Ja is denn heut scho Weihnachten?
Also: Erstmal bin ich heilfroh, dass ich überhaupt noch lebe. In einem kleinen schwäbischen Dorf, meiner Heimat, war wirklich erst nach 0 Uhr des Jahres 2000 n. Chr. klar, dass die Welt nicht untergegangen ist. Man kann also sagen, das Jahrzehnt fing soweit ganz gut an. Und es ging genauso weiter: Das Geknalle und die Sektkorken noch in den Ohren, startete ich ins Kommunikationsjahrzehnt. Wobei ich damals noch nicht ahnte, was noch kommen würde.
Nein, vielmehr kam ich zu meinem Handy, das sich bis dato nur wirklich wichtige Leute ans Ohr halten durften, weil der Kaiser mich kurz vor Weihnachten schwindelig gequatscht hatte. Heute weiß ich natürlich, da man hinterher immer schlauer ist, dass Franz Beckenbauer uns in eine neue Ära überführt, ja uns in gewissem Sinne entwicklungstechnisch betrachtet eine Stufe höher geschossen hat. Die Initialzündung war: „Ja is denn heut scho Weihnachten?“. Dass seitdem alles anders ist, ist völlig klar. Das Handy ist keine Telefonzelle mehr, und was früher keinen Anruf wert gewesen wäre, ist heute ein mittelschwerer Notfall. Und warum? Weil man es kann. Man kann einfach mal durchklingeln und sagen: „Ich wollt nur schnell sagen falls gleich irgendwas is, bei mir is jetzt gleich der Akku leer.“
Fünf Jahre zurück, da war Telefonieren noch richtig teuer. Flatrate war damals Science-Fiction-Stoff, telefonisch und alkoholisch. Man hätte es ahnen können, jeder weiß: „Was der Kaiser anpackt, wird zu Gold.“ Dass er das goldene Zeitalter der modernen Kommunikation eingeläutet hat, das konnte keiner absehen. Seitdem ist die Sache natürlich ein Selbstläufer. Immer erreichbar und für den Notfall immer das Handv im Anschlag, das sind gewohnte Bilder des modernen Alltagskämpfers. Das hat natürlich auch Nachteile. Manch einer kommt vor lauter Telefoniererei nicht mehr dazu, der Wurstverkäuferin zu sagen, welche Wurst es denn sein darf. Die wehrt sich nach Kräften. Neulich sehe ich eine, die einfach sagt: „Ich bediene Sie, wenn Sie fertig sind mit Telefonieren.“ Aber Recht hat sie, Höflichkeit muss sein.
Die Befeuerung des ständigen Austausches, der ewigen Erreichbarkeit, wurde auch durch den Begriff „online“ gefördert, als seinerzeit ein gewisses Internet für weitere, ungeahnte Möglichkeiten sorgte. Am Anfang war es noch harmloses Googeln. Wegweisend damals. Bald allerdings nur noch Wegweiser, als schnell klar war, dass Seiten selbsttätig angesurft werden können. Da verselbständigte sich das Internet. Und auch die Wahrnehmung des Users. Die Welt steht mir offen, immer und überall, und im Prinzip ist jetzt wirklich alles möglich. Spätestens seit ruckelfreie Bilder gefunden werden konnten, ist sicher: Das ist jetzt aber mal das ganz große Ding, dieses Internet! Bewegtbild und so – das wird die Welt bewegen. Hatte ich schon erwähnt: natürlich immer und überall.
Dieses Jahrzehnt in enger Zusammenarbeit mit besagtem Internet hat die Masse zum Individuum gemacht. Jeder hat eine Stimme und jeder kann gehört werden, und Information ist nichts mehr von wenigen Privilegierten für die große Masse da draußen. Information liegt heute im Auge des Betrachters, und wer was weiß, der hat die Möglichkeit, es kund zu tun. Eine unfassbare Bereicherung für uns alle. Wobei ich hier eine kleine Einschränkung vornehmen möchte: für den, der hauptsächlich über sich Bescheid weiß, angefangen bei der BH-Größe bis hin zum letzten Lover. Cool, aber da hebt der Onkel Datenschützer den Zeigefinger. Darf halt hinterher keiner sagen, er hätte es nicht gewusst. Aber auch das ist am Ende und unterm Strich ganz freiwillig entschieden: Freiheit! Freiheit, die es so vorher und im World-Wide-Ausmaß einfach nicht gab. Meinung und das Recht auf Meinungsfreiheit bekommt da gleich eine ganz neue Dimension. Jeder ist wichtig, und zwar genauso wichtig wie unwichtig. Das ist jetzt eben die Kehrseite der Medaille.
Interessant, wenn auch nicht repräsentativ, ist in meinem Umfeld das Phänomen der Vereinsamung. Nein, vielmehr die Angst vor der Einsamkeit. Beobachtet vor allem in meiner Generation. Paradox eigentlich. Jeder hat so viele Freunde wie nie geadded, und die Möglichkeiten, nicht alleine sein zu müssen, sind so grenzenlos wie das Netz. Die große Auswahl mag verunsichern, deshalb möchte ich ein positives Beispiel bringen. Paula lernte irgendwann Holger kennen. Auf Nachfrage, wie das verliebte Paar – sie aus Halle, er aus Bielefeld – in die Zweisamkeit gefunden habe, kommt zutage, dass sich beide (es versteht sich: zum ersten Mal und nur mal so zum Gucken, was das da so für Freaks auf diesen Seiten sind) zufällig zur selben Zeit auf der Homepage eines Radiosenders befanden. Und ob dieser ersten Gemeinsamkeit („Wir sind beide zum ersten Mal hier und sonst, außer uns, nur Freaks, oder?“) ins schriftliche Plaudern kamen. Sie haben gechattet, wie man korrekt sagt. Ich meine, also wirklich, man mag heute darüber lachen, aber man wähnte doch früher wirklich nur die Perversen oder die sehr Verzweifelten auf diesen Seiten. „Wer sonst keinen findet“ oder „mit dem kann ja was nicht stimmen, wenn der da suchen muss“. Derart. Ich find es nicht nur rosig, dass Paula und Holger mittlerweile nach fünf Jahren geheiratet haben. Nein. Sondern auch, dass es mittlerweile, in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die Möglichkeit gibt, im Internet die große Liebe zu finden. Und zwar immer und überall. Für mich hat das Internet die beachtlichste Entwicklung hingelegt.
Was ich auch trendy finde, ist, dass mittlerweile jeder, der drei Zeilen geschrieben hat, auf Lesereise geht. Vielleicht sollte ich mit diesem Text schon mal die ersten Hallen buchen…
Kathrin Bauerfeind, 27, reüssierte zunächst mit dem Internet-Format „Ehrensenf“ und arbeitet heute als Moderatorin fürs Fernsehen sowie im Team von Harald Schmidt. Die diplomierte Journalistin betreut zudem das Popkulturmagazin „Bauerfeind“.