Ist Nagelsmann wirklich der Heilsbringer für die Nationalelf?

Rückblick 2023: Der Laptop-Trainer ist jetzt als Therapeut gefordert.

Wo Julian Nagelsmann jetzt wohl wäre, wenn er das Angebot des DFB ausgeschlagen hätte? Auf der nächsten Urlaubsreise mit der Freundin oder wieder im Dienst eines Großklubs? Bevor er im September beim Verband den Vertrag unterzeichnete, hatten Vertreter seines Managements wissen lassen, ihr Mann habe diesen Job keineswegs nötig. Spätestens im Herbst werde es für Nagelsmann, 36, wieder Angebote aus den besten Kreisen in Europas Klubfußball geben. Schon im Sommer hatte er mit mehreren ausländischen Spitzenvereinen gesprochen.

In Wahrheit hatte sich Nagelsmann längst unwiderstehlich in die Idee verliebt, Bundestrainer zu werden. Sein kerngesundes Selbstbewusstsein, die ihm eigene Abenteuerlust und die Aussicht, im Erfolgsfall unsterblich zu werden, ließen keinen Platz für Zweifel. Bevor er das spontane Comeback wagte, beschäftigte ihn bloß eine Sorge: Würden ihn die Leute auch so ins Herz schließen wie den Volkshelden Rudi Völler, der als Aushilfsteamchef beim 2:1‐Sieg gegen Frankreich von Publikum und Medien so sehr gefeiert wurde, dass es ihm selbst peinlich war?

Völler sitzt Nagelsmann im Nacken

Inzwischen hat Nagelsmann im Schnelldurchgang die Extreme im Leben eines Bundestrainers kennengelernt. Nach der ersten Länderspielrunde galt er als der Mann, der mit Kompetenz, Verstand und Coolness das heilige Unternehmen Nationalelf saniert. Nach dem zweiten Einsatz sieht er sich mit Kritik, Kampagnen und Ultimaten konfrontiert. Das 2:3 gegen die Türkei und das 0:2 in Österreich ließen seine Beliebtheitswerte abrupt sinken, von den Alt-Stars im Fußballfernsehen gab es vereint Kontra. Und Stefan Effenberg sprach prompt den sensiblen Punkt an: Nagelsmann sitze „mit gefühlt fünf Laptops“ auf der Bank, „ein Rudi Völler hat so etwas nie gebraucht“.

Julian Nagelsmann war lange genug Angestellter des FC Bayern, um diese öffentlichen Rituale von Anklage und Verurteilung kennenzulernen – bis ihn die Münchner im April rauswarfen, obwohl sie die Gründe selbst nicht so genau benennen konnten. Er war geschockt, doch sein inneres Gleichgewicht blieb intakt.

Nun muss er allerdings einsehen, dass er die Krise der Nationalelf und ihre tiefenpsychologische Dimension unterschätzt hat. Er ist jetzt als Therapeut und Instrukteur gefordert, aber um den Spielern im Notstand wieder Grundvertrauen und Grundbegriffe der Teamarbeit zu vermitteln, muss er seinen intellektuellen Fußballverstand disziplinieren. Um Einfachheit zu lehren, muss er sich erst mal selbst reformieren. Nicht nur sein methodisches Repertoire, auch das Renommee steht auf dem Prüfstand.

Wird Nagelsmann im nächsten Sommer wieder so gefragt sein auf Europas Spitzentrainermarkt? Das Comeback wird zum Staatsexamen.

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