Der Schatten des 7. Oktober wird noch lange bleiben

Die Hamas-Attacke auf Israel war eine historische Zäsur. Der Nahe Osten steht seitdem vor einem großen Krieg.

Der Gaza-Streifen ist ein Jahr nach den fatalen Ereignissen vom 7. Oktober 2023 noch immer in Rauch gehüllt. Es wird seitdem fast ununterbrochen gekämpft. Die Fakten, die sich um diesen Tag ranken: Etwa 3000 Hamas-Kämpfer drangen aus dem Gazastreifen nach Israel ein. Sie töteten 1139 Menschen, zum Teil bei einem friedlichen Musikfestival, darunter 695 israelische Zivilisten (und hiervon 38 Kinder), 71 Ausländer und 373 Sicherheitskräfte. Über 3400 Israelis wurden verletzt. Die Hamas entführte mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen, von denen noch viele gefangen genommen sind. Es war der tödlichste Angriff auf Juden seit dem Holocaust – und er löste einen Krieg zwischen Israel und der Hamas aus.

365 Tage später ist klar, dass das Ziel der israelischen Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Hamas vollständig auszulöschen, um solche Attacken auf das Leben der Israelis für alle Zeiten zu verhindern, nicht aufgegangen ist. Die Terrororganisation lässt sich nur zum Preis von hohen, auch zivilen Opfern im Gaza-Streifen zurückdrängen.

Zugleich erhält die Hamas Unterstützung von der islamistischen Miliz des Hisbollah im Libanon. Israel sieht sich einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt, der auf eine Konfrontation mit dem Erzfeind Iran hinauslaufen könnte. Bereits zweimal reagierte der islamische Republik am Persischen Golf mit Raketen-Salven, nachdem es wohl vom berüchtigten israelischen Geheimdienst Mossad schwer gedemütigt und getroffen wurde. Die Angriffe mögen zwar aufgrund der militärischen Geschlossenheit von Israels Freunden in der Welt und seinem leistungsfähigen Defensivsystem (Iron Dome) kaum Schaden angerichtet haben. Aber es sind historisch beispiellose Militäraktionen, die Israel nicht unbeantwortet lassen kann.

Israel ist zu diesem Krieg gezwungen

Für Israel ist der 7. Oktober vor allem ein Debakel der inneren Sicherheit. Der schwere Schlag gelang mit vergleichsweise primitiven Waffen und einer Guerilla-Taktik. Hamas-Kämpfer konnten bis tief ins Landesinnere vorstoßen und töten. Sie handeln im Auftrag eines heiligen Krieges gegen Israel. Seit 1948 ist das Land nicht mehr so lange in einem permanenten Gefecht. Auch wenn stets von „begrenzten Bodenoperationen“ die Rede ist – gewiss ein furchtbarer Euphemismus für gezielte bewaffnete Aktionen, bei denen viele Unschuldige auch aufgrund der perfiden Terrortaktik von Hamas und Hisbollah sterben – scheint jetzt schon klar, dass die Kämpfe noch lange kein Ende kennen.

Mit Folgen, die Juden weltweit spüren. Seit 1945 dürfte der Antisemitismus, der sich im Schatten der Kriegsereignisse Bahn bricht, nicht mehr so offen zur Schau gestellt worden sein. In Berlin gehen seit dem Wochenende wieder Hunderte auf die Straße und skandieren verbotene Parolen. Personen jüdischen Glaubens trauen sich europaweit nicht mehr mit sichtbaren religiösen Symbolen aus dem Haus. Sie fürchten um ihr Leben.

Während die Bewertung der Kriegshandlungen im Gaza-Streifen unterschiedlich ausfällt, dominiert eine beispiellose Nervosität vor einem noch nie gekannten Flächenbrand in der Nahostregion. Mit unabsehbaren Folgen.

Die Vereinigten Staaten, der engste Verbündete Israels und trotz all der frommen Sprüche und Hilfen aus Europa auch seine Überlebensversicherung, stehen vor einer entscheidenden Wahl im November.

Präsident Joe Biden sind die Hände gebunden. Seine fast schon reflexartigen Appelle für eine Waffenruhe im Gaza-Streifen – in Amerika mit Argusaugen von der politischen Rechten beobachtet und gerügt – finden kein Gehör bei der israelischen Regierung. Keiner dürfte überrascht gewesen sein, als Netanjahu bei seiner Rede vor dem US-Kongress im Juli offen Partei für Donald Trump ergriff.

Deutschlands diplomatische Bemühungen sind zu zaghaft

Und was tut Deutschland? Außenministerin Annalena Baerbock richtete sich zuletzt auf Hebräisch an die israelische Bevölkerung. Die Grünenpolitikerin sagte Israel weiterhin deutsche Unterstützung bei der Befreiung der Geiseln zu. „Wir lassen nicht nach, bis alle Geiseln wieder frei und bei ihren Liebsten sind“, schrieb sie auf X. In der Talkshow von Carmen Miosga ergänzte sie: „Unsere Verantwortung ist, auch mit Blick auf deutsche Staatsräson, dass dieses Drehbuch des Terrors nicht aufgeht.“

Zugleich stellte Baerbock klar, dass man „enger Freund Israels und Palästinas“ sei. Die Ministerin traf sich in der Vergangenheit auch mit propalästinensischen Aktivisten. Die Bundesrepublik hätte als eine der stärksten Volkswirtschaften der EU und als zweitwichtigster Waffenlieferant Israels (allein 2023 genehmigte die Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von 326,5 Millionen Euro nach Israel) wahrlich mehr diplomatische Mittel bei der Hand, um in dieser Gemengelage zu intervenieren. Doch es fehlen Mut und vielleicht auch die Selbstsicherheit, auf der richtigen Seite in einer unüberschaubaren Auseinandersetzung zu stehen.

Die Diskussion um die Sicherheit Israels wird an amerikanischen Universitäten anders geführt als an deutschen, aber der Diskurs um die Interpretation der Ereignisse rund um den 7. Oktober hat in den letzten Monaten, vorsichtig gesagt, in fast allen westlichen Ländern eine ideologische Schlagseite erreicht, in der postkoloniale Theorien und völkerrechtliche Ambivalenzen auf knallharte Interessenpolitik treffen.

Gerade Deutschland steht diesen Ereignissen mit seiner Vergangenheit nahezu ohnmächtig gegenüber. Bis auf humanitäre und die auch schon früher geleisteten militärischen Hilfen gibt es nur vorsichtige Reden, die auf Zuversicht setzen und zur Konfliktentspannung wenig beitragen können. Wie weit eine Unterstützung tragen würde, wenn das zu Recht häufig geäußerte Mantra, die Existenz Israels sei deutsche Staatsräson, mit der Wirklichkeit konfrontiert wird, mag sich wohl keine Politikerin und kein Politiker hierzulande ausmalen.

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