Jennifer Lawrence – Landei mit Babyspeck
In den USA wird Jennifer Lawrence als Schauspielsensation gefeiert. Nun startet ihr Film "Winter's Bone" auch bei uns.
Ein verwirrtes Mädchen wie Lindsay Lohan mag auch ohne Filmrollen noch so omnipräsent sein – tatsächlich bricht sich in Hollywood gerade eine Generation herausragender Jungtalente Bahn, die auf schnöden Eskapismus pfeifen, vielmehr für neuen Naturalismus stehen. Heilee Steinfeld („True Grit“), oder Elle Fanning („Somewhere“) sind nur zwei aus der Meisterklasse der Minderjährigen. Angeführt wird diese von Jennifer Lawrence aus Louisville, Kentucky. Ihre Kindheit verbrachte sie mit Reiten, Fischen, Hockey und Basketball in einem reinen Jungs-Team. Puppen und Rollenspiele waren ihre Sache nicht. „I was so dykey“, verriet sie dem amerikanischen Rolling Stone. Auch wenn sie mittlerweile nach Los Angeles gezogen sei, würden ihr bei Interviews immer noch „little redneck things“ rausrutschen. Nach einem Beispiel gefragt, antwortet sie unbedarft: „Ich steh auf meinen Bruder – solche Sachen.“
Nicht nur die Unschuld vom Lande verkörpert sie sehr überzeugend. Bereits der erste große Leinwand-Auftritt des Naturtalents an der Seite von Kim Basinger und Charlize Theron in Guillermo Arriagas „The Burning Plain“ brachte der heute 20-Jährigen 2008 beim Filmfestival in Venedig den Preis als beste Jungschauspielerin. Und auch wenn sie bei den diesjährigen Preisverleihungen trotz vieler Nominierungen gegen die von Darren Aronofskys „Black Swan“ ausgelöste Portmania keine Chance hatte, ist ihr Auftritt in Debra Graniks „Winter’s Bone“, der Ende März auch in Deutschland in die Kinos kommt, die Filmsensation der Saison.
Alles begann in einem Skiressort in Utah. Jedes Jahr, wenn in Hollywood schon die Oscars poliert werden, startet hier nämlich der Run auf die Köpfe der Zukunft. Zu Hunderten fallen Agenten, Rechtehändler und professionelle Trüffelsucher in Park City ein – und stürzen sich beim Sundance Festival auf rund 100 Independent-Filme. Man hat Phasen des Goldrausches erlebt und vergnügliche Schlachten der Produzentendynastie der Weinsteins gegen den Rest der Welt. Zwischenzeitlich gerieten Andrang und Medieninteresse so gewaltig, dass selbst Hilton-Sprösslinge und andere Popkultur-Parasiten das Rampenlicht auf der Main Street umschwirrten. Steven Soderbergh debütierte hier mit „Sex, Lügen und Video“ ebenso wie Quentin Tarantino („Reservoir Dogs“), Kevin Smith („Clerks“) oder Robert Rodriguez („El Mariachi“). Auch die Karrieren von Ryan Gosling oder Paul Giamatti explodierten in Park City.
Kurz nach Mitternacht flimmerte hier an einem kalten Januartag 2010 „Winter’s Bone“ zum ersten Mal über die Leinwand. Grimmiges Americana-Kino, reduziert in den Mitteln wie ein Moritat in Bildern, das Ganze visuell irgendwo zwischen Depressionsära der Dreißiger und Endzeitszenario in McCarthys „Die Straße“. Aber „Winter’s Bone“ spielt im Jetzt der Ozarks, einer Bergregion in Missouri im Mittleren Westen der USA. Von der Zivilisation vergessenes Hinterland, das dem Kino sonst als Schauplatz taugt, wenn Horrorgeschichten über kettensägenschwingende Rednecks erzählt werden sollen. Dabei kann die Realität ungleich gespenstischer sein. Basierend auf einem Roman von Daniel Woodrell, geht Regisseurin Debra Granik auf einen Intensiv-Trip in die bitterlich verarmte Region der Sümpfe und Trailer-Parks, in der bereits Kinder das Häuten von Eichhörnchen erlernen, damit mal Fleisch auf den Tisch kommt.
Spuren einer Kindheit verrät nur ein Rest Babyspeck in den Zügen der 17-jährigen Ree (Jennifer Lawrence), die zwei kleinen Geschwistern als Elternersatz dient. Aus der lethargischen Mutter ist alle Lebensenergie gewichen, der Vater ist verschwunden. Nichts Neues. Wie die meisten Sozialverlierer aus der Gegend ist er ins Crystal-Meth-Geschäft verwickelt. Die faktisch gesetzlosen Ozarks wimmeln vor improvisierten Drogenküchen. Organisiert wird das Geschäft von Clans mit hierarchischen Strukturen und archaischer Strenge. Was hier passiert, darüber spricht man nicht. Nicht mit engen Verwandten, schon gar nicht mit der überforderten Staatsgewalt. Doch als Ree gezwungen wird, ihren Vater aufzutreiben oder das Dach über dem Kopf zu verlieren, muss sie Antworten finden. Mit dem Mut der Verzweiflung und wie die Heroine eines modernen Western, in dem die Showdowns mit Blicken ausgetragen werden, hat sie nichts als ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Lawrence steckt in nahezu jeder Szene dieses Filmes, und selbst inmitten des starken Charakterfressen-Ensembles ist es unmöglich, ihre Figur aus den Augen zu lassen.
Kaum zu fassen zuerst, dass da ein Teenager mühelos die Empathie einer Mutter und die Erschöpfung eines erlittenen Lebens verinnerlicht. Lawrence war 17, als sie den Film drehte. Obwohl „Winter’s Bone“ eine Odyssee der Schicksalsschläge schildert und schauspielerische Gefühlsausbrüche für die Galerie geradezu aufdrängt, interpretiert sie den Part nie als Opferrolle. Zumeist nonverbal und mit trotzigem Stolz im Blick stellt sich Ree den Kämpfen mit Dealern oder Sheriffs. Klaglos steckt sie Schläge und Drohungen ein im sicheren Wissen, ja doch nichts zu verlieren zu haben. Einmal bloß entweicht am Ende ein herzerweichender Schrei, als der Druck zu groß wird und das überforderte Kind in der alten Seele ein Ventil braucht. Doch nur kurz brechen die Risse in der Deckung der Figur auf, bevor sie rasch wieder die Kontrolle gewinnt. Jennifer Lawrence beherrscht „Winter’s Bone“ mit einer Reife, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als sich frierend gegen bedrohliche Hinterwäldler zu behaupten. Gegen den Trend von „High School Musical“-Frohsinn und „Gossip Girl“-Bitchfesten porträtiert sie eine Ghetto-Jugend mitten in Amerika, der jede Coming-of-age-Romantik ausgetrieben ist.
Als Lawrence nach der Weltpremiere von „Winter’s Bone“ auf die Bühne kommt, wird sie fast vom Publikum an die Wand applaudiert. Zum Greifen spürbar ist die Geburt eines Stars, und in den nächsten Tagen trägt die Fachpresse die Kunde eines neuen Ausnahme-Talentes in die Welt. Noch ist sie ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Bei einer improvisierten Pressekonferenz ist zu erfahren, dass sie mit Unterstützung ihrer Mutter seit dem 14. Lebensjahr im Geschäft ist und sich seither recht ordentlich bei Castings durchgeschlagen hat, auch wenn es mit der erhofften „Twilight“-Hauptrolle nicht geklappt hat. Lawrence wirkt größer und weniger zerbrechlich, als es „Winter’s Bone“ vermuten lässt, und zeigt sich den Fotografen mit dem Pausbäckchen-Strahlen einer Prom Queen – auch wenn sie vor Verlegenheit keine Worte findet, als eine Welle an Komplimenten über ihr hereinbricht. Mit so einem Durchbruch war ja nicht zu rechnen.
Zu diesem Zeitpunkt kann getrost von einem kleinen Lawrence-Festival gesprochen werden, denn neben „Winter’s Bone“ stehen demnächst auch „Der Biber“ und „X-Men: First Class“ ins Haus. „Der Biber“ ist Jodie Fosters erste Regiearbeit seit über zehn Jahren und zeigt Lawrence als Tochter Mel Gibsons, der hier an Schizophrenie erkrankt und nur noch mit einer Handpuppe kommuniziert. „X-Men: First Class“ wiederum ist standardisiertes Comic-Kino mit schnittigen Kostümen und schnellen Effekten. Lawrence ist also in der A-Liga der Schauspieler angekommen. Ohne potenziellen Blockbuster geht es in Hollywood offenbar nicht mehr, und wenn man jüngste Fotostrecken sieht, auf denen die Aktrice nun auch offensiv ihre Sexualität einsetzt, wird auch der Warencharakter einer Star-Persönlichkeit evident. Hollywood ist enorm zielsicher und gewissenhaft darin, Talente erst aufzuspüren und dann denkbar weiträumig auszustellen. „Vanity Fair“-Cover, „X-Men“-Pressetour rund um den Globus, „Der Biber“ als Eröffnungsfilm des Austin-Filmfestivals – der Apparat lässt nichts unversucht, damit in diesem Sommer auch der Letzte weiß, wer Jennifer Lawrence ist.
Dass das System seine Königskinder auch rasch wieder ausspuckt, wenn die Ergebnisse nicht stimmen, dürfte auch der jungen Frau aus Louisville, Kentucky, klar sein, die einstweilen auf den üblichen Beraterstab verzichtet und das Management weiter der Mutter überlässt. „Ich würde gern behaupten können, dass ich meinen Weg besonders geschickt geplant habe“, erklärt sie und klingt dabei plötzlich wie ein alter Hollywood-Hase, „doch tatsächlich ist es natürlich so, dass ich auch nur abhängig von Angeboten bin und die Rollen mich auswählen. Ich habe genug Zurückweisung erlebt, um zu wissen, dass Glück oder Timing nicht minder ausschlaggebend sind als Arbeit und Ehrgeiz. Eine Rolle wie ‚Winter’s Bone‘ kann man nicht suchen oder konstruieren – und kein Mensch weiß im Übrigen, ob es nicht der beste Stoff bleibt, für den ich je besetzt wurde.“
Diese Bodenständigkeit, die Lawrence seit Sundance 2010 beibehalten hat, ohne ihr öffentliches Profil seither sonderlich zu schärfen, geht einher mit schauspielerischer Seriosität und grenzt sie klar ab vom gefährlichen Glamour des Geschäfts, in dem Entzugskliniken und Tabloid-Endlosschleife warten.