Jäger des verlorenen Schatzes
Die Wer ihn lange genug sucht, wird ihn finden. Aber nur derjenige, der seine Botschaft zu übersetzen und seine Schönheit zu erkennen vermag, wird seine ewige Kraft spüren und gänzlich erleuchtet. Die Rede ist vom Northern Soul. Zu finden war er in diesem Frühling zum Beispiel beim "Soul Shakers Weekender" in Bamberg...
„Niemals!“, ruft DJ Marc Forrest und blickt erschrocken von seinen Turntables auf, während er hunderte von Tanzwütigen mit Tunes füttert. „Bootlegs sind ein absolutes No-Go! Ich spiele ausschließlich originale 7-Inch.“ Eingeloggt. Nur Originale. Eintrag ins Vokabelheft: 7-Inch. Die kleinen Platten aus schwarzem Vinyl mit den empfindlichen Rillen drin, die man mit 45 Touren abspielen muss – das Medium für Popmusik in den Sechzigern. Als Marc in seinen Kopfhörer hineinlauscht und den nächsten Song anschiebt, hüpfen auf dem Parkett vor ihm die Koteletten. In atemberaubender modischer Artenvielfalt kreiseln 3-Knopf-Anzüge um hochgebundene Kleider, tummeln sich Krawattennadeln mit Bowlingshirts, werden Hosenträger von Nick-Knatterton-Mützen umgarnt und amüsieren sich Tollen mit Mofahelmfrisuren. „Die Leute kommen teilweise aus Spanien und Portugal, weil sie wissen, dass ein bestimmter DJ eine ganz seltene Platte aufgestöbert hat und sie diese hier zu hören bekommen“, legt Marc nach. Sekunde. Sechziger o.k., 7-lnch o.k., aber Portugal? „Vergiss, was du bisher über Partys gelernt hast. Bei unseren Soul-Weekendern haben wir es mit einem extrem anspruchsvollen, detailverliebten Szenepublikum zu tun. Die Leute hören es, wenn man Kopien spielt, wegen des Qualitätsverlusts. Verstehst du?“
Nö. Was bitte veranlasst einen Menschen, 4.000 Kilometer von Portugal zu einer Party nach Bamberg zu fahren, um ein drei Minuten langes Stück Musik zu hören? Liebe nimmt bizarre Formen an, das weiß man. Liebe besetzt Menschen. Sie bewohnt, sensibilisiert und motorisiert sie. Sie gibt ihrem Leben einen Sinn. Die besagten Wesen mit den unüblichen Reisegewohnheiten stellen unmissverständlich klar: Die Wirkung eines solchen Soul-Songs, seiner Töne, Worte und Rhythmen ist eine fahrlässig unterschätzte Form von Liebe, deren Macht die meisten erst noch erkennen und erfahren müssen. Eben jene Erdenbewohner, die Soulies, sind hier bereits angekommen. Haben ihre Hörgewohnheiten hinterfragt und ihren Geschmack renoviert. Ein Refugium gesucht und eine Familie gefunden. Und jede Menge Antworten. All dies in einer seit über 30 Jahren lebendigen, sich laufend selbst aktualisierenden Subkultur. Die Wertschätzung gegenüber seltener, gehaltvoller, tief schwarzer Musik scheint an keinem Ort der weißen Welt ausgeprägter und reflektierter als hier: im Rare Soul.
Rare Soul macht sich rar
Damals, zu eben jener Zeit der 7-Inch-Single in den Sechzigern, dominieren amerikanische Super-Schwergewichte wie Wilson Pickett („Land Of 1.000 Dances“), Ray Charles („Hit The Road, Jack“) und Otis Redding („Mr. Pitiful“) den Soul-Markt. Die großen Plattenfirmen heißen Atlantic (New York), Stax (Memphis) und Motown (Detroit), ringen um die Vorherrschaft in dieser Ära und prägen deren Klangästhetik und -landschaft maßgebend. Bis heute ist etwa der Begriff „Motown-Sound“ fester Bestandteil des Spickzettels eines jeden Musikproduzenten, bringt er doch die Mischung urbaner Beats mit herzblutigen Stimmen und fitzelig verhallten Gitarren auf den Punkt. Das Spannende: Parallel zu jenen kommerziellen Genre-Kolossen versuchen damals auch kleine Labels ihr Glück, jedoch – und hier wird der Rare Soul zum ersten Mal definiert – mit bedeutend geringeren Budgets für Produktion und Marketing. Kaum eine ihrer Platten klettert in die Charts, viele werden gar von vornherein in sehr überschaubaren Stückzahlen angefertigt oder lediglich zu Promotionzwecken produziert und bald wieder verworfen. Musikalisch fehlt dem Rare Soul nichts, was ihm der Mainstream voraus hätte. Im Gegenteil: Seine Produktionen bieten viel emotionale Tiefe bei enormem Potenzial an Melodien und Tanzbarkeit, während sich ihr Sound nicht auf die breite Masse und das Radio ausrichtet, sondern sich seine Rauheit und Urbelassenheit bewahrt. Oder besser: bewahren muss.
Kurioserweise ist für die Blüte und das Begreifen des Rare Soul nicht etwa sein Mutterland verantwortlich, sondern der unbeugsame Stamm eines konservativen Eilands auf der östlichen Seite des großen Tümpels: Als im London der Mittsechziger, damals das Barometer der Popkultur, die ursprüngliche Modszene abflacht, wird der Rare Soul zum zweiten Mal definiert. Ska und Rocksteady, dazu Flower Power und Psychedelia, verändern das Innenleben vieler einstiger Mod-Clubs und schieben den R’n’B-verwurzelten Soul von der Fahrbahn. Einige trendresistente Kleinstädte im Norden Englands sind jedoch schlichtweg dagegen. Sie trotzen dem Wankelmut der Metropole im Süden, etablieren heute legendäre Clubs wie das Blackpool Mecca in Bolton, das Twisted Wheel in Manchester, das Golden Torch in Stoke, das Mojo in Sheffield, die Catacombs in Wolverhampton oder das Wigan Casino, das später zum besten Club der Welt gewählt wird. Sie spielen weiter ihre Platten, als wäre nichts gewesen, und müssen ihren Hunger nach adäquatem Ohrfutter für die kommenden Jahre stillen. Die wichtigsten Kriterien auf ihrer Suche
schon wieder bremsen musste. Aber es ist so sind Ungeschliffenheit und kommerzielle Irrelevanz. In diesem Moment schlägt die Stunde jener kleinen amerikanischen Labels, die zuvor vergebens versucht haben, ihre Musik einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Bis dato von der Öffentlichkeit kaum bis überhaupt nicht wahrgenommene Platten werden in den hintersten Ecken der Lagerräume ausgebuddelt, abgestaubt und nach England geschickt, bisher erfolg- und teils gar namenlose Interpreten gelangen zu unverhoffter Aufmerksamkeit und werden im Norden der Insel gefeiert wie der Papst in Polen. Der Rare Soul ist in Form gegossen und auf „Bleiben“ gebürstet. In den nördlichen Ländereien der Königin wächst er zum Liebhaber-Objekt, das seine Faszination auch nach Mitteleuropa hinüberweht und sich 1970 auf eine Kolumne des Plattenladenbesitzers und Soul-Gurus David Godin im Blues Et Soul Magazine hin fortan treffend in „Northern Soul“ umbenennt.
Allnighter und Weekender
Der Northern Soul krallt sieb im Rücken neuer Strömungen fest, ernährt sich von sich selbst und scheint unkaputtbar. Er lebt über all die Jahre bis ins 21. Jahrhundert weiter – als Randerscheinung, als Subkultur, wie Schimmel hinter der Waschmaschine des großen medialen Pop-Weichspülers. Heute ist er bis unter seine Wurzeln überzogen mit all den pieksigen Dornen, die eine Underground-Szene ausmacht. Seine Anhänger folgen Dresscodes: Je nach Nischen-Zugehörigkeit erspäht man Mods in schmal geschnittenen französischen Anzügen in Gilb-Gelb mit schräg angelegten Seitentaschen und zusätzlicher Tickettasche oder Tonic-Suits mit Glanzeffekt; die so genannten smarten Skinheads hüllen sich in Hemden von Ben Sherman oder Fred Perry und Star-Prest-Jeans mit Bügelfalte; Rockabilly-Guys bevorzugen Bowlingshirts und dunkelblaue 501 mit Riesenkette am Geldbeutel; 70er-Soulies präsentieren schwarze Elefantenhosen und weite, elfenbeinweiße Hemden, Mädels wagen von Mary Quant inspirierte Kleider, und tatsächlich gibt es auch ’normal‘ Gekleidete. Zudem wird ein grundlegender Tanzstil angeboten, der eher an einen beschwipsten Spaziergang erinnert als an wildes Abhotten und somit Einsteigern und Schüchternen den Gang auf die Tanzfläche erleichtert. Da man im Gegensatz etwa zum Rock’n’Roll überwiegend partnerfrei tanzt, findet man als Hingucker und allgemeines Gesprächsthema auf jedem Weekender auch Parkettakrobaten, die sich derart turbulente Drehungen und Spagate aus ihren rutschigen Wildlederschuhen zapfen, dass einem schon vom bloßen Zusehen die Leiste pochert. Kurzer Eintrag ins Vokabelheft: Allnighter = Soul-Party bis in die frühen Morgenstunden. Weekender = mehrere Allnighter hintereinander, ohne Rücksicht auf die Belange der eigenen Leber oder die des Arbeitgebers am Montag danach.
Das Schönste: Diese Subkultur möchte gar nicht entdeckt werden. Sie weigert sich sogar, um jeden Preis zu wachsen. Denn nur, wenn sich der Nachwuchs qualifiziert mit dem Thema auseinandergesetzt hat, Platten, Interpreten und Zusammenhänge bis ins kleinste Detail eingeatmet hat und vor allem genügend Herzblut mitbringt, ist das Überleben der Szene gesichert. Zwar geht man meist offen auf Gäste zu und versteht es als seine Pflicht, Wissen und Begeisterung zu vermitteln. Jedoch vermeidet man tunlichst, vom partywütigen Normalo-Volk überfallen und kommerzialisiert zu werden. Über Allnighter und Weekender erfährt man fast ausschließlich per Mundpropaganda oder in privat gebastelten Fanzines sowie Websites. Auf einer Soulparty landet man nicht zufällig – man muss es wollen, wird empfohlen oder von befugter Hand mitgeschleppt und verdient es sich durch echte Gefühle für die Musik. Wer dabei war, kann sich ein Patch zum Aufnähen kaufen und sich kennzeichnen. Mangelnder Respekt in Kombination mit übertriebener Belustigung und grob ignorantem Missachten der Regeln kann je nach Ausrichtung der Veranstaltung zu Unmut oder sogar direkten körperlichen Sanktionen führen.
Goldschürfer mit Italo-Tretern
Unser Soul Shakers Weekender in Bamberg ist jedoch ein völlig ungefährliches, durchweg offenes Event, bei dem der gesamte Wanderzirkus und all die Facetten der Soulszene
Barometer der Popkultur, die ursprüngliche Modszene zusammenkommen: Die Fabelwesen mit dem eigenwilligen Klamottengeschmack, der beherzte Tanzstil und jede Menge fundierte Gespräche über 7-Inches. Man kennt sich, begrüßt sich, freut sich. Wie bei einem Familientreffen. Allesamt tragen tanzfähige Behufung, sprich Italo-Treter mit glatter Sohle oder herkömmliche Turnschuhe. Stets allgegenwärtig ist die Nähe der Menschen zur Musik: Spielt ein DJ ein besonders seltenes und somit wertvolles Stück oder begeistert er das Publikum mit seiner gelungenen Auswahl, so erntet er nach dem Song honorierenden Applaus. Wohl gemerkt: Applaus. Für einen DJ. „Man möchte dem jeweiligen Stück die Ehre erweisen und dem DJ dafür danken, dass er die Platte gefunden, bezahlt und in diesem Moment gespielt hat“, erklärt Marc Forrest dieses Phänomen.
Um eine seltene Platte aufzuspüren, mutiert ein DJ mehrmals im Jahr zu einer Mischung aus einem Trüffelschwein und Indiana Jones. Er fliegt um die Welt, durchforstet Kellerräume und Dachböden, krempelt Second-Hand-Läden um, macht sich auf Trödelmärkten unbeliebt und fragt sich solange durch, bis endlich das rote X auf seiner Wegkarte steht. Und er hat seine Dealer, deren Koordinaten er geheim hält. „Ich persönlich bin früher viel durch die Second-Hand-Läden Berlins gestiefelt. Die ganzen amerikanischen Soldaten, die damals noch bei uns stationiert waren, haben ihre Platten hier gelassen oder verkauft. So fand man eine Weile lang beim Trödler absolute Raritäten zu ganz kleinen Preisen, weil die Platten in den Augen der Händler nichts wert waren. Heutzutage nimmt mir eBay einen Großteil der Arbeit ab“, berichtet Marc und erinnert: „Teilweise sind die Platten ja einst für Promozwecke gepresst und nicht veröffentlicht worden. Bei vielen Exemplaren ist das tatsächliche Issue die noch rarere Version. Besonders die kleinen Labels hatten keine finanziellen Vermarktungsmöglichkeiten und haben daher nur sehr geringe Stückzahlen in den Handel gebracht, die dann größtenteils unbeachtet blieben. Die Promo-Copies sind bei den Radiosendern und DJs gelandet und haben überlebt. Heißt: Die Issues sind extrem selten.“ Er selbst hat sich im Laufe der Zeit über 4.000 Singles zusammengeschnüffelt, die er allesamt beim Vornamen kennt und komplett überschaut. Besonders stolz ist er zum Beispiel auf das rare „Bernadine“ von The Turbines und „They Didn’t Know“ von Terry Goodnight. Der Berliner hütet seine Babys wie der Teufel den Schnaps: in speziellen Cases aufbewahrt, stets gründlich gereinigt und angemessen hoch versichert.
In einem Punkt unterscheidet sich der Northern Soul ganz wesentlich von anderen Szenen wie etwa dem Rock’n’Roll oder Ska/ Reggae: Er besitzt Selbstheilungskräfte. Auf ihrer unermüdlichen Suche nach Rohdiamanten und durch noch immer unentdeckte Quellen richten die DJs den Fokus ihrer Anhänger regelmäßig auf nie gehörte Songs, stellen ständig neue Hitlisten auf und aktualisieren diese Kultur fortwährend. „In England kommt es sogar vor, dass die Top-DJs neu entdeckte Platten sofort haben möchten, und da dies mit viel Renommee und hohen Ausgaben verbunden ist, kann es passieren, dass du das selbe Stück an einem Abend vier bis sechs mal hörst“, gibt Marc lachend zu Protokoll und ergänzt: „Für die Arbeit eines DJs ist es wichtig, dass du die Stücke ausspielst. Die Leute kommen wegen der Musik von weit her. Brichst du einen Song vorzeitig ab, brichst du ihnen das Herz. Verstehst du?“
Absolut. Was „diese Leute“ gesucht haben, ist ein Sinn, eine Lebensgrundlage. Was diese Leute im Northern Soul gefunden haben, ist Echtheit, eine Identität, eine Aufgabe. Und was sie nun mit aller Kraft zu hüten und zu pflegen versuchen, ist wiederum die Lebensgrundlage aller Musik: Die Liebe zu ihr.
Herzlichen Dank für die tatkräftige Unterstützung bei meinem ersten Ausflug in den Northern Soul an Andi Schmitz, Northern-Soulie und wichtiger Ideengeber.