Jede Nacht ein Wunder
Juli 2005 Bruce Springsteen, damals solo auf Tournee, erklärt, warum er immer mehr hält, als er verspricht – und dafür nur ein bisschen Entgegenkommen erwartet.
Düsseldorf, Philipshalle, 17 Uhr. Bruce Springsteen macht Soundcheck, eine Dreiviertelstunde lang. Er lässt sich nicht hetzen. Vor dem Hintereingang hat er noch großzügig Autogramme verteilt, jetzt übt er „Mary’s Place“, das er abends erstmals am Piano spielen wird, und „Cross My Heart“, das dann doch nicht auf der Sedist auftaucht. Dabei hat Bruce extra noch seinen Manager Jon Landau gefragt, von welchem Album dieser Song eigentlich stamme. Bei so vielen Stücken kann man schon mal den Überblick verlieren. („Human Touch“ war’s.) Bei „I’m On Fire“ stellt er ohne große Bestürzung fest, dass hier nicht gerade ein „ambient sound“ herrscht, danach lässt er sich die Texte zu „I Wish I Were Blind“ bringen. Ein Fan hatte sich das gerade gewünscht. Er pfeift „I’m On Fire“ ein und fordert mehr Hall, probiert mal „Worlds Apart“ und „My Beautiful Reward“, mit dem er später die Show eröffnen wird. Er lacht viel und ist doch sehr konzentriert, zwischendurch steppt er ein bisschen, betont aber schnell, dass das heute Abend keine Showeinlage wird. Dann verschwindet er nach hinten.
Keine 15 Minuten später ist er bereit zum Reden. Abseits der Bühne wirkt er viel kleiner, und doch füllt er den Raum sofort aus – zumindest erlischt gleich jedes Gespräch. Er lacht über die Kerzen, die auf dem Tisch im neonbeleuchteten Raum flackern: „Fabulous, interview by candlelight!“ Er trägt ein kariertes Hemd, Bluejeans, braune Boots. Obwohl die Show schon in zwei Stunden beginnt, wirkt er erstaunlich entspannt – und ungefähr zehn Jahre jünger als vor zehn Jahren. Unglaublich. Fast 56 soll er sein.
Bruce Springsteen macht es sich auf der Couch gemütlich, das Gespräch kann beginnen.
Machst du immer so lange Soundcheck?
Kommt drauf an. Ich will eben jeden Abend andere Songs spielen, also probiere ich immer verschiedene Arrangements aus. Außerdem gibt es diesmal ja vor allem Sachen, die ich noch nicht so oft gespielt habe. Mehr von „The Rising“ und den Akustik-Alben, aber auch „Tunnel Of Love“, „Human Touch“, offbeat tracks. Ich stehe gern da oben. So komme ich in die richtige Stimmung für den Abend, es entspannt mich.
Ist eine Solo-Show anstrengender als die Konzerte mit der E Street Band?
Physisch ist es weniger anstrengend, ich bin danach physisch meistens nicht so müde. Aber mental ist es etwas ganz Anderes. Ohne die Band gibt es kein Sicherheitsnetz. Man ist ein Trapezkünstler ohne Netz, also muss man dauernd präsent sein. Es gibt ja nur ein paar Elemente, die die ganze Nacht zusammenhalten – dazu gehören auch die kleinen Konversationsteile, die alle Songs verbinden. Man hat also nie Zeit, sich zu entspannen. Wenn ich mit der Band auftrete, spielt die Musik weiter, wenn ich mal kurz aufhöre. Allein läuft das nicht!
Am meisten gefordert ist allerdings das Publikum. Das muss mir den Raum geben, damit ich diese zerbrechliche Musik entsprechend präsentieren kann. Sein Geschenk an mich ist diese große Ruhe und der emotionale Raum, den es mir zur Verfügung stellt. 7999 Menschen reichen da nicht, man braucht alle 8000, die müssen alle dabei sein. Für mich ist das ein kleines Wunder, jede Nacht. Dass es immer wieder funktioniert. Es ist wie eine Operation am offenen Herzen.
Genau so hat Bono seine Arbeit mal genannt.
Und er hat recht! Wenn man’s richtig macht, ist es so.
Gibt es Abende, an denen es nicht funktioniert?
Es ist immer anders, jede Nacht ist anders, sogar jede Stille ist anders. Aber das Wunder passiert immer wieder, und es wiederholt sich nie, es ist jedes Mal ein neues, jeden Abend entsteht etwas Einzigartiges. Deshalb heißt es ja Live-Performance. Das Einzige, was hin und wieder vorkommt: dass einer vorher zu viel gefeiert hat und nicht aufhört, Lärm zu machen. Solche Leute warne ich dann – und irgendwann werfe ich sie raus. Ich toleriere eine kleine Menge Dummheit, aber nicht allzu viel. Denn dies ist meine Stadt, hier bin ich der Bürgermeister – und leider auch der Sheriff! Manche Fans sind vielleicht einfach zu aufgeregt.
Natürlich, das verstehe ich ja bis zu einem gewissen Grad auch. Die Wurzeln des Ganzen liegen schließlich in einer Rockshow. Das Publikum ist ja im Grunde auch ein Rock’n’Roll-Publikum, das sich nur an diesem einen Abend wie ein Konzertpublikum benimmt. Man merkt das immer, wenn es am Ende doch noch zur Bühne stürmt. Die Transformation ist jedes Mal erstaunlich, ich freue mich immer wieder über die Wärme und das Entgegenkommen. Dass alle bereit sind, wirklich zuzuhören.
Wie ehrlich kann man auf der Bühne sein? Wie persönlich dürfen die Geschichten werden? Du erzählst ja manchmal von deinen Ehen und Kindern …
Auf eine gewisse Weise ist das natürlich immer die stage persona, die da spricht. Sobald man auf die Bühne steigt, taucht sie unweigerlich auf – ob es einem gefällt oder nicht! Man steht vor vielen Leuten auf einer Bühne, das ist nun mal eine Show und nicht das wahre Leben. Damit die Performance kraftvoll wird, schöpft man gleichzeitig immer aus dem eigenen Leben, aus eigenen Beobachtungen, aus den tiefsten Gefühlen und Obsessionen. Das will man ja vermitteln, deshalb ist der Abend authentisch. Aber es ist natürlich eine Performance. Ich empfinde das nicht als unehrlich. In den letzten 10, 15 Jahren haben die Menschen angefangen, Performance mit einer Art Falschheit gleichzusetzen, eine Fehlinterpretation. Ich habe Frank Sinatra kurz vor seinem Tod in Las Vegas gesehen. Da gab es all diese Show-Garnituren: Smokings, Drinks und so weiter. But when he started singing, it was real. Just real.
Gibt es Tage, an denen du gar nicht auf die Bühne willst?
Ich bin da wohl wie jeder andere: Manchmal steht man morgens auf und hat keine Lust zu arbeiten. Aber man geht dann doch hin. Ich habe ja diese Vereinbarung mit meinem Publikum und – noch wichtiger – mit mir selbst: Ich gehe auf die Bühne und versuche, so intensiv zu spielen, wie ich kann. Wenn ich mich mal schlecht fühle, hört das garantiert auf, sobald ich einen Fuß auf die Bühne setze. Das ist einfach so. Something alive takes over, everything else dissolves. What you promised your audience, what you promised yourself is larger than the daily flux of your emotions, at least for these three hours.
Wann schreibst du die Setlist für den Abend?
Das ist ganz unterschiedlich – manchmal eine Stunde vorher, manchmal nur 20 Minuten. Ich denke natürlich tagsüber darüber nach. Die Songs variieren zwar sehr, aber die Show hat eine bestimmte Struktur, die ich immer beibehalte. Verschiedene Songs erfüllen eine gewisse Funktion an gewissen Stellen, dieses Grundgerüst muss stimmen. Ansonsten erfülle ich gerne Wünsche von Leuten, die ich treffe, und manchmal fällt mir noch beim Soundcheck etwas Neues ein.
Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Blues-Version von „Reason To Believe“?
Tja, wie kam es eigentlich dazu? Bei der letzten E-Street-Band-Tour habe ich schon mit der Blues-Harp rumgespielt, aber das nicht weiter verfolgt. Diesmal wollte ich diesen tollen Sound haben, wenn das Blues-Mikro die Stimme verzerrt – wie eine Zeitmaschine, die dich zurückführt in eine Zeit, als der Rock’n’Roll aus den Feldern kam … Vor allem ist es aber auch ein Signal: All bets are off. Heute Nacht kann alles passieren, es wird keine gewohnten Rituale geben. Alles kann ganz anders klingen. Danach erwartet keiner mehr seine liebsten Hits oder eine akustische Version von „Born To Run“. So werden die Leute erst mal aus der Bahn geworfen und sind unsicher, was sie jetzt wohl noch zu hören kriegen. Sie sind überrascht. Sie erwarten etwas und bekommen was ganz anderes. Ups! Das gefällt mir.
Bei „Jesus Was An Only Son“ erzählst du zwischen den Strophen immer von dem Leben, das Jesus hätte haben können – ein interessanter Ansatz.
Die Leute verlieren sich ja in Ikonografie. Sogar Popmusiker werden zu Ikonen. Man wird simplifiziert und reduziert. Das sind die zwei Seiten der Ikonografie: Einerseits wird man auf dieses Level gehoben, das einen fast zu einem Archetypus macht, aber andererseits verliert man die Menschlichkeit. Mich hat es gereizt, mit diesem Song anders an die Sache heranzugehen. Ich wollte Jesus nicht auf das Ikonenhafte reduzieren, ich wollte die menschlichen Elemente zeigen: dass es da eine echte Mutter gab, die gelitten haben muss. Dass er ein junger Mann war, der vielleicht Familie wollte, der bestimmte Entscheidungen getroffen und dadurch natürlich viel geopfert hat. Der Film „Die letzte Versuchung Christi“ hat mich darauf gebracht. Diese Versuchung war ja, ein normales Leben führen zu können. Mit Anfang 30 fängt man doch an, sich um Dinge wie Familie und Kinder zu kümmern, man lernt sie schätzen. Das macht das Opfer umso größer.
Ich wollte auch die Kraft eines einzelnen Willens zeigen, und wie ein einziges Leben so viele Menschen beeinflussen kann … Natürlich wurde das Leben Jesu schon auf tausendfache Weise interpretiert und missinterpretiert. Ich wollte nur das menschliche Bild zurückbringen. Das hat auch gut gepasst, weil ich auf „Devils & Dust“ ohnehin viel von Müttern und Kindern erzähle.
Viele Zuhörer waren davon offensichtlich sehr gerührt – als hätten sie vorher nie über das Schicksal Jesu nachgedacht …
Genau das Gefühl hatte ich auch. Ich schätze, das ist mein Job. Die Menschen ganz alltägliche Dinge mit neuen Augen sehen zu lassen. Man versucht, die Menschen jede Nacht mit neuen Augen zu versehen, mit neuen Perspektiven. Ich will, dass die Menschen das Leben neu fühlen, dass sie es wieder zu schätzen wissen. Ich will, dass die Menschen die Halle verlassen und ein bisschen frische Luft spüren, ein bisschen neues Leben. Ich weiß, dass ich mich so fühle, wenn ich nach Hause gehe. Ich bekomme dieses Gefühl ja von ihnen zurück. Ich gehe von der Bühne und bin bereit für den nächsten Job.
Am Ende spielst du dann noch „Dream, Baby, Dream“.
Ich hab’s neulich gehört und mich natürlich daran erinnert, an Suicide in den 70ern. Ich habe Alan Vega, der das geschrieben hat, ein paarmal getroffen. Ich glaube, wenn Elvis nach seinem Tod auferstanden wäre, hätte er vielleicht wie Alan Vega geklungen. Okay, er hätte schon eine seltsame Transformation durchmachen müssen, aber da ist etwas in Alans Songs, etwas Zerreißendes, Verstörendes, das mich an manche Momente von Elvis erinnert. Und „Dream, Baby, Dream“ ist ein wunderschöner Song, um die Nacht enden zu lassen. Mir gefällt auch, dass man nach einer Nacht voll komplexer, geschichtsträchtiger Songs mit einem Lied aufhört, das im Grunde nur aus vier Phrasen besteht. Es fasst alles zusammen, die Essenz in einer ganz einfachen Form. This is basically what I’m talking about, you know?
Die Interviewzeit ist schließlich ums Doppelte überschritten, aber daran hat Springsteen selbst Schuld – eine einzelne Antwort dauert bei ihm schon mal länger als fünf Minuten. Und den Boss unterbricht man natürlich nicht.
Er steht auf, klopft sich auf die Oberschenkel, die Arbeit wartet. Auf die allerletzte Frage, ob er heute abend „Tougher Than The Rest“ im Programm habe, erwidert er: „Willst du das hören?“ Wäre schön. „You got it!“ Und tatsächlich spielt er es später, ebenso wie „Incident On 57th Street“, das er einer schwangeren Frau vor der Halle versprochen hat. Auf ihn kann man sich verlassen, wenn schon auf sonst nichts mehr. Und wer einmal gehört hat, wie bei „This Hard Land“ plötzlich alle, einfach alle aus tiefstem Herzen „Stay hard, stay hungry, stay alive!“ schreien, der weiß, dass Bruce Springsteen alles richtig gemacht hat. Dieser Mann ist nicht bloß der Boss. Er ist vor allem immer noch ein Arbeiter – im Weinberg des Herrn, auf dem Feld unserer Träume. Kleine Wunder inbegriffen.
Die Story zur Story
Beinahe hatte sich die deutsche Redaktion schon damit abgefunden, dass Bruce Springsteen immer nur mit den US-Kollegen redet, da kam der Anruf: Vor dem Düsseldorfer Konzert würde er ein Interview geben, 20 Minuten. Kurz vorher hieß es: 15 Minuten maximal! Der Boss hielt sich dann einfach nicht daran und sprach eine halbe Stunde, seine Managerin Barbara Carr nahm es gelassen hin: „Ich bin zufrieden, wenn er zufrieden ist“, sagte sie der Autorin, die auch keinen Grund zur Beschwerde hatte.