Irgendwo muss die Wut ja hin
IRGENDWO IN ORANGE COUNty, elf Uhr morgens. Nach einer Nacht am Strand haben Ty Segall und Freundin schon eine einstündige Frühschicht auf dem Surfbrett hinter sich. Vor drei Monaten ist der Mittzwanziger aus Laguna Beach von San Francisco nach Südkalifornien gezogen, weil es „einfach Zeit war“ – und um seiner Schwester in Orange County und dem Strand näher zu sein. Dann war da noch „dieses tolle Haus“, in dem er sogar ein Heimstudio unterbringen konnte. Und San Francisco ist ja auch nicht mehr das, was es lange war. „Die Internet-Firmen haben viel Geld in die Stadt gebracht und so auch die sozialen Beziehungen verändert. Es ist einfach härter geworden, dort zu leben. Auch viele Bands sind weitergezogen – und wenn’s nur über die Brücke nach Oakland ist.“
„Sleepers“, sein neues Soloalbum, hat Ty Segall aber noch in San Francisco geschrieben und aufgenommen. Nicht im Keller, wie dieses Pfeifen zum Auftakt suggerieren könnte, sondern im obersten Stockwerk eines Appartementhauses. „Da konnte ich auch tagsüber Krach machen und aufnehmen, wann ich wollte.“ Sooo viel Krach ist es dann aber nicht geworden. „Sleepers“ knüpft stilistisch eher an „Goodbye Bread“ an, 2011 sein erster Versuch, es jenseits von Blitzkrieg-Garagen-Rock auch mal etwas ruhiger angehen zu lassen und sich als Sänger (und Texter) nicht mehr hinter all dem schönen Reverb zu verstecken. „Für mich ist es aber keine Fortsetzung davon, weil dieses Album von einem komplett anderen Ort kommt. Klar, manche Sounds sind ähnlich, aber wenn ,Goodbye Bread‘ vielleicht einen Schritt hinab ins Kaninchenloch gemacht hat, dann sind es jetzt zehn gewesen.“ Kaninchenloch? Auf Nachfrage sagt Segall, alles kreise „um Träume und Tod“, stockt dann und sagt schließlich:“Wenn du wirklich wissen willst, worum’s geht: Mein Stiefvater, der mich mit 18 adoptiert hat, ist Ende vorigen Jahres gestorben. Es gab eine Menge Familien-Irrsinn, und jetzt rede ich nicht mal mehr mit meiner Mutter. Die ganze Wut darüber musste ich einfach irgendwo lassen. Und weil ich es nie anders gemacht habe, sind daraus diese zehn Songs entstanden.“
„Sleepers“ wird als „das einzige Release 2013 des unerschrockenen Rockers“ annonciert. Was insofern tatsächlich eine harte Nachricht ist, als Ty Segall damit schon sein siebtes Soloalbum seit 2008 veröffentlicht, neben Teilzeit-Engagements in fünf Bands, Studio-Arbeiten mit White Fence („Hair“) und Mikal Cronin („Reverse Shark Attack“) sowie diversen Singles, EPs, Compilation-Beiträgen. „Ultra-prolific“ nennen ihn deshalb US-Kollegen. Aber das mag er gar nicht mehr hören „Es ist lächerlich. Musiker sollten einfach das tun, was sie tun müssen. Und wie dieses Label heute auf Leute gepappt wird, finde ich ärgerlich. Wenn man’s genau nimmt, hab ich voriges Jahr nur ,Twins‘ rausgebracht, alles andere waren Kooperationen. Billy Childish hat ungefähr 50 Platten in zehn Jahren gemacht -das ist produktiv, wenn du mich fragst.“ 2013 soll dann auch nur noch ein bereits fertiges Album seiner neuen Band Fuzz erscheinen, nach zwei Singles
Neben der Musik hat Ty Segall nach über vier Jahren ein Studium der Medienwissenschaft zum Abschluss gebracht -da wurde manche Seminararbeit im Tour-Kleinbus geschrieben. Jetzt ist ihm immerhin „völlig klar geworden, dass ich nie in diesem Bereich arbeiten möchte“. Den schönsten Song, in dem alle in Melancholie verwandelte Wut zu kulminieren scheint, hat sich Ty Segall bis zum Schluss von „Sleepers“ aufgehoben. „Where to I go home, is it in the west?“ fragt er in „The West“. Und im Westen geht er jetzt zum Surfen.