum anderen, in einer solch kurzen Zeitspanne …
Wie konnte das alles bloß so dermaßen aus dem Ruder laufen? Es hatte vermutlich mit Moses begonnen. Diesem Schwindler. Einem der Ersten, die dem Ego-Trip verfielen. Als er auf den Sinai kraxelte und dort oben die eine, unberührte, makellos behauene Steintafel erblickte, in die in Gottes wunderschöner, ach so filigraner Handschrift die Worte Seid lieb gemeißelt waren, flippte er aus. Dank Gottes Vorarbeit hätte Moses nur noch vom Berg herabsteigen und verkünden müssen: „Hey, seid lieb, Leute! Und, tja, das wär’s dann. Ein schönes Leben noch.“ Den Teufel hatte er getan. Der Hurensohn hatte sich Hammer und Meißel geschnappt und war fleißig gewesen. Vierzig Tage und Nächte lang hatte er diese kranke Scheiße in Stein gehauen. All diese „Du sollst nicht gelüsten deines Onkels Arsch noch irgendein Bildnis von ihm machen“-Kacke? Alles ganz allein auf Moses‘ Mist gewachsen. Und was kam danach? Interpretationen! Diese ganze Ich-glaub-ich-weiß-was-Gott-damit-meint-Industrie. Und zack: Ein Jahrtausend später schlitzt irgend so ein fetter Irrer Tausenden von Neugeborenen die Kehle auf und schmeißt die Leichen in den Dreck, weil er der Meinung ist, er habe Gott auf seiner Seite.
Scheiße, hatte Moses dafür Prügel bezogen, als er hier oben aufkreuzte. Gott begann mit dem Austeilen der Backpfeifen, als dieser Wichser durch die Himmelspforte trat, und hörte erst im dunkelsten Mittelalter wieder damit auf. Moses‘ Wangen sahen danach aus wie zwei gekochte Rote Bete.
Was zur Hölle gibt es an Seid lieb zu interpretieren? Eine Frage, die Er auch Moses während dessen jahrhundertelanger Züchtigung immer wieder ins Gesicht schrie.
Wie auch immer, das ist lange her, denkt sich Gott und seufzt, als Ihm bewusst wird, worin Seine Gedankengänge letztendlich gipfeln. Jemand würde denen da unten die Bedeutung von Seid lieb erneut beibringen müssen.
Er lockert Seine Krawatte und schüttet sich mehr Scotch in Sein Glas. Dann nimmt Er die schwelende Zigarre vom Rand des Aschenbechers, lehnt sich in Seinem Sessel zurück und legt die Füße mit den handgemachten Budapestern leger auf den Schreibtisch. Mit der Fernbedienung dreht Er die Musik auf: eine Mix-CD, die Sein Sohn Ihm aufgenommen hat. „Brennen“ hatte der Junge das genannt. Verzaubert von der Verfolgungsjagd zwischen den repetitiven Figuren der Akustikgitarre und der Stimme des Sängers, der Art, wie die beiden Klänge – die raue Stimme und das hölzerne Instrument – sich überlappen, verbinden, trennen, steigen und fallen, lauscht Gott andächtig Townes Van Zandts „Tecumseh Valley“.
Gott ist hingerissen.
Ihm, der sich in erster Linie als Schöpfer betrachtet, bereitet es das allergrößte Vergnügen, wenn Seine Geschöpfe sich selbst dem göttlichsten aller Werke widmen: aus dem Nichts etwas ins Leben zu rufen. Dieser Song besteht lediglich aus ein paar Akkorden und einigen wenigen Wörtern, und doch vermag etwas derart Schlichtes ewige Freude zu spenden. Sein Blick schweift hinüber zu Seinem Laptop, auf dessen leuchtendem Bildschirm Er eine Liste von Zitaten sogenannter religiöser Führer aufgerufen hat: im Prinzip ein einziges Kompendium bösartiger Schmähreden, Hasstiraden und Panikmache, wovon Ihn Letzteres mit Abstand am meisten erzürnt – so unverständlich es Ihm auch ist. Und doch: Dieser niederträchtige Müll wird ihnen abgekauft. Millionen von Menschen glauben daran, dass es Homosexuellen verwehrt ist, Gottes Antlitz zu erblicken. Oder jenen, die Sex mit wechselnden Partnern hatten. Drogenabhängigen. Spielern. Menschen, die nicht getauft wurden. Gotteslästerern. Ungläubigen.
Hatten diese Typen denn gar nichts zu lachen? Im Himmel wurde ununterbrochen gekichert und gegiggelt, kein Geräusch hörte man hier häufiger. Draußen im Zentralbüro, wo es immer Freitagnachmittag war, machten ständig die neuesten, komischsten Witze die Runde. Es war mit das Erste, was man anständigen, aber verkniffenen Seelen nach ihrer Ankunft hier mitgab: Sinn für Humor. Dieser fantastische Moment, wenn es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel und die Welt um sie herum plötzlich in Technicolor erstrahlte. Wenn denen, die für alles immer bloß ein Stirnrunzeln und „Versteh ich nicht“ übrig hatten, endlich ein Licht aufging.
Seine Gedanken wenden sich wieder der Musik zu: John Coltrane spielt nun „A Love Supreme“. Ein Riff, wie es simpler kaum sein könnte, im Grunde nur drei Töne, aber unfassbar gut. Die Stereoanlage, die edlen Budapester, die aromatische kubanische Zigarre, der duftende Single Malt, der Laptop … all das coole Zeug, das vor Seinem Urlaub noch nicht existierte. Oh ja, emsige kleine Kreaturen.
Ein leises Klopfen. „Herein“, sagt Gott, und Petrus‘ Kopf erscheint in der Tür.
„Kleine Nachtschicht, hmmm?“
„Ja ja. Komm rein. Nimm dir einen Drink.“
Petrus gießt sich einen kräftigen Schluck ein, sie stoßen an, das Klirren der Gläser verschmilzt mit der Musik, und Petrus lässt sich in einen großen, weichen Ledersitzsack zu Füßen seines Bosses fallen. Gott hat die Augen geschlossen und nickt im Takt des Riffs, das Coltrane spielt. Petrus weiß Gottes Stimmungen besser zu interpretieren als jeder andere, und er versteht, dass dies nicht der richtige Augenblick für ein „Was sollen wir jetzt bloß machen?“-Gespräch ist. Er öffnet sich ebenfalls ganz dem hypnotischen Sog des Songs, schließt die Augen und nickt im Takt, genießt Gottes Hingabe an die Musik mindestens so sehr, wie er sich selbst der Musik hingibt. Es ist eine ganze Weile her, dass sie zuletzt solch ein mitternächtliches Tête-à-Tête in Gottes Büro hatten und sich bei einer guten Flasche den Sorgen und Problemen der Erde widmeten.
„Das ist gut, oder?“, fragt Gott.
„Mmm“, sagt Petrus. Und macht eine Pause von exakt der richtigen Länge, bevor er die Worte „wert, gerettet zu werden“ hinzufügt. Kein Fragezeichen. Er öffnet die Augen und sieht seinen Boss an.
Gott erhebt sich langsam aus Seinem Sessel und schwenkt bedächtig das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Dann leert Er es in einem Zug, setzt es ab und greift nach einem gerahmten Foto von Jesus. Es ist ein Schnappschuss anlässlich seines zehnten Geburtstags. Jesus lacht ausgelassen über etwas, was außerhalb des Bildausschnitts geschieht, seine Augen bloße Schlitze in einem Meer winziger Lachfältchen. Ihm steht eine solch kindliche Freude ins Gesicht geschrieben, dass die Züge des Mannes, der er einmal sein wird, kaum noch zu erahnen sind. Gott streicht sanft mit der Hand über das Foto Seines Sohnes.
„Ja, das ist es“, sagt Gott leise.
„Oh nein“, sagt Petrus, als er bemerkt, dass Gott mit den Tränen ringt. „Ihr werdet doch nicht …“
„Es ist die einzige Möglichkeit“, erwidert Gott mit sanfter Stimme.
„Aber … aber, das sind Tiere da unten. Sie werden den Jungen in Stücke reißen. Beim letzten Mal war es ja schon schlimm genug. Aber heutzutage? Dagegen werden die Römer wie Sozialarbeiter aussehen.“
„Glaubst du denn, ich weiß das alles nicht?“
Petrus verstummt. Beide starren sie schweigend auf das Kinderfoto von Jesus. Wenn Gott einmal einen Entschluss gefasst hat, dann ist daran nicht mehr zu rütteln. Petrus beschäftigt sich in Gedanken bereits mit der praktischen Umsetzung.
„Er wird einen neuen Namen brauchen.“
„Was ist denn falsch an Jesus?“, will Gott wissen.
„Nichts für ungut, Boss“, sagt Petrus, während er ihre Gläser auffüllt, „aber jeder wird ihn für einen verdammten Trittbrettfahrer halten.“
„Jesus ist völlig in Ordnung“, erwidert Gott. Gott ist oldschool.
Der Morgen danach. Sie stehen auf einer grünen Wiese unterhalb der Flügeltüren hinter Gottes Schreibtisch. Dort, wo die Seelen der Babys und Kleinkinder herumtollen.
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragt Jesus und blickt verunsichert von seinem Vater zu Petrus. „Er nimmt mich auf den Arm, stimmt’s? Ich … Dad, was denkst du, soll ich da unten ausrichten?“
„Führe sie. Inspiriere sie. Hilf ihnen.“
„Aber … wie denn?“
„Du hast es schon einmal getan.“
„Das war damals wesentlich leichter. Jetzt haben sie so viel Scheiße im Kopf. Ich meine … Wunder! Sie glauben, ich hätte Wunder bewirkt! Wie bitte soll ich damit umgehen?“
Gott legt eine Hand auf die Schulter Seines Sohnes und blickt ihm in die Augen. „Du bist der Sohn Gottes. Sprich die Wahrheit, und die Leute werden dir zuhören. Wandere durchs Land. Versammle Jünger um dich. Halte es mit den Außenseitern. Zeig ihnen ihre Fehler auf. Bring Hoffnung zu den Hoffnungslosen und Bedürftigen. Predige Liebe, Toleranz, Gerechtigkeit, Gnade – all den Kram, auf den sie scheißen. Erinnere sie an den Wert der Gemeinschaft. Lehre sie die Bedeutung der Worte Seid lieb.“
„Es muss doch eine Alternative geben.“
Gott schüttelt den Kopf, legt den Arm um ihn, und gemeinsam machen sie einen Spaziergang.
„Ich erinnere mich noch gut an den Tag deiner Geburt, mein Sohn“, sagt Gott. „Sie hielten dich mir entgegen, völlig besudelt. Scheiße, du sahst aus wie ein Teller Lasagne. Eines deiner Augen war total verklebt, mit dem anderen hast du mich angesehen. Direkt angesehen, ganz vom anderen Ende des Raumes. Der Arzt sagte, Babys sehen so gut wie nichts, höchstens ein paar Zentimeter weit. Ärzte. Was wissen die schon? Eine Viertelstunde vorher hatten sie Aderlass noch für eine Spitzenidee gehalten. Wie auch immer, unsere Blicke trafen sich, du warst ein hilfloses Bündel, blutig wie ein rohes Steak, und da fühlte ich diese Verbindung zwischen uns, etwas, das ich noch nie zuvor empfunden hatte.“ Gott hält inne, greift Jesus sanft an die Schulter und zieht ihn zu sich heran. „Du bist mein Ein und Alles, Sohn. Schon wenn dir nur ein einzelnes Haar gekrümmt wird, ist das wie ein beschissener Degenstich in mein Herz …“
„Oh Dad“, sagt Jesus, und während sein Blick in die Ferne schweift, findet er sich mit seiner Aufgabe ab, verabschiedet sich von den endlosen Annehmlichkeiten und Freuden, die ihn hier umgeben. Und erinnert sich daran, wie es letztes Mal da unten gelaufen ist. Wie unerbittlich sie in ihrem Hass sein können.
„Und mach dir da nichts vor: Sie werden dir wehtun da unten.“ Gott kann es nicht beschönigen. Er umarmt Seinen Sohn und flüstert ihm ins Ohr: „Aber ich werde immer über dich wachen. Und ich werde dich sicher zu mir zurückbringen …“
Mann, es ist nicht einfach, diesen Ort zu verlassen.
Auf der Erde, zweiunddreißig Jahre zuvor, in der ersten Aprilwoche des Jahres 1979, irgendwo im amerikanischen Mittelwesten, fragt sich eine Jungfrau – Gott ist oldschool -, wann sie eigentlich zuletzt ihre Periode hatte, und warum sie sich morgens so häufig übergeben muss. Jesus spürt, wie die Milliarden von Atomen seines Körpers sich voneinander lösen, als sein Vater ihn fester umarmt, jedes einzelne von ihnen eine klitzekleine Miniatur seiner selbst, und wie all diese Miniaturen sich in diesem winzigen Knötchen wieder zusammenfügen, das im Bauch der Jungfrau aus dem Mittleren Westen heranwächst.
April 1979: Also wird sie das Kind Ende Dezember zur Welt bringen. Gott will, dass der Junge genug Scheiße erlebt hat, um vorbereitet zu sein, wenn es so weit ist.
Es ist alles eine Frage des Timings.
Jesus verschwindet jetzt aus der Umarmung seines Vaters, löst sich auf, reist durch Zeit und Raum, um sich dreißig Jahre in der Vergangenheit als kleines Bläschen in einem warmen, weichen Bauch wieder zu manifestieren. Gott, der inzwischen sämtliche großen Romanciers des 20. Jahrhunderts gelesen hat, kommt eine Äußerung Nabokovs in den Sinn: „Der winzige Verrückte in seiner Gummizelle …“
Gott bewahre erscheint bei Heyne Hardcore. John Niven arbeitete viele Jahre als A&R einer Plattenfirma. Ihm gelang mit seinem Roman „Kill Your Friends“, der in der erfolgsverwöhnten Plattenindustrie der 90er-Jahre spielt, ein weltweiter Erfolg (Verfilmung folgt). Der gebürtige Schotte lebt in der Nähe von London, wo er unter anderem Drehbücher schreibt und als Journalist arbeitet. Interview und Lesungstermine: nächste Seite