Ist Britpop schuld am Brexit-Desaster?
Vor 26 Jahren erschien die Debütsingle von Oasis, und Blur gaben mit „Parklife“ den Startschuss für Cool Britannia. Plötzlich war man wieder wer. Die Protagonisten des neuen kulturellen Selbstbewusstseins antichambrierten bei Premierminister Tony Blair. Vielleicht war das der Beginn des heutigen Separatismus. Ein Frontbericht aus London
1995 war Caitlin Moran gerade erst 20 und noch lange keine weltberühmte feministische Buchautorin, aber längst ein etablierter Star in der schnellen Welt des britischen Musikjournalismus. Als solcher begleitete sie Blur, die aktuellen Spitzenreiter der britischen Charts, auf ihrer „Seaside Tour“, einem Triumphzug entlang der von großen Acts sonst gemiedenen, in Überalterung erstarrten Seebäder der englischen Küstenstädte.
An einem lauen Septemberabend saß sie also mit den Bandmitgliedern in einer Hotel-Lobby in Eastbourne herum, als Bassist Alex James im „Observer“ einen Artikel über ihre Erzrivalen Oasis las. „Für den Gitarristen hab ich was über, und der Schlagzeuger soll ein netter Kerl sein“, wurde Noel Gallagher darin zitiert. „Aber der Bassist und der Sänger, ich hoffe, dass die sich Aids holen und sterben. Ich hasse die beiden!“
Als James das gelesen habe, erzählt Moran, „stand er auf und ging geradewegs aus dem Hotel und über die Straße an den Strand. Sein Presseagent rief ihm hinterher: ,Alex, komm zurück!‘ Wir dachten alle, er würde Selbstmord begehen. Er hatte nur eine Flasche Champagner und eine Zigarette bei sich. Also liefen wir alle runter zum Strand. Da steckte die Flasche im Sand, und alles, was man sehen konnte, war dieses orangene Funkeln einer Zigarette weit draußen im Meer. Wir riefen: ,Alex, komm zurück, bring dich nicht um!‘ Und dann sah man diesen orangenen Punkt eine Wendung machen. Er kam zurückgeschwommen, stieg unglaublich elegant aus dem Meer, hob die Flasche auf, nahm einen Schluck und sagte: ,Sollen wir noch eine Runde Pool spielen?‘ “
AmazonDie fernen 90er-Jahre in Großbritannien, sie waren so anders als das Heute. Todeswünsche wurden einem nicht per Twitter, sondern per Sonntagszeitung ausgerichtet. Andere Dinge dagegen kommen einem von der Gegenwart her sehr bekannt vor: Die romantische Idee, dass ein selbstbewusstes Großbritannien sich seine Pop-Welt so wie einst in den goldenen Sixties wieder ganz selbst erschaffen könnte, hatte in ihrer Ausführung längst verschüttete, uralte Kollektivneurosen offengelegt und zu einer bitteren Spaltung der Nation geführt.
Blur vs. Oasis
Jeder hatte sich zu entscheiden zwischen den bourgeoisen Besserwissern aus dem Süden und den proletarischen echten Kerlen aus dem Norden, und je länger dieser Konflikt andauerte, desto tiefer verbohrte sich seine Austragung in faktenbefreite Klischees. (Auch Blur waren zur Hälfte Working Class, aber im Unterschied zu Oasis lasen sie Bücher und hatten Kunst studiert; das allein machte sie des Elitarismus verdächtig.)
Zugegeben, damals ging es bloß um Musik, in der heutigen, aufgeheizten Brexit-Debatte dagegen um die Zukunft des ganzen Landes. Doch ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Höhepunkt des Britpop-Booms – Blurs „Parklife“ stieg am 25. April 1994 auf Nummer 1 in die britischen Charts ein, zwei Wochen vorher hatten Oasis ihre Debütsingle, „Supersonic“, veröffentlicht – drängt sich ein verlockender Gedanke auf: War der Brexit des Britpop Brut, oder zumindest der Britpop des Brexit kulturelle Avantgarde?
Andrew Harrison bekommt solche Thesen andauernd zu hören: „Ich habe Freunde, die scherzen: Schön und gut, dass du einen Anti-Brexit-Podcast machst, aber Britpop ist schuld am Brexit, und du bist schuld an allem!“
Harrison ist Mitbetreiber von „Remainiacs“, einem sehr erfolgreichen Podcast, in dem Woche für Woche die artikuliertesten Brexit-Gegner abseits des Medien-Mainstreams ihrem bereits konvertierten Publikum fundierte Fakten vortragen. In der ersten Hälfte der Neunziger war er neben Andrew Collins und Stuart Maconie einer der drei Chefredakteure des monatlich erscheinenden Musikmagazins „Select“. „Magazine waren in den Neunzigern der Ort, wo Popkultur stattfand“, behauptet Harrison, nicht ohne Berechtigung. „Man musste Covers machen, an denen das Auge hängen blieb. Man brauchte einen Knalleffekt.“
Und den erhoffte sich die Redaktion im April 1993 von einem Porträt von Brett Anderson, dem Sänger von Suede, die gerade mit in Glam-Rock-Riffs getränkten Hooklines die Charts erobert hatten. In den Hintergrund montierten die Grafiker einen Union Jack und darüber als fette Schlagzeile: „Yanks Go Home!“
Die Story dazu war gleichzeitig eine Vernichtung des bis dahin so dominanten amerikanischen Grunge-Booms und ein ironisch augenzwinkerndes Plädoyer für die Überlegenheit britischer Popkultur, untermauert durch Interviews mit besagten Suede und einer wohl bewusst obskuren Parade kauziger Außenseiter:
Die vom griesgrämigen Intellektuellen Luke Haines angeführten Auteurs, die eigentlich europhilen, zwischen allen Stühlen von Dance-Pop, Dub und Indie sitzenden Saint Etienne, die zu jener Zeit schon seit mehr als einem Jahrzehnt auf ihre große Stunde wartenden Pulp aus Sheffield und schließlich Denim, das Bubblegum-Projekt des von seiner Achtziger-Vergangenheit bei Felt her reichlich szenebekannten Exzentrikers Lawrence. In seinem flammenden Editorial schrieb Harrison: „Alle Bands in dieser Ausgabe könnten den Union Jack tragen und dabei nur Gutes tun, und vielleicht sollten sie das auch. Denn wenn gute Leute nicht versuchen, Britannien seine Kultur zurückzugeben, dann gibt es reichlich böse Menschen, die das tun werden.“
„Und das wurde irgendwie auch wahr“, sagt Harrison heute. „Das Wedeln mit der Fahne als aggressive, nationalistische Geste gewann am Ende die Oberhand.“ Die Kollegen von der politisch korrekten (damals ein brandneues Wort) Konkurrenz, insbesondere das Wochenblatt „NME“, beklagten den von „Select“ heraufbeschworenen Nationalismus, aber im Hintergrund lauerte bereits eine Band, die den Geist dieser Titelstory besser verkörpern sollte als alle anderen.
„Modern Life Is Rubbish“, das nach der Desillusionierung zweier desaströser Amerika-Tourneen aufgenommene zweite Album der von der Kritik nach ihrer formelhaften Debüt-LP „Leisure“ brutal abgeschriebenen Band Blur war bei seinem Erscheinen im Mai 1993, einen Monat nach dem „Select“-Cover, eigentlich ein mittlerer Flop. Und dennoch markierte es in seinem melancholischen Abfeiern lange vernachlässigter Aspekte der britischen Popgeschichte von den Kinks über Syd Barrett bis hin zu Wire und Julian Cope „den Wendepunkt für alles“, wie der damals als respektierter Altvorderer durch die Szene geisternde Singer-Songwriter Stephen Duffy aus heutiger Sicht erklärt: „Natürlich wirkt die Dampflokomotive auf dem Cover im Nachhinein ziemlich Brexit-mäßig im Sinne dieser nostalgischen Sehnsucht. Aber wir hatten überhaupt keine Ahnung, was auf uns zukam.“
„Wir ziehen hier am Zigarettenende eines Jahrhunderts“
Als einer von wenigen, die aus der Entfernung des Festlands den Ruf dieses Albums vernahmen, bemühte sich der Autor dieses Artikels damals um ein Interview mit der Band. Ich traf Blur schließlich am 27. August 1993 an einem Schwanenteich in Windsor, während ihre Vorgruppe, eine gerade erst gegründete, von drei Frauen angeführte Band namens Elastica, im Pub nebenan ihren Soundcheck absolvierte.
Blurs Sänger, ein blonder Beau namens Damon Albarn, stellte sich als ein hochtalentierter Improvisator postmoderner Thesen heraus: „Unsere Generation sieht sich nicht als Grenzgänger, die Barrieren niederreißen und eine neue, utopische, quasi-anarchische Welt erschaffen“, sagte er. „Wir ziehen hier am Zigarettenende eines Jahrhunderts und versuchen einen Sinn darin zu finden.“ Seine Band sei „viel zu klug, um Popmusik zu machen, aber zu faul für alles andere“. Alle ihre Ideen basierten auf einem „Kunstschul-Ethos, und man wird dort jetzt so unterrichtet, dass man Bilder aus der Vergangenheit aufsammelt und auf moderne Art und Weise verwendet, statt neue Bilder zu kreieren. Wir haben das geradewegs von der visuellen auf die musikalische Ebene übertragen. Wenn wir einen Song schreiben, setzen wir uns in eine Zeitkapsel und nehmen uns von der Reise mit, was immer wir stimulierend finden. Wir reden über Dinge, die wir nie erfahren haben, aber wir können sie suggerieren.“
Albarn verstrickte sich in Widersprüche, denn gleichzeitig beklagte er die eigene Unfähigkeit, mit der verwirrenden Medienrealität des Satelliten-TV-Zeitalters umzugehen: „Wir wechseln unsere Emotionen so wie Kanäle im Fernsehen. Wenn man diese Art von Instabilität in seinem Leben hat, lässt sich schwer feststellen, was man eigentlich fühlt.“ Und natürlich handelten die angeblich bloß „virtuellen“ Texte von Songs wie „Blue Jeans“ oder „For Tomorrow“ sehr wohl ganz konkret von seiner Entfremdung. „Wir sind völlig erschöpft von den vielen Möglichkeiten des modernen Lebens“, sagte Albarn. „Und ich glaube, dass die Generationen nach uns, die jetzt Teenager sind, darüber nicht einmal mehr nachdenken. Die sind schon willige Jünger des modernen Lebens.“
Für seine Abscheu gegen die gerade von der konservativen Regierung durchgesetzte Liberalisierung sonntäglicher Ladenöffnungszeiten verwendete er sogar den Ausdruck „linksreaktionär“. Und diese Tendenz hatte eine eindeutig nationale Note. Es sei ihm sehr wichtig, sich britisch zu fühlen, erklärte Bandkollege Alex James: „Aber nur als Metapher für Identität – Nationalismus ist eine Krankheit.“
„Das ist eine schlaue Art, dich rauszureden!“, unterbrach ihn Albarn. „Ich bin kein Nazi! Es ist nur eine Metapher für meine Identität als menschliches Individuum. Haha! Aber ja, das ist, was es ist …“
Ich fragte ihn, ob er das ernst meine.
„Ich meine es ernst, dass ich kein Nazi bin“, sagte Albarn, „ziemlich ernst!“
„Und britisch zu sein ist deine Identität?“
„Natürlich ist es das. Ich bin verdammt noch mal kein Amerikaner!“
Am Tag darauf sah ich Blur auf einer der kleineren Zeltbühnen des Reading-Festivals vor dicht gedrängten, so wie die Band in eine Art Post-Mod-Look aus Harrington-Jacken und Fred-Perry-Shirts gekleideten Massen ein unglaublich euphorisches Konzert spielen. Ein sich angesichts des Zuspruchs sichtlich unverwundbar fühlender Albarn kletterte mit seinen klobigen Doc-Martens-Stiefeln und seinem Mikro in der Hand eine der Zeltstangen fast bis zum Ende hoch und sang weit über den Köpfen des Publikums: „Holding on for tomorrow!“ Hier war eindeutig etwas Unaufhaltsames im Gange.
Junge Briten auf Sex-Urlaub in Griechenland
Einer, der indirekt einen Beitrag zu diesem Moment geliefert hat, ist der später in Paul Wellers Band spielende Bassist und DJ Andy Lewis. Er hatte seit den frühen Neunzigern in Wendy May’s Locomotion, einem bis heute bestehenden Londoner Sixties-und-Seventies-Soul-Club, tanzbare Retro-Raritäten aufgelegt. Als die regelmäßige Veranstaltung vom Town & Country Club in Kentish Town in die Underworld in Camden Town übersiedelte, begannen sich auch die in den Pubs des Viertels spielenden Indie-Bands, deren Manager, Plattenfirmen-Menschen und Musikjournalisten unter die Soul-Kenner zu mischen.
Lewis erspielte sich bald einen guten Ruf, und eines Tages lud ihn Paul Tunkin, ein Verkäufer im Plattenladen Out on the Floor an der Inverness Street ein, als Gast-DJ in seinem neuen Club Blow Up aufzulegen. Das zu diesem Zweck gemietete Obergeschoss eines schäbigen Schwulenpubs namens The Laurel Tree entwickelte sich umgehend zur Heimstätte einer lebhaften Szene, die zu einer wilden Mischung aus zeitgenössischem Indie-Pop, Soul, alten New-Wave-Singles und obskuren Funden wie „E.V.A.“ von Jean-Jacques Perrey oder dem Sitar-Instrumental „Mathar“ vom Dave Pike Set tanzte.
Ins Publikum mischten sich diverse Mitglieder von Blur, Pulp und Stereolab. Lewis erinnert sich, wie Blur-Gitarrist Graham Coxon völlig selbstvergessen gegen den Beat seiner Northern-Soul-Singles tanzte: „Es stellte sich heraus, dass er Kopfhörer trug und auf seinem Walkman ,Chairs Missing‘ von Wire hörte.“ Eines Abends arbeitete sich der angesäuselte Coxon zum DJ-Pult vor und rief: „Dreh sofort diesen Mist ab! Was ist das überhaupt?“
„Das bist du“, erwiderte Lewis. Auf dem Plattenteller vor ihm drehte sich eine Vorabpressung von Blurs neuer Single „Girls & Boys“, der ersten großen Hymne des Britpop, einem tanzbaren, von Coxons Gitarre effektiv sabotierten Elektro-Pop-Song über junge Briten auf Sex-Urlaub in Griechenland und, auch wenn das damals wenigen auffiel, über das Verschwimmen von Geschlechterrollen.
Wenig später luden Blur Lewis und Paul Tunkin ein, als Support-DJs auf ihre nächste UK-Tour zur Feier ihres neuen Albums, „Parklife“, mitzufahren, um mit ihren Sounds das provinzielle Publikum auf die Band einzustimmen.
„Das einzige Mal, dass wir wirklich Ärger hatten bei dieser Tournee, war in Manchester“, erinnert sich Andy Lewis, „als diese zwei Arschlöcher backstage auftauchten und ,Wouldn’t it be nice to kill a fucking Cockney?‘ zur Melodie von ,Lazy Sunday‘ von den Small Faces sangen. Das waren Noel und Liam Gallagher.“ Nach einer vielsagenden rhetorischen Pause setzt er nach: „Genau genommen ist das bereits der Konflikt zwischen Leave und Remain. Uns ging es darum, wofür man steht. Und Oasis machten klar: Ihnen ging es darum, woher man kommt.“
Zu diesem Zeitpunkt hatten Oasis sich bereits der Londoner Szene vorgestellt. Stephen Duffy hatte den von ihrem Label Creation als Offenbarung beworbenen Gig im Water Rats an der Gray’s Inn Road gesehen: „Sie standen in einer Reihe und machten ,Ramalama‘. Man konnte sehen, dass sie geprobt hatten, ich war nicht allzu beeindruckt. Aber später sah ich sie dann im 100 Club, und ich fing allmählich an zu verstehen, was da dran war. Das erste Album („Definitely Maybe“) war auch okay, ich glaube nicht, dass da irgendeine Saat von Brexit drinsteckt. Richtig los geht es auf dem zweiten Album. ,After all, you’re my wonderwall‘, das ist doch de facto ,Brexit means Brexit‘, oder? Das waren einfach nur mehr Slogans für Leute, die dachten, es sei clever, statt ,Look Back In Anger‘ ,Don’t Look Back In Anger‘ zu singen. Es ließ die Stone Roses und die Happy Mondays im Vergleich wie Shelley und Keats aussehen.“
Britpop und Cool Britannia
Zu jener Zeit fanden sich freilich nicht viele, die so was öffentlich zu sagen wagten. Jahre später urteilte jedenfalls niemand treffender über Noel Gallagher als er selbst. „Ich schreibe vom Refrain zurück zur Strophe“, erklärte er 2011, zu Beginn seiner Solokarriere. „Ich bin kein musikalisches Chamäleon wie Damon Albarn, der einmal eine chinesische Oper und dann ein HipHop-Album schreiben kann. Viele sehen in mir wohl ein ‚one-trick pony‘, einen reinen Beatles-Kopisten. So wurde das bei Oasis eben verlangt.“
Stephen Duffy wiederum schrieb damals für sein schlicht „Duffy“ betiteltes Album den essenziellen Beobachter-Song über die Britpop-Szene. In „London Girls“ nahm er die gerade beginnende Gentrifizierung aufs Korn, es sind die „London girls in mummy’s pearls“, die ins wilde Nordlondon ziehen, um mit dem „latest hot-shot Britpop poet laureate“ abzuhängen.
Pulp-Sänger Jarvis Cocker porträtierte in „Common People“ aus seinem Meisterwerk „Different Class“ eine sehr ähnliche Figur in Form der reichen griechischen Kunststudentin (warum waren die Bösen eigentlich immer die Frauen?), die im Leben unter gewöhnlichen Menschen ihr voyeuristisches Vergnügen findet: „If you called your dad/ He could stop it all.“
Tatsächlich waren die Neunziger die letzte Zeit, da junge Menschen aus der Provinz es sich noch leisten konnten, auf gut Glück nach London zu ziehen. Als John Harris 1995 dem ironischerweise zum New Yorker Lifestyle-Magazin „Details“ übergewechselten Andrew Harrison bei „Select“ nachfolgte, lebte er für 75 Pfund die Woche in einem Loft in Hoxton: „Die Tatsache, dass alle da hinzogen, machte London zu einem aufregenden Ort“, sagt Harris. „Es gab eine kurze Periode im Jahr 1994, wo man an einem beliebigen Tag im Good Mixer in Camden die Bandmitglieder von Blur, Pulp und Elastica antreffen konnte.
Noel wohnte auch eine Zeitlang in Camden, auch Oasis gehörten also dazu, und London war der Ort, wo man sein musste. Aber London ist auch jener Hort des Ultrareichtums, der dem Rest Englands alles Leben absaugt. Und wenn man sich fragt, wann diese Entwicklung wirklich toxisch wurde, dann ist es genau diese Periode, denn Britpop und das Image der Cool Britannia verliehen dem ökonomischen Grund, in London zu leben, einen kulturellen Aspekt: Wer in der City als Börsenmakler arbeiten, aber modisch leben wollte, zog nach Camden Town oder Hoxton oder Notting Hill.“
Dieser Tage ist John Harris ein auf den Brexit spezialisierter Politikjournalist, der für den „Guardian“ Kolumnen schreibt und Kurzdokus zur sogenannten Volksmeinung produziert. „So was wie Cool Britannia ist heutzutage völlig unvorstellbar“, sagt er. „Es wird Jahrzehnte dauern, bis London wieder in Mode ist. Denn wir schicken die schlimmstmöglichen Signale in Richtung der Länder, die sich bisher für das interessierten, was hier passiert. Und ja, ich glaube, das wird kulturelle Auswirkungen haben.“
2003 zeichnete Harris in seinem Buch „The Last Party – Britpop, Blair And The Demise Of British Rock“ den Weg von der blühenden Londoner Indie-Szene der Frühneunziger zum leeren Medienhype jener von Tony Blair politisch clever für sich vereinnahmten Cool Britannia nach. Harris war in der Nähe von Manchester aufgewachsen und hatte in Oxford studiert, bevor er nach London kam, konnte den großen Kulturkrieg des Britpop also von beiden Seiten sehen: „Das Image von Oasis war nicht nur, dass sie Working Class, sondern auch, dass sie definitiv nicht kunstsinnig waren“, sagt er. „Davor war es für die Bands aus Manchester charakteristisch, dass sie Working Class und kunstsinnig waren: New Order, Morrissey und Marr, Happy Mondays. All dieses No-Nonsense-Gerede rund um Oasis erwies Manchester einen sehr schlechten Dienst.“
Aber in ebenjenem schlichten „Havin’ it large“ lag letztlich auch das Geheimnis, warum Oasis so viel erfolgreicher waren als alle anderen Britpop-Bands zusammen. Wie die Journalistin Miranda Sawyer 1995 in jenem „Observer“-Artikel, in dem Noel Gallagher Albarn und James den Aids-Tod wünschte, so zutreffend bemerkte: „Oasis geben einer Generation unverbesserlicher, unironischer Typen Hoffnung, die immer schon den Verdacht hegten, dass sie nur Objekt von Blurs Spott waren.“
Trostlose Phase des Britpops
Laut Andrew Harrison begann mit den ausgedehnten Gitarrensoli von „Some Might Say“ auf dem Oasis-Zweitling „(What’s The Story) Morning Glory?“ „die trostlose zweite Phase des Britpop, als ein Haufen ziemlich schlechter Bands daherkam, die das, was Generationen vor ihnen taten, nicht als Sprungbrett, sondern als Regelwerk verstanden.“
Das war auch der Punkt, an dem all den augenzwinkernden Rückbezügen auf den Sexismus der Sixties die Ironie abhandenkam. Als die von Pulp besungenen „Misfits“ und nicht zuletzt die Frauen der Szene – von Bands wie Elastica und Sleeper bis zu Catatonia und Echobelly – schnell wieder an den Rand der Wahrnehmung verdrängt wurden. Was am Ende vom Britpop übrig blieb, war ein Missverständnis der alten Pop-Art-Ikonografie von The Who als chauvinistischem Symbol britischer Arroganz in Gestalt von Noels Epiphone im Union-Jack-Design.
Aber lässt sich daraus auch wirklich der neonationalistische Ungeist des Brexit ableiten?
Caitlin Moran relativiert: „Niemand setzt sich hin, spielt zögerlich seine ersten Akkorde und denkt sich dabei: Was ich jetzt mache, wird in 30 Jahren das Aufkommen des Faschismus auslösen und bewirken, dass Britannien Europa verlässt.“
Und doch sieht sie Parallelen zwischen dem Rock’n’Roll-Nihilismus von Oasis und dem – übrigens auch von Noel Gallagher selbst so ausgesprochenen – destruktiven Motto „Get on with it“, dem machohaften „Ziehen wir’s durch“-Slogan der No-Deal-Brigade: „Alles ist schon getan worden, also ist die logische Konsequenz, die Dinge zu zerstören. Man zertritt hinter sich die Leiter und scheißt auf alle Bands, die nach einem kommen. Wir sind fertig, wir haben nichts mehr zu sagen. Es ist also der letzte Ruf der alten, weißen, straighten Typen. Und das ist vielleicht die wahre Parallele zwischen dem Brexit und Britpop.“
Oder wie es der in Sachen Brexit im Vergleich zu seinem Bruder übrigens weit ambivalentere Liam Gallagher vor acht Jahren einmal auf seine unvergleichlich philosophische Art ins Aufnahmegerät fauchte: „Ich bin zornig seit dem Tag, als ich geboren wurde, und das soll auch so bleiben.
Aber ich weiß nicht, worüber ich zornig bin.“