Jarvis Cocker
Der Pulp-Sänger über seine Heimat Sheffield, seine neue Arbeit als Lektor und die Synthese von Sex und Musik
Als Pulp Mitte der Neunziger ihre größten Erfolge feierten, hatte die Band Sheffi eld längst den Rücken gekehrt. In London fand Jarvis Cocker schließlich die nötige Freiheit, um auf dem Britpop-Höhepunkt doch noch den Durchbruch zu schaffen. Ein Film dokumentiert nun das Comeback-Konzert von Pulp in der hassgeliebten Heimat anderthalb Jahrzehnte später, die für den heute als Lektor arbeitenden Wahl-Franzosen Cocker trotz allem prägend ist.
„A Film About Life, Death & Supermarkets“ zeigt den letzten Tag der Reunion-Tour 2011/2012. Die Band bereitet sich gerade auf den Gig in Sheffield vor. Sie wirken sehr angespannt.
Weiß Gott. Die Konzerte in Sheffield waren immer eine Tortur. Was zum Teil mit dieser Sheffield-typischen Mentalität zu tun hat: „War ganz okay“ ist so ziemlich die euphorischste Reaktion, die man in Sheffield erwarten kann. Die Leute dort lassen sich nicht von blinkenden Lämpchen beeindrucken.
Einige Ihrer Sheffield-Konzerte gingen ziemlich in die Hose.
Ja, wir konnten uns über Katastrophen nie beklagen. Damals, in den vermeintlich goldenen Tagen des Britpop, spielten wir einmal in der City Hall. Es sollte ein glorreiches Tour-Finale werden, aber der Sound war eine Katastrophe. Bei der anschließenden Party legten wir Platten auf, aber ständig sprang die Nadel aus der Rille. Ich erinnere mich noch, dass ich mich unter dem DJ-Pult versteckte, weil ich’s nicht aushalten konnte.
Sie haben seit 25 Jahren nicht mehr in Sheffield gelebt – die Hälfte Ihres Lebens. Ist die Stadt noch immer Teil Ihrer Identität?
Ich stelle mir diese Frage, wenn ich mir meinen Sohn anschaue, der teils in Frankreich, teils in England aufwächst. Für mich ist Sheffield eminent wichtig – es ist der Boden, auf dem ich aufwuchs, um ihm dann zu entwachsen. Auch wenn ich später in London und anderen Städten Wurzeln schlug, ist Sheffield noch immer meine Heimat. Was eine frustrierende Erfahrung sein kann, aber nichts daran ändert, dass die Stadt meine Weltsicht bestimmt. Einer der erstaunlichen Einblicke des Filmes besteht für mich darin, dass all diese unnachahmlichen Sheffield-Charaktere aufkreuzen, die ich längst für ausgestorben hielt. Der Regisseur hat offensichtlich viel Zeit am Castle Market verbracht, wo ich als Teenager Fische verkaufte.
Waren Sie rückblickend zufrieden mit der Reunion?
Ich denke schon. Wir hatten inzwischen etwas Abstand zu den Songs und versuchten nicht mehr, sie den Zuschauern gewaltsam um die Ohren zu schlagen. Als wir damals die Songs zu schreiben versuchten, hockten wir halt in Rattenlöchern ohne Heizung -und irgendwie hat dieser Prozess wohl dazu beigetragen, dass einige Sachen auch heute noch relevant klingen. Insofern war es eine positive Erkenntnis, dass wir unsere Jugend nicht völlig vergeudet haben, sondern etwas hinterließen, das Substanz und Energie besitzt.
In den letzten Jahren haben Sie sich – neben der Musik – als Radiomoderator versucht, das Meltdown-Festival kuratiert, einen Gedichtband veröffentlicht – und sind nun auch freier Lektor beim Buchverlag Faber. Steht es sich besser auf vielen Standbeinen?
Es gibt im Englischen ja diesen Spruch: Jack of all trades, master of none. Dann wieder gibt es Leute, die in solchen Fällen sagen: Ah, ein Universalgenie. Ich habe keine abschließende Meinung dazu, denke aber schon, dass etwas Abwechslung nicht schaden kann. Die Beschäftigung mit Musik kann auch durchaus in emotionale Sackgassen führen. Das Großartige an meiner Radioshow („Jarvis Cocker’s Sunday Service“ auf BBC 6) ist ja die Tatsache, dass es ein sehr kommunikatives Format ist: Man bekommt spontane Reaktionen der Zuhörer, man geht auf Partys.
Haben Sie wirklich jemals eine Büro-Party besucht?
Hab ich. Bei BBC 6 gibt’s prima Weihnachtspartys, die ich gern besuche.
Im Film sprechen Sie davon, dass Pulp nicht zuletzt deshalb gegründet wurde, um Ihre Schüchternheit zu überwinden und Erfolg bei Mädchen zu haben. Hat sich an dieser Motivation im Lauf der Jahre etwas geändert?
Ich halte es durchaus für eine legitime Motivation, hoffe aber, dass inzwischen noch ein paar honorigere Impulse an ihre Seite getreten sind. Ich hatte voriges Jahr das Glück, in meiner Radioshow David Attenborough begrüßen zu können. Bei der Vorbereitung auf unser Gespräch stieß ich auf eine wirklich gelungene Dokumentation, die er unter dem Namen „Song Of The Earth“ gemacht hatte. Sie beschäftigt sich mit den Ursprüngen der Musik im Tierreich. Er kam zu dem Resümee, dass letztlich jede Form von Musikmachen eine sexuelle Komponente hat. Sieht ganz so aus, als könne man diesen Impuls gar nicht abschütteln – vor allem, wenn man wie ein Pfau über die Bühne stolziert. Auch wenn ich momentan gar nicht nach einem Balzpartner suche – ich bin in festen Händen -, glaube ich schon, dass man sich von dem sexuellen Aspekt nicht allzu weit entfernen sollte, weil man sonst wie Genesis klingt.
Welche Aufgaben haben Sie im Faber-Verlag übernommen?
Ich halte die Augen nach interessanten Schreibern auf. Dahinter steht der Gedanke, dass mir vielleicht Sachen auffallen, die andere Leute übersehen. Bislang ist ein Buch veröffentlicht worden, und zwar eine „Oral History“ der Folk-Kultur von JP Bean.
Reizt es Sie, selbst ein Buch zu schreiben?
Würde ich gern tun, aber … Es ist eine Mischung aus Faulheit und dem Bewusstsein, durch Song-Lyrics völlig verdorben zu sein. Ich lese gerade das neue Buch von Dave Eggers („The Circle“) – und das hat 490 Seiten. Die Vorstellung, einen derartig langen Atem zu haben … Ich bin eher der Typ der kurzen, abrupten Ausbrüche.
Das Interview führte Killian Fox (The Observer/The Interview People).