Ist „11/22/63“ („Der Anschlag“) Stephen Kings bester Roman?
Veränderte Zeitlinien, eine „Beatles-Reunion“? Warum nicht.
In die Vergangenheit reisen um einen Mord zu verhindern, oder, das Gegenteil, um einen Mord zu vollstrecken – und damit in Kauf zu nehmen, dass sich die komplette Weltgeschichte verändert. Jeder hatte solche Gedanken schon mal. Was würde passieren, hätte man Hitler rechtzeitig gestoppt? Wie sähe unser Leben aus, wäre Jesus nicht am Kreuz gestorben?
Stephen King – Das Ranking
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Plätze 81-87
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Plätze 80-71
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Plätze 70-61
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Plätze 60-51
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Plätze 50-41
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Plätze 40-31
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Plätze 30-21
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Plätze 20-11
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Plätze 10-01
In „11/22/63“ reist der Englischlehrer Jake Epping in die Zeit zurück, um die Ermordung John F. Kennedys zu verhindern. Auf Deutsch heißt der Roman „Der Anschlag“, besser gepasst hätte „Das Attentat“, aber der wurde für „The Dead Zone“ bereits vergeben – beide Bücher eint der Gedanke, für den höheren Zweck und eine bessere Zukunft jemanden umzubringen. Beide eint das Motiv vom Mann mit Gewehr, der von erhöhter Position aus einen Politiker ins Visier nimmt, ein Bild, das King nie ganz aus seinen Gedanken verbannen konnte.
Das Attentat zu verhindern ist auch der Traum des Demokraten Stephen King, der 16 war, als sein Präsident bei der Fahrt mit offener Limousine erschossen wurde, und in seinen Sachtexten immer wieder eine Linie von JFK zu Vietnam, Rassenunruhen, Nixon und Watergate zog. Das „We blew it“, das er seiner Generation im Roman „Atlantis“ attestierte, und das ihn mit einschloss, nahm nicht 1969, sondern hier, 1963, seinen Anfang. Ein Amerikaner erschoss einen Amerikaner, der eine Vision hatte.
Oswald, der Einzeltäter
King erspart uns die Oliver-Stone-Theorien, dass es ein Komplott zur Ermordung Kennedys gegeben habe, sei es durch den US-Geheimdienst, den Kommunisten, Castro oder sonst wen. Ziemlich schnell wird dem Lehrer Epping klar, dass der Schütze Lee Harvey Oswald ein ideologisch verwirrter Einzeltäter ist. Das ist auch die Meinung des Schriftstellers: zu „98, vielleicht sogar 99 Prozent.“
Es war jedenfalls ein monumentales Unterfangen für Stephen King, der mit Unterbrechungen ab 1973 an diesem Roman arbeitete, einen Thriller zu entwerfen, der gegenüber einer Checkliste der historischen Genauigkeiten im wesentlichen Bestand haben muss. Diese Leistung kann nicht überschätzt werden. Das betrifft nicht einfach nur Bier- und Automarken ab den späten 1950ern, sondern auch die biografischen Stationen real existierender Personen wie eben Oswald oder auch Jackie Kennedy. Dieser Roman würde auch funktionieren, hätte er nichts mit Zeitreisen-Fantasien zu tun, sondern eine Geschichte aus den Goldenen 1950ern erzählt. „Meistens habe ich mich an die Wahrheit gehalten“, schreibt King im Nachwort, räumt ein, dass er lediglich dem Erzählfluss zuliebe einige Tatsachen geändert habe, um seinem Roman, sein erster Versuch einer Art Doku-Fiction, einen Drive zu verpassen.
„Die Vergangenheit will nicht verändert werden – und wehrt sich“, dieses Mantra begegnet Epping, den das Zeitreiseportal ins Jahr 1958 zurückbringt, immer wieder. Fünf Jahre hat er von da an, Lee Harvey Oswald ausfindig zu machen. Dabei muss er nicht nur lernen, wie es ist, jemanden zu töten. Sondern auch, möglichst keine Spuren zu hinterlassen, die ihn als Zeitreisenden entlarven würden, so dass er selbst verantwortlich wäre für veränderte Biografien all jener Menschen, in deren Leben er tritt. Dass man den Mann, der mehr als 50 Jahre in die Vergangenheit gereist ist, an der Schule, wo er anheuert, für einen „Subversiven“ hält, ist noch die harmloseste Vermutung.
Epping spürt unerklärliche Hürden, die ihn von seinem Ziel abhalten, und er verliebt sich in eine Kollegin aus dem Lehrergremium und muss entscheiden, ob er sie über seine Identität aufklärt. Und King gelingt es, einen Satz wie „Mit schwacher Stimme fragte sie: ‚Bist du aus der Zukunft hierhergekommen‘“, nicht wie eine Heldengeschichte aus dem Groschenroman klingen zu lassen, sondern wie den Anfang eines ziemlich großen Problems zwischen zwei Liebenden.
King nutzt seine Geschichte für zwei wesentliche Kritikpunkte. Zum einen lag es ihm am Herzen, den Attentäter als das hinzustellen, was er vielleicht war: ein fehlgeleiteter Mensch, der glaubt, eine Offenbarung erlebt zu haben, und der sich am Ende, den Finger am Abzug des berühmtesten Gewehrs der amerikanischen Geschichte, tatsächlich in eine Art „Monster“ verwandelt hat, die nichts Menschliches mehr an sich habe. Hier spricht der Autor, der das Unbegreifliche nur mit dem Phantastischen zu erklären vermag.
Dann natürlich die Kritik an Justiz und Polizei. Der Anschlag hätte, davon ist King überzeugt, nie passieren dürfen. King macht auch die Stadt Dallas verantwortlich, die Unfähigkeit der Beamten, die Teilnahmslosigkeit seiner Bürger. Dallas ist für ihn Derry, jenes Nest, in das es Jake Epping zieht, und das in „Es“ eine unrühmliche Rolle spielt als Ort, aus dem nichts Gutes kommt. Auch C.I.A. und F.B.I. kommen bei King nicht gut weg. Behördenchef Edgar J Hoovers Rolle in der Deeskalation des vereitelten Attentats bleibt unklar. Die Agenten, die den unerwarteten Helden Epping vernehmen, glauben nicht an den Präsidenten JFK. Kings bittere Pointe ist, dass Kennedy es für göttliche Vorhersehung gehalten haben könnte, nicht getötet worden zu sein. Ja, unsterblich zu sein. Und doch sind die Dialoge, die Epping mit John F. und Jackie führt, von großem Feingefühl.
„Rette Kennedy, und alles ändert sich, bitte“, lautete der Wunsch, der Jake mitgegeben wird, bevor er seine Reise antritt. Am Ende die Erkenntnis, sowohl Eppings, als auch Kings, dass man die Vergangenheit ruhen lassen muss. Egal, was es kostet, und welche Chancen man dadurch verpasst. Veränderte Zeitlinien, eine „Beatles-Reunion“? Warum nicht. Aber wenn sich dabei ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt und McCartney deshalb erblindet? Besser nicht.