Jenseits der Stille
Kommen Sie näher! Trauen Sie sich ruhig, na los! Sonst können Sie nichts hören. Stephin Merritt, 42-jähriger Songwriter der Magnetic Fields und etlicher anderer Projekte, spricht nämlich seeehr leise. Und laaangsam. Nach jedem Satz tritt Stille ein. Was nicht etwa heißt, dass seine Antwort abgeschlossen ist, sondern dass er nachdenkt, abwägt, den Kopf schieflegt, nach Wörtern sucht, auf seinem Sessel hin- und herruckelt, gähnt, sich die Nase putzt, niest.
Eigentlich hätte der kleine Mann an diesem Abend im schwulen Kreuzberger Kultladen Möbel Olfe auflegen sollen, doch erstens hat er die Grippe, zweitens Jetlag und drittens hatten die dort plötzlich schon einen anderen DJ engagiert. Stört Stephin Merritt nicht. Er lege normalerweise sowieso nicht für fremde Leute auf, sagt er, sondern meist nur für sich selbst – und ein paar Freunde. Jeden Montag um neun Uhr abends spielt er in der New Yorker „Beauty Bar“ an der East 14th Street unter dem Motto „Phantastic Invisible Tentacle“ – wie er es nennt — „psychedelische Bubblegum-Musik“.
Aber nicht zu laut, denn Stephin Merritt mag es gern leise. Wer mal ein Konzert der Magnetic Fields gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Der Grund für seine akustische Sensibilität ist ein Leiden im linken Ohr, das sich Hyperacusis nennt. „Mein Ohrenarzt sagt: ,Dir fehlt nichts.‘ Aber alle, die mich kennen, wissen, dass da sehr wohl was nicht stimmt mit mir“, grummelt Merritt. „Schrille Geräusche nehme ich lauter wahr als sie sind.und dann klingen sie verzerrt.“
Verzerrung ist auch das Stichwort, um übergangslos vom Ohr des Künstlers zum neuen Album der Magnetic Fields zu kommen. Das heißt nämlich „Distortion“, was man weniger als Albumtitel, sondern eher als Warnung lesen sollte, wie Merritt grinsend mitteilt. Das Album sei sicher eine Reaktion auf das ausschließlich mit akustischen Instrumenten aufgenommene „I“, vor allem aber eine Hommage an „Psychocandy“, das Feedback-orgiastische Debüt von The Jesus And Mary Chain aus dem Jahr 1985. „Die haben den letzten wichtigen Schritt getan, was die Produktion von Popmusik angeht“, erklärt Merritt. Und so hallen und rückkoppeln auf „Distortion“ nicht nur die Gitarren, sondern auch Gesang, Schlagzeug, Cello und Piano.
Er habe zur Zeit der Aufnahmen ein Buch über die Geschichte von Echo und Hall im Aufnahmeprozess gelesen, so Merritt. „Seltsamerweise kam der Punkt, der mich an diesen Techniken am meisten interessiert, dort gar nicht zur Sprache. Für mich ist künstlich erzeugter Hall ein perfektes Beispiel dafür, wie technologische Neuerungen völlig neue Bedeutungsschichten erschließen können. Hör dir nur mal ,Heartbreak Hotel‘ an — oh ne den Hall würde niemand verstehen, worum es da eigentlich geht. Das ist eine spezielle Form von Melancholie, die so erzeugt wird.“
Melancholie haben die Songs von Stephin Merritt natürlich schon immer verströmt-egal ob als Synthie-Pop, Bubblegum, Folk oder Showtune, ob mit den Future Bible Heroes, den 6ths, den Gothic Archies oder eben den Magnetic Fields. Zugleich war ihnen aber immer eine Kälte und Distanz eingeschrieben, die durch akustische Brechung und räumlichen Hall auf „Distortion“ nun noch verstärkt werden. Besonders, wenn Merritt seine Texte selbst in stoischem Bariton vorträgt -was er allerdings in Zukunft am liebsten lassen würde. „Ich sehe mich nicht als Sänger, sondern als Songschreiber. Wenn ich den Ausdruck ,Singer/Songwriter‘ verwenden würde – was ich in der Regel nicht tue -, würde ich den ,Singer‘ in Parenthese setzen, um ihn vom ,Songwriter‘ zu trennen. Auf ,Distortion‘ singt Shirley Simms viele der eingängigeren Stücke. Ich hoffe, dass das unser bei weitem erfolgreichstes Album wird und alle sagen: ,Shirleys Songs sind großartig‘ — so dass ich sie künftig zur alleinigen Sängerin der Magnetic Fields machen kann.“ Dann überlegt Stephin Merritt, schaut zur Decke, setzt einen neuen Satz an, schüttelt den Kopf und schweigt. Das Feedback dieser Stille hallt noch lange nach.