Jeffrey Eugenides – „Ich bin ein Beatles – Mann“
Der Pulitzer-Preisträger und Bestsellerautor Jeffrey Eugenides liebt die Fab Four, die Literatur des 19. Jahrhunderts und die deutsche Hauptstadt.
Seine Jeans sind einen Tick zu kurz, darüber trägt er ein Hemd mit Blümchenmuster. Sehr leger – aber vor allem amerikanisch. So wie das Hotel, in dem unsere Sprechstunde beim Professor für Kreatives Schreiben an der Princeton University anberaumt ist. Es liegt allerdings mitten in Berlin, der Stadt, in der US-Bestsellerautor Jeffrey Eugenides von 1999 bis 2004 lebte und weite Teile seines Hermaphroditenepos‘ „Middlesex“ verfasste. Dafür bekam er 2003 den Pulitzer-Preis. Sein neuer Roman „Die Liebeshandlung“ (Rowohlt, 24,95 Euro) erzählt die klassische Geschichte einer Dreiecksbeziehung im College-Milieu. Es treten auf: der manisch-depressive Leonard, der nach Sinn suchende Mitchell und die schöne Literaturstudentin Madeleine. Doch im Kern ist es ein Buch über Bücher, in gewisser Weise ein Kommentar zur zeitgenössischen Literatur.
Herr Eugenides, wie fühlt sich das an, wieder in Berlin zu sein?
Ich komme ja immer wieder zurück. Es fühlt sich an, als wäre ich niemals fortgegangen. Ein Teil der „Liebeshandlung“ schrieb ich vergangenen Sommer in Berlin, ich machte alle Korrekturen hier. Mein Schreiben scheint mit der Stadt verbunden zu sein.
Sie wohnten in Schöneberg, warum nicht in einem Szenebezirk?
Der DAAD (Deutscher Akademischer Austausch-Dienst) sollte sich damals um eine Wohnung für mich kümmern. Wir wussten nichts über die Stadt, aber wir wollten unbedingt im Osten wohnen. Wir hörten, das sei cooler. Aber der DAAD konnte uns dort kein Apartment besorgen, und so besorgten sie uns eins in Wilmersdorf – a very langweilig Part von Wilmersdorf ehrlich gesagt. Da wir uns vergrößern wollten, zogen wir am Ende nach Schöneberg. Irgendwann fing ich an, das Viertel zu mögen. Ich kam ja auch mit meiner Frau und meiner Tochter. Wir waren keine 25 mehr, und ich muss nicht ständig mit den Hipstern von Prenzlauer Berg abhängen. Zudem hat der Westen mehr Bäume, es herrscht diese Old-Berlin-Atmosphäre, die mir so gefällt. Langsam wurde ich ein Westie. Letzten Sommer wohnte ich in Mitte und dachte: Viel zu viele amerikanische Touristen, dabei bin ich ja selber einer.
Sie erwähnen in „Die Liebeshandlung“ Peter Handkes berühmtes Buch „Wunschloses Unglück“ über den Suizid seiner Mutter. Es endet mit dem Satz: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ Haben Sie schon alles geschrieben?
Ich beende immer dann ein Buch, wenn ich glaube, dass ich alles über das Thema gesagt habe. Ab einem gewissen Moment hat man all seine Ideen erschöpfend behandelt. Und wenn man es dann nicht seinem Verleger schickt, arbeitet man noch die nächsten neun Jahre daran.
Haben Sie denn ein Lieblingsbuch aus der deutschsprachigen Literatur?
Wie viele andere auch, bin ich ein großer Bewunderer von Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Aber leider reicht mein Deutsch nur für Zeitungsartikel.
Welche amerikanischen Autoren haben Sie nachhaltig beeinflusst?
Saul Bellow, Philip Roth, John Updike, also die Generation vor der meinen. Wenn ich ihre Bücher lese, fühle ich diese wahrnehmbare Welt. Sie macht Fiktion sehr fesselnd. Man glaubt, die Menschen in den Büchern wirklich zu sehen. Das hat eine enorme Wirkung
Sie bezeichnen sich als einen „Rekonstruktivisten“.
Ich gebrauchte dieses Wort zum ersten Mal, als ich Jonathan Franzen in der American Academy vorstellte. Er hatte gerade die „Korrekturen“ veröffentlicht. Als ich den Begriff verwendete, galt er eigentlich ihm. Was ich meinte, war, dass sich unsere Generation zurückentwickelte. Die ersten Bücher, die wir lasen, waren modernistische wie „Ulysses“. Sie haben den erzählerischen Realismus des 19. Jahrhunderts zerlegt und versuchten, das Bewusstsein abzubilden. Diese Schriftsteller – etwa Faulkner – waren damals unsere Vorbilder. Als wir mit dem Schreiben begannen, versuchten wir es zunächst auf eine experimentelle Art. Und dann las ich Tolstoi und begriff, was die Literatur des 19. Jahrhunderts wirklich ausmacht. Franzen und ich haben diesen altmodischen Weg des Geschichtenerzählens bewundert. Genau das wollten wir in die Gegenwart transportieren, ohne die alten Bücher zu kopieren. Wir wollten Bücher schreiben, die zu uns sprachen. Was ich also mit Rekonstruktivismus meine, ist, dass es beim Experimentalismus irgendwann einen Punkt für mich gab, an dem ich nicht mehr weiterkam – ohne dass alles an erkennbarer Bedeutung oder Gegenständlichkeit verloren hätte. Dann muss man die Melodie wieder zurück in die Musik holen.
Schreiben ist wie Musik?
Genau. Es ist wie mit dem Free Jazz, Anthony Braxton zum Beispiel. Da geht es irgendwann nicht mehr weiter. Aber dann hörst du Jazz aus den 50ern, und du denkst dir: „Oh yeah, that was a sweet spot!“ Und man wünscht ihn sich zurück.
Die „Liebeshandlung“ wirkt ja auch klassischer, altmodischer als „Middlesex“?
Oh nein, es gibt viele traditionelle Elemente in „Middlesex“! Wie Sie wissen, beginnt das Buch mit der epischen Geschichte von der brennenden Stadt Smyrna. Ich habe stets Traditionelles mit der Postmoderne vermischt. Beim Schreiben dieses Buches dachte ich nur daran, eine möglichst stringent erzählte Geschichte zu schreiben und ganz tief in die Charaktere einzutauchen.
Sie haben „Creative Writing“ studiert und lehren es nun an der Universität. Kann man mit Schreibregeln Talent aus den Studenten herauskitzeln?
Man muss sehr analytisch beim Schreiben vorgehen. Manchmal beginnt man damit natürlich ganz intuitiv. Nach einer gewissen Anzahl von Büchern entwickelt man von selbst ein Gespür für die Entscheidungen, die man beim Verfassen eines Romans treffen muss. Viele Studenten haben wenig Ahnung von der Literatur. Sie haben zwar Romane gelesen, aber sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Person dahintersteckt und welche Entscheidungen sie treffen musste, damit die Geschichte funktioniert und einen berührt. Ich begreife die Lehre vom Schreiben als eine Lehre des Lesens. Viele Studenten werden niemals Schriftsteller werden, dafür umso scharfsinnigere Leser. Und das wird sie in vielen Bereichen ihres Lebens weiterbringen.
Jonathan Franzen, Rick Moody, Donald Antrim und Sie, vor seinem Tod auch David Foster Wallace – man könnte vom Rat Pack der modernen amerikanischen Literatur sprechen. Wer ist der Vorstand, wer ist Frankie Boy?
Ich weiß nicht, wer von uns die Ratte ist. Wir hängen schließlich nicht ständig zusammen ab, das glauben nur Journalisten. Ich war mit Antrim und Moody auf dem College und lernte damals Franzen kennen. Wallace kannte ich nicht sehr gut. Wir haben uns ein paar Mal geschrieben und waren für eine Woche in Italien. Ich würde sie alle gern öfter sehen, aber wir sind alle so verschieden, und jeder von uns meckert, dass jeweils der andere glaube, er sei der Vorsitzende.
Jonathan Franzen schrieb nach David Foster Wallaces Tod einen großen Artikel über ihn. Die Figur des Leonard erinnert stark an Wallace. War das Ihre Art, subtil Abschied zu nehmen?
Nun, ich habe schon in den Neunzigern mit dem Buch begonnen und 100 Seiten über Leonard geschrieben bis zu jenem grauenhaften Tag, als Wallace starb. Chronologisch gesehen gibt es also keinen Zusammenhang. Wenn Wallace nicht Selbstmord begangen hätte, würden die Leser anders auf Leonard blicken. Wenn so ein talentierter Mensch stirbt, ändert dies eben ihre Sichtweise. Sie versuchen erbittert, Wallace im Buch zu identifizieren.
Haben Sie damit ein Problem?
Alles ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen: Es gibt viele Menschen, auf denen die Figur des Leonard basiert, aber alle glauben, dahinter verstecke sich Wallace. Man sollte das Buch lesen, um zu verstehen, wie unterschiedlich Wallace und Leonard wirklich sind. Komisch, dabei ist Leonard noch nicht einmal ein Schriftsteller. Es gibt nur ein paar Ähnlichkeiten wie das Bandana. Wenn ich über Wallace schreiben wollte, dann schriebe ich über einen Autor, der mit 50 aus dem Leben scheidet. Und das wäre sehr schwierig. Ich kannte ihn ja nicht einmal gut.
In der „Liebeshandlung“ erfüllen weder Wissenschaft, Religion, Literatur, ja nicht einmal die Liebe die Protagonisten. Was braucht die Menschheit?
Die Charaktere sind alle jung, sie verlieben sich und definieren die Liebe jeweils anders. Es ist eine romantische Liebe, wenn sie glauben, die andere Person besitzen zu können. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Sie brauchen eine viel differenziertere Vorstellung von der Liebe, um erwachsen zu werden.
Aber Sie glauben schon, dass jeder Mensch Liebe braucht?
Ich bin ein Beatles-Mann! Wir wollen geliebt werden und wollen lieben.