Jamie Lidell: Ein Mann für Millionen
Auf den Spuren von Stevie Wonder: Der heitere Soulpop von Jamie Lidell macht gute Laune
In einer besseren Welt wäre Jamie Lidell längst ein Popstar – und vom Soul infizierte Ohrwürmer wie „Another Day“ oder „Multiply“ würden, ähnlich wie Pharrells „Happy“ oder Robin Thickes „Blurred Lines“, von Millionen Menschen auf der ganzen Welt mit einem bestimmten Sommer assoziiert. Auch optisch hätte man den gebürtigen Briten doch gut verkaufen können: ein schlanker Hipster mit Kastenbrille, Dreitagebart und dem sympathisch–bodenständigen Charisma eines Könners, der sein Talent niemandem mehr beweisen muss. Und dennoch: Dazu kam es nie – und wird es wohl auch nicht mehr. Lidell ist 43 Jahre alt und veröffentlicht mit „Building A Beginning“ bereits sein siebtes Album.
2008, direkt nach der Veröffentlichung des unverschämt eingängigen vierten Werks, „Jim“, standen die großen Plattenfirmen tatsächlich Schlange, um Jamie Lidells Musik einem Mainstreampublikum schmackhaft zu machen. Da war der Künstler jedoch noch beim Indie-label Warp unter Vertrag und konnte nicht. Heute ist er froh dar-über. „Die Aussicht auf so einen Deal löst keine Aufregung mehr bei mir aus, da ich weiß, wie viel Bullshit und Abzocke da im Spiel ist. Ich behalte gern die Kontrolle über meine Master-Tapes – es ist fast so, als würde ich die Stimme von Prince in meinem Kopf hören: ‚Her mit den Master-Tapes!‘ “, ruft der seit sechs Jahren in Nashville leben-de Musiker und bricht kurz darauf in schallendes Gelächter aus, wie er überhaupt gern und viel zu lachen scheint.
Zu unberechenbar für die Major-Labels
Dem Mainstream-Erfolg ebenfalls im Weg gestanden haben mag, dass Lidell immer etwas zu unberechenbar für die Zielgruppen großer Major-Labels war. In seinen Berliner Jahren (von 1999 bis 2008 lebte er in Kreuzberg) veröffentlichte er als Teil der Subhead-Crew harten, düsteren Techno und zusammen mit seinem mit Cristian Vogel gegründeten Duo Super Collider vertracktesten Cyber-Soul. Mit dem 2005 veröffentlichten Soloalbum „Multiply“ kam dann dieser überlebensgroße Gospelpop hinzu, der Lidell offenbar so leicht von der Hand ging, dass man nie recht wusste, ob das alles nicht vielleicht nur aus alten Versatzstücken am Computer zusammengesampelt war. Dass diese Musik dann auch noch auf dem Elektro-Label Warp erschien, Förderer von IDM-Pionieren wie Aphex Twin und Autechre, trug dazu bei, dass man Lidell schwer greifen konnte und viele ihn ignorierten.
„Building A Beginning“ ist nun das erste Album, das auf seinem eigenen Label, Jajulin Records, erscheint. Von Warp hat Lidell sich nach 14 Jahren getrennt. „Für mich fühlte es sich so an, als wären wir einfach keine aufregende Kombination mehr“, resümiert er. „Theoretisch hätte ich noch ein Album für sie machen müssen. Aber sie ließen mich gehen. Einfach so.“
Kein musikalischer Neuanfang
„Building A Beginning“ ist dennoch kein musikalischer Neuanfang. Im Mittelpunkt steht wieder Lidells patentierter Modern Soul, der hier endlich die Mitte findet zwischen der Wärme von „Multiply“ und der Tiefe seines von Beck koproduzierten Albums „Compass“. Elektronische Elemente finden sich nur sehr subtil in Form von 80er-Jahre-Synth-Flächen, dennoch klangen Lidells Kompositionen nie so vielschichtig und gleichzeitig so homogen wie hier. Anders als beim schlicht „Jamie Lidell“ betitelten vorigen Album hat der leidenschaftliche Beat-Boxer seine Studiotüren außerdem wieder einer großen Zahl von Gast-musikern geöffnet, darunter der D’Angelo-Bassist -Pino Palladino und Pat Sansone, der sonst alle möglichen Instrumente bei Wilco bedient. „Eine großartige Gruppe“, sagt Lidell stolz. „Ich konnte sogar Chaka Khans Backgroundsängerinnen gewinnen.“
Der Neuanfang, den Lidell im Titel des Albums anspricht, bezieht sich auf die Geburt seines Sohns, Julian, dem er auch einen Song gewidmet hat. „Ich bin vor neun Monaten Vater geworden. Ein totaler Neuanfang, ganz offensichtlich“, so Lidell. Vor allem für ihn selbst: „Ich bewundere, wie offen Julian mit seiner Umwelt umgeht, und versuche ein bisschen so zu werden wie er. Mir gefällt der Gedanke, dass jeder Tag voller neuer Möglichkeiten steckt, statt nur eine weitere Wiederholung zu sein. Wir haben diese Offenheit noch in uns, wenn wir nur einmal unsere Abgestumpftheit ablegen.“
Familienalbum aus Nashville
Wie ein Großteil der Lyrics auf „Building A Beginning“ stammt der Songtext zu „Julian“ von Lidells Frau, der Künstlerin Lindsey Rome, die er in Nashville kennenlernte. „Manche Texte hat sie direkt nach der Geburt geschrieben. Es ist toll, so eng mit ihr zusammenzuarbeiten. Wir haben ein kleines Haus in Nashville, da ist mein Studio, dort leben wir in unserer kleinen kreativen Welt. „Building A Beginning“ fühlt sich deshalb auch ein bisschen wie ein Familienalbum an. Oder wie Homecooking“, sagt Lidell und lacht wieder laut auf.
Ein anderer großer Einfluss auf das lebensbejahende siebte Album sei die Musik von Stevie Wonder gewesen, erklärt Lidell, als er sich wieder gefangen hat. „Ich mag es, wie Stevie über sein Leben schrieb. Außerdem ist er neben Sly Stone so ziemlich der Einzige, der aufheiternde, positive Songs schreiben kann, die man sich freiwillig anhören will.“ Dass ihm selbst auf „Building A Beginning“ wieder einige von dieser Sorte gelungen sind, darüber schweigt Lidell bescheiden. Die Welt wird es schon noch irgendwann herausfinden.