S. Craig Zahler im Interview: „Sicherheitsgrenzen erkenne ich nicht an“
Mit seinen drei Filmen und sechs Romanen hat sich S. Craig Zahler den Ruf eines talentierten, aber auch kontroversen Geschichtenerzählers erworben. Mit ROLLING STONE spricht er erstmals über sein neues Werk – eine Graphic Novel.
Die einen halten ihn für einen populistischen Provokateur, die anderen für den talentiertesten Genre-Autoren seit Tarantino: Mit „Forbidden Surgeries of the Hideous Dr. Divinus“ (Floating World Comics) legt Regisseur und Schriftsteller S. Craig Zahler seine erste Graphic Novel vor. Darin kreuzen sich die Wege eines amerikanischen Gangsters mit dem titelgebenden, monströsen Chirurgen, der Opfer für seine Experimente sucht.
Zahler, 48, hat sechs Romane veröffentlicht, neun Alben als Metal-Komponist und -Musiker, darunter als Drummer und Sänger der Band Realmbuilder, er schreibt für das Gore-Magazin „Fangoria“ und hat drei Filme inszeniert, „Bone Tomahawk“ (mit Hauptdarsteller Kurt Russell), „Brawl in Cell Block 99“ (mit Vince Vaughn und Don Johnson) und Dragged Across Concrete“ (Mel Gibson, Vince Vaughn). Sein Drehbuch zum Western „The Brigands of Battlecreek“ stand auf Platz eins der „Blacklist“ Hollywoods, also der begehrtesten nicht verfilmten Scripts. Wir sprachen mit ihm über Herausforderungen als Comic-Zeichner, seine politische Haltung und die kommenden Projekte.
Mr. Zahler, in ihrem Graphic-Novel-Debüt „Forbidden Surgeries of the Hideous Dr. Divinus“ können Sie wieder einmal eines ihrer Markenzeichen präsentieren: kurze, prägnante Sätze. Worin sehen Sie Vorteile, worin Nachteile dieses Mediums?
Nun, ich stecke ja bereits in der Arbeit zu meiner nächsten Graphic Novel. Seit 300 Tagen! Comics und Graphic Novels sind eine wunderbare Kunstform, die ich, nach meinen Filmen, den Drehbüchern und den Alben, wiederentdeckt habe. In der Wahl des Mediums achte ich darauf, welche Form die Story verlangt, was am besten für die Geschichte aussieht. Ich begann mit der Arbeit an „Dr. Divinus“ während des Drehs von „Dragged Across Concrete“ vor ein paar Jahren. Beim Comic wusste ich, dass ich nur über eine begrenzte Fähigkeit als Zeichner verfüge, ich diese Fähigkeit durchs Weiterzeichnen jedoch verbessern will. Ich habe in „Dr. Divinus“ alles ausdrücken können, was mir vorschwebte. Jeder, der die Story bisher las, hat sie verstanden. Ich musste in diesem Comic dennoch mehr Fehler und Grobheiten akzeptieren – mir fielen auf jeder Seite Kleinigkeiten auf, die ich wohl heute anders gemalt hätte. Mir ist nur wichtig, dass der Comic die Story darstellen kann, ohne dass ich sie groß erklären müsste.
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Wieso – wollen Sie denn nichts erklären?
Viele ältere Comicbücher haben ein gemeinsames Problem. Vor allem solche, die zwischen den 1940er- und 1980er-Jahren entstanden: Sie enthalten umfängliche Beschreibungen dessen, was die Charaktere tun. Dabei muss die Kunst, das Bild, doch für sich allein erklären, was gerade passiert. Sonst entstehen Redundanzen. „Bill betritt das Gebäude und blickt sich überrascht um“, heißt es in der Beschreibung – und Sie blicken aufs Panel und sehen: Bill betritt das Gebäude und blickt sich überrascht um. Das verschlechtert doch die Lesbarkeit. Probleme können auch entstehen, wenn Autor und Zeichner nicht ein- und dieselbe Person sind, also mindestens zwei am Comic arbeiten. Manchmal ist der Autor dann unsicher, ob das von jemand anderem gemalte Panel das ausdrückt, was er selbst ausdrücken will, und formuliert dann überdeutlich das, was wir eh schon erkennen.
Haben Sie Rat von zeichnenden Kollegen eingeholt?
Ich sprach mit dem Comiczeichner und Illustrator Benjamin Marra, der unter anderem „The Terror Assaulter: One Man War On Terror“ kreiert hat und außerdem für den Film „Puppet Master: „The Littlest Reich“ tätig war, dessen Script ich schrieb. Er ist begnadet, besser als ich, ich holte mir seinen Rat. Auch den von Josh Simmons. Unabhängige Zeichner, die ihre Vision durchsetzen. Wir sprachen über Techniken und Mittel. Ich bin in der Szene nicht verwurzelt, aber ich lese Comics seit den 1980ern, ich wuchs mit ihnen auf. Ich verstehe sie.
Sie sind Regisseur, Autor, nun Zeichner. Welche Kunstform ist Ihnen am wichtigsten?
Manche wundern sich, dass ich mich nach den Romanen und Filmen nun einer Graphic Novel widme, aber sie sind eine der ersten Künste, denen ich mich zuwandte. Ich wäre auch als Comic-Zeichner glücklich geworden – also für gezeichnete Cartoons, nicht digitale per Computer, an denen 400 Leute arbeiten. Mit Graphic Novels lässt sich weniger verdienen als mit Kinofilmen, und sie herzustellen dauert durchaus länger. Aber es ist nicht so, dass Filme über allem stehen und ich Comics nur deshalb zeichne, wenn ich mal keine Kinoprojekte umsetzen kann. Die Hauptsache ist, dass ich bei allem, Romane, Comics, Musik und Filmen, die künstlerische Kontrolle behalte. Ich glaube, ich habe deshalb auch noch nie an einer Schreibhemmung gelitten – weil ich hin- und herspringen konnte. Ich wechsle Genres, und ich wechsle die Medien.
Ihre Filme sind äußerst blutig, aber in der Graphic Novel stellen Sie die grausamen Szenen, vielleicht auch aufgrund des Schwarzweiß-Formats, eher zurückhaltend und reduziert dar. Erstaunlich ist, dass ein entscheidender Jumpscare zum Ende der Geschichte nicht als Pageturner inszeniert ist, sondern eingebettet in die Seite. Wie treffen Sie solche dramaturgischen Entscheidungen?
Bitte verraten Sie ihren Lesern nicht, wem es in dieser Szene an den Kragen geht (lacht)! Normalerweise versuche ich Überraschungen als Pageturner zu bringen. Es gibt hier zwei verschiedene Erzählweisen, die im Comic funktionieren würden. Zunächst den Pageturner für große Überraschungen. Zweitens kommt mir eine Dramaturgie zugute, die ich in der Filmschule gelernt habe, unabhängig davon, dass ich dort kaum etwas gelernt habe, am meisten noch in den Kursen für handgezeichnete Animation: den langsamen, subtilen Spannungsaufbau von Panel zu Panel. Also Bilder, die nebeneinander stehen, aber sich nur minimal voneinander unterscheiden. Tatsächlich bieten sie die ideale Form, um geschmeidige Bewegungen darzustellen. Das zu realisieren betrachte ich als eine meiner größten Herausforderungen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In „Dr. Divinus“ gibt es eine Sequenz, in der Waisenkinder in einer kleinen Sackgasse auf ein entsetzliches Experiment eines Jungen stoßen, das sich langsam von Panel zu Panel offenbart. Ein Pageturner dagegen verlangt in der Regel ein gigantisches Panel auf der nächsten Seite, also die große Auflösung. Aber sie setzt weniger Bewegung voraus als die Entwicklung von Panel A zu B, C und D. Aber klar, wenn ein Jumpscare innerhalb einer Seite mit vielen Bildern eingebettet ist, gibt das Lesern die Möglichkeit, der Geschichte, den Figuren ein paar Sekunden voraus zu sein, weil Sie ja frei wählen können, welche Bilder Sie zuerst ansehen.
Im Graphic Novel findet eine Vergewaltigung statt, die Sie in wenigen, undetaillierten Panels darstellen. Wie entscheiden Sie, was Sie zeigen wollen. Sehen Sie auch die Gefahr einer Exploitation?
Dies ist keine Exploitation. Es geht bei der Wahl des richtigen Mediums auch gar nicht darum, was ich nach Ansicht anderer zeigen kann, und was nicht. Sicher gibt es hier einige Panels, die der Story, hätte ich sie fürs Kino umsetzen wollen, keine Jugendfreigabe mehr erlaubt hätten. Die von Ihnen erwähnte Szene ist wichtig, um die Handlung zu erzählen. Zudem ich sie aus der Perspektive des Opfers schildere. Es geht mir um die Darstellung von Schicksalen. Alles geschieht aus der Sicht derjenigen Figuren, die Schmerz erleiden. Das nennt man Intimität.
Wie genau wollen Sie diese Intimität darstellen?
Ich mache mir bei der Konzeption einer Szene viele Gedanken darüber, aus wessen Perspektive ich sie darstelle. Das setze ich in meinen Filmen auch um. Zum Beispiel in meinem Western „Bone Tomahawk“: Unter den vier Hauptfiguren, die zu ihrer Mission aufbrechen, erhält immer diejenige den Point-of-View, die im Zentrum des Geschehens steht. Die von Ihnen angesprochene „Dr Divinus“-Szene im Wald beschreibt den absoluten Tiefpunkt, den einer der Charaktere erleidet. Ich wollte den erzwungenen Akt nicht zu ausführlich darstellen – was danach geschieht, ist viel entscheidender.
Die Gangster-Gespielin Heather sagt: „Niemand versteht hier überhaupt irgendetwas.“ Keine der Figuren erfährt, was es mit dem rätselhaften Dr. Divinus auf sich hat. Ein Novum in Ihren Geschichten: Protagonisten tappen im Dunkeln und begreifen ihr Schicksal nicht.
Ob das ein Novum in meiner Art Geschichten zu erzählen ist? Darüber müsste ich nachdenken. Aber es dürfte zumindest für diejenigen Werke zutreffen, die bereits veröffentlicht sind. Und es stimmt, das große Wissen fehlt den Charakteren, was auch die Frage aufwirft, ob es hier überhaupt einen echten Hauptprotagonisten gibt. Viele meiner Storys eint, dass ihr Rahmen sehr viel größer ist, als die Charaktere erahnen können. Das zeigt sich schon in meinem Romandebüt „A Congregation of Jackals“. Die alles entscheidenden Momente beruhen auf Ereignissen, die 20 Jahre zurückliegen. Die vier Helden wissen noch, was damals geschah, weil es sie verfolgt. Ihre Frauen aber nicht. In „Dr. Divinus“ ist der Erzählrahmen noch größer, es geht um verschiedene Jahrhunderte und verschiedene Länder, um eine amerikanische Großstadt, aber auch um eine abgelegene Region im ländlichen England.
Mit der Figur des Baumgarten führen Sie einen undurchsichtigen jüdischen Rechtsanwalt ein, und einem Inhaftierten wird mit einem Zellenbesuch durch „Black Bulls“ gedroht. Manche Kritiker glaubten nach Ihrem jüngsten Film „Dragged Across Concrete“, in dem zwei Cops unwidersprochen rassistische Tendenzen aufzeigen, dass Sie sich vor allem im politisch rechten Spektrum wohlfühlen. Ihre Graphic Novel dürfte für manche Leser diese Punkte ebenfalls berühren.
Mein Standpunkt hat sich bezüglich solcher Interpretationen nie geändert. Grundsätzlich müssen wir uns darüber klar werden, dass es stets voneinander sehr unterschiedliche Menschen sind, die ins Kino gehen, die ein Buch lesen, die ein Album hören, und die ihr eigenes Empfinden dann bewerten und öffentlich machen. Menschen lassen Dinge nicht nur auf sich reinprasseln – sie suchen im Medium auch gezielt nach bestimmten Darstellungen, die in ihr Bild passen. Diejenigen Leute, die sich über meine Sachen aufregen, lassen sich oft leicht erkennen. Man liest es schnell aus ihren Rezensionen heraus, aus den ersten paar Sätzen schon. Sie haben bereits eine Meinung über mich, bevor sie schreiben, worüber sie erst nachdenken sollten.
„Sehr viele Leute, die sich durch meine Arbeiten angefasst fühlen, finanzieren ihr Leben damit, eine Meinung auszustoßen. Sie werden dafür bezahlt“
Betrachten Sie sich denn als politischer Künstler?
Meine Arbeit ist überhaupt nicht politisch motiviert. Und solche Sachen fließen auch nicht in die Gedanken und Handlungen meiner Figuren ein! Andererseits erlaube ich meinen Figuren etwas, das sich viele Künstler nicht trauen. Ich erlaube meinen Figuren, selbst keinen inneren Filter zu haben. Es ist in meinen Arbeiten also vorgesehen, dass auch gute Menschen Sätze sagen, die anderen vor den Kopf stoßen. Dieser Eindruck verstärkt sich, je mehr Figuren ein gemeinsames Verständnis davon haben, Dinge zu sagen oder zu tun, die andere vor den Kopf stoßen. Sehr viele Leute, die sich durch meine Arbeiten angefasst fühlen, finanzieren ihr Leben damit, eine Meinung auszustoßen. Sie werden dafür bezahlt. Deren Weltbild als beruflich für Kritiken zuständige Menschen besteht also darin, Lesern ein Statement mitzugeben. Aber: Es ist nicht so, dass ich nicht selbst viele Meinungen zu Dingen hätte.
Aber wie äußern Sie sich?
Ich teile sie zum Beispiel in meinen verschiedenen Kunstformen mit, aber, wie gesagt: Das sind keine politischen Äußerungen – ich will meine Rezipienten nicht von einer politischen Sache überzeugen. Schauen Sie, ich probiere mich derzeit als Cartoonist. Ich habe zuvor Regie bei drei Filmen geführt, die ich selbst geschrieben habe, dazu Scripts für zwei weitere. Sechs Romane als Schriftsteller und neun Alben als Musiker. Ich habe also schon sehr viel Material produziert, das den Leuten gefallen kann oder nicht. Meine Identität beruht darauf, Sachen herauszubringen, die mir Spaß machen. Sicherheitsgrenzen erkenne ich nicht an.
Hat sich bei Ihnen noch nie ein innerer Zensor gemeldet?
Ich habe keine Angst. Ich werde in meinen Arbeiten sicher keine Szenen nur deshalb einfügen, damit auch der letzte versteht: Der Typ, der die Story geschrieben hat, teilt nicht den Standpunkt seiner Figur. Ich kenne mehr als einhundert Reviews oder Porträts, die mich falsch beschreiben, Leute, die meinen, mein Glaubenssystem analysieren zu können. Mir wäre es lieber, man würde einfach nur meine Arbeiten betrachten. Es gibt viele, die sich an mir stören – ich glaube aber, es gibt mehr, denen meine Arbeiten gefallen. Meine drei Filme gelten als kontrovers, aber als ich das letzte Mal auf „Rotten Tomatoes“ (Website, die Kritiker-Rezensionen und Fan-Besprechungen abbildet) nachschaute, hatte einer von ihnen im „Audience Score“ ein „Certified Fresh“-Zertifikat mit 76 Prozent Zustimmung.
Das war Ihr letzter, „Dragged Across Concrete“.
Es gibt bekannte Kritiker, die sich über die Figuren darin mokieren: „Warum tut gerade ein Cop so schreckliche Sachen?“ Aber ich entdeckte viel mehr Kritiker, die mich genau dafür loben. Wer sich nur den Anfang des Films ansieht, und nur den Anfang bewerten viele Rezensenten, der könnte doch zu einem ganz anderen Urteil kommen, als wenn er bis zum Ende gewartet hätte. Um nochmal auf Ihre Frage nach meinem politischen Standpunkt zurückzukommen: Ich möchte den eigentlich gar nicht kommentieren müssen. Die Leute meinen mich zu kennen, indem sie meine fiktiven Figuren interpretieren. Das ist, höflich formuliert, nicht gerade ein geeigneter Versuch der Annäherung an mich. Es ist kein geeigneter Versuch, sich überhaupt irgendjemandem anzunähern. Gut, sollen sie alle halt ihre Meinung haben.
Apropos fiktive Figuren: Ob Dicky in „A Congregation of Jackals“, Task in „The Slanted Gutter“ oder nun Tommy Driscoll in „Dr. Divinus“ – Sie scheinen sich hingezogen zu fühlen zu riskant agierenden, gut aussehenden Spielern, über die ein Unglück hereinbricht, die alles zu verlieren drohen oder gar verstümmelt werden.
Auf einige Figuren meiner bereits erschienenen Romane trifft das zu. Dann gibt es noch zwei unveröffentlichte Bücher, in einem gibt es einen hübschen Milliardär, der in einen schrecklichen Autounfall gerät, der unter Alkoholeinfluss entstand. In dem anderen einen äußerst eloquenten Restaurant-Manager, der wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis war. Es gibt also, wenn Sie so wollen, ein Muster in der Struktur und Auswahl meiner Charaktere. Wahrscheinlich steckt sogar mehr als nur ein Muster dahinter. Mich reizen Abwärtsspiralen. Mich haben Figuren, die sich durch klare kriminelle Schwächen oder charakterliche Fehlentwicklungen auszeichnen, immer gereizt. Keinem von ihnen wurden Reichtum, Weisheit oder Klugheit in die Wiege gelegt, manche werden im Laufe ihres Lebens smart, andere bleiben schwach. Die Mängel sind also nicht einfach angeboren – die Leute schlittern in ihr Unglück. Es geht für mich darum, diese Figuren nur einen Fehler machen zu lassen, aber einen gravierenden. Wenn sie dazu unter Gewaltimpulsen leiden, umso besser.
Wer fällt Ihnen da ein?
Bradley in „Brawl in Cell Block 99“. Oder der Kinderschänder, von dem ich soeben sprach. Das sind Leute, die enorme Konflikte austragen, innen wie nach außen, und die als Charaktere viel erzählerisches Potential besitzen. In „Dragged Across Concrete“ haben wir zwei Polizisten, die einen ziemlich schwerwiegenden Fehler begehen, und sie sind auch nicht gerade die wundervollsten Menschen. Das fiel auch den Kritikern auf. Nur, dass es dann wieder hieß: „Zahler verzeiht solchen Leuten alles, er entschuldigt ihr Verhalten gar!“ Aber es gibt viele Rezensenten, die den Film lieben, gerade weil sie sich mit den Hauptfiguren nicht identifizieren, weil sie sie ablehnen. Natürlich gibt es auch solche, die die zwei Cops gut finden. Ich muss dabei an ein tolles Interview mit dem Drehbuchautor von „RoboCop“ denken, in dem es um Deutungen des Films ging. Die Far-Right-Leute lieben den Streifen, weil der RoboCop das totalitäre Ein-Mann-Justizsystem darstellt, das noch vor Ort ihr Urteil fällt. Die Linke liebt ihn, weil der RoboCop die Rechten parodiert. Er funktionierte also für grundlegend verschiedene Zuschauer. Man muss halt mit allen Leuten, die Kunst deuten, leben können. Ich denke, „Dragged Across Concrete“ löst ähnliche Reaktionen aus, ich habe einige Diskussionen verfolgt, in der Leute über die zwei Cops Brett Ridgeman und Anthony Lurasetti debattieren.
„Ich zwinge die Leute dazu, Vince Vaugh beim Essen eines Sandwichs zuzusehen“
Sie schildern gern die Langsamkeit polizeilicher Aktivitäten. Im kommenden Roman „The Slanted Gutter“ die Wartezeit im Verhörzimmer, in „Dragged Across Concrete“ unbedeutende Nachtstunden beim Observieren aus dem Auto heraus.
Ich hoffe, dass das den Leuten gefällt! Es macht mir Spaß, solche Passagen zu schreiben. Wen man zu schnell zur nächsten Szene schneidet, wenn zu viel im nächsten Romanabsatz passiert, dann leidet darunter der Wert, die Erinnerung an das Vorangegangene. Das wohl beste Beispiel ist, wie die Zuschauer in „Dragged Across Concrete“ dazu gezwungen werden, Vince Vaughn beim Essen eines Sandwichs zuzusehen. Ich wüsste nicht, wer sonst eine derartige Einstellung in Filmen zeigt. Vielleicht unabhängige Filmemacher. Oder Giorgos Lanthimos. Ich bin großer Fan dieses Regisseurs. Er nimmt sich immer die Zeit, das zu zeigen, was er will. Es ist ein großer Unterschied, ob man im Film darüber spricht, dass etwas langweilig ist, oder ob man Zuschauer das auch spüren lässt. Es ist mutig, das zu inszenieren, denn Langeweile darf es in Filmen ja nie geben. Szenen wie in „The Slanted Gutter“ sind nicht minder herausfordernd: Jemand sitzt im Verhörraum und wartet darauf, dass die Cops reinkommen. Man muss versuchen, die Spannung zu halten. Eine echte Challenge, aber am Ende gefiel mir der Abschnitt sogar besser als manch anderer in dem Roman.
Haben Sie jemals daran gedacht, für ihre Figuren ein „Shared Universe“ zu kreieren, sie also in gemeinsamen Werken auftreten zu lassen? Tommy Driscoll aus „Dr. Divinus“ hat ein Totenkopf-Tattoo, Bradley aus „Brawl in Cell Block 99“ ein tätowiertes Kreuz auf dem Hinterkopf, als wären sie Mitglieder derselben Gang.
Beide Tätowierungen sind mehr als Schmuck. Sie tragen sie, weil sie wichtig für die Handlungen sind. Bei Bradley geht es bei dem Tattoo um die Darstellung seiner Gang-Historie, bei Tommy darum, ihn daran überhaupt zu erkennen. Das „Shared Universe“ ist aktuell jedoch kein Thema für mich. Ich mag meine Story-Welten, wenn sie singulär sind, sich voneinander abgrenzen. Mir ist bewusst, dass im „Shared Universe“-Prinzip gerade im Filmgeschäft viel Geld zu holen ist. Aber schauen Sie sich mal die Sterblichkeitsrate in meinen Storys an. Es ist nicht wirklich so, dass ich unzählige Charaktere wiederverwenden könnte! „Brawl In Cell Block 99“ oder „Dragged Across Concrete“ eint, dass die Gruppe an Protagonisten am Ende sehr viel kleiner ist als am Anfang. Am ehesten könnte man noch sagen, dass die Figuren in meinen verschiedenen Western eine Chance hätten sich zu begegnen, aber das ergibt für mich irgendwie wenig Sinn. Mich stört am „Shared Universe“ aber noch mehr.
Was?
Dass er sich in den meisten Fällen wie ein Insiderwitz anfühlt. Gerade, wenn bestimmte Monster in Horrorfilmen aufeinandertreffen, oder bei diesen Schrei-Soundeffekten, die Filmemacher sich weiterreichen. Klar, die Leute freuen sich, dass sie Wiedererkennungswerte haben. Sie glauben dann vielleicht, dass sie durch das Verstehen von Zusammenhängen einen Beitrag zur Wertschätzung von Kinohistorie leisten. Mich aber reißen solche Insiderwitze immer aus dem Film heraus, sie bereichern ihn nicht. Das wirkt vielmehr so, als zwinkern plötzlich die Filmemacher selbst ins Bild. Wenn ich jemals ein „Shared Universe“ kreieren sollte, dann gleich mit einem Plan von Anfang an, also ab dem ersten Werk, und nicht erst nachträglich, sobald dessen Erfolg sichergestellt wurde.
Sehen Sie ihren entstellten Arzt Dr. Divinus eigentlich als Schurken – oder doch als Opfer? Er ist eine ausgestoßene Waise, gequält von seinen Mitmenschen, und nimmt Rache.
Ich rede ungerne über Motivationen meiner Charaktere, ich wünsche mir, dass Sie das als Leser übernehmen – haben Sie ja auch gemacht! Aber es passt zu unserem Thema des „Shared Universe“ bzw. „Expanded Universe“: Ich hatte zu Beginn meiner Arbeit kurz daran gedacht, ob ich Dr. Divinus, gerade weil er eine Comic-Figur ist und die Story schmaler als meine Romane, ein weiteres Mal verwenden sollte. Er bewegt sich in einem Zeitrahmen von mindestens 100 Jahren. Ich könnte ihn locker ein weiteres Mal auftreten lassen. The World Is My Oyster! Aber nun stecke ich tief in der Arbeit zu meiner nächsten Graphic Novel. Es ist die zeitaufwendigste künstlerische Unternehmung meines Lebens.
Worum geht es darin?
Ich möchte nur so viel verraten: Es ist Science-Fiction. Epische Science-Fiction, ich setze große Maßstäbe an. Charaktere, die man von mir erwarten kann und solche, die man nicht von mir erwarten kann. Ich schrieb es Ende März 2020 und fing mit dem Zeichnen Ende Mai an. Es nimmt Zeit in Anspruch, aber ich hätte auch daran gearbeitet, wenn die Corona-Pandemie nicht zugeschlagen hätte. Nun erwies es sich als perfektes Projekt, denn wie Sie sicher wissen, ist es derzeit wegen des Virus schwerer Filme zu drehen. Worüber ich ebenfalls noch nicht sprechen kann: Ich habe einen alten Western-Roman adaptiert, dessen Verfilmung hoffentlich bereits bekannt gegeben wird. Aber danach geht es an meinen eigenen, vierten Film.
Welcher wird es sein?
Ich sprach davon schon, bevor „Brawl in Cell Block 99 “ 2017 ins Kino kam. Ich bringe „Hug Chickenpenny: The Panegyric of an Anomalous Child“ auf die Leinwand. Ich setze also erstmals einen eigenen Roman um.
Die Geschichte hat kleine Ähnlichkeiten mit „Forbidden Surgeries of the Hideous Dr. Divinus“: In beiden geht es um entstellte Kinder, die um Anerkennung ihrer Kunst kämpfen.
Ja, und ich arbeite für die Darstellung des Hug mit der Jim Henson Company zusammen. Die Besetzung steht auch schon. Aktuell verhandele ich gerade mit Firmen, die ihn produzieren könnten.
Wenn Sie nun erstmals eine Romanvorlage verfilmen, wissen zumindest Ihre Leser ja schon, was sie im Kino erwartet.
Nun, ich weiß aber auch, wie sich meine Bücher verkaufen. Ich habe weit mehr Kinozuschauer als Leser. Ich bin kein Bestseller-Autor. Gerade der Markt für Westerngeschichten zum Beispiel ist überschaubar. Ich versuche die beste Version von „Hug Chickenpenny“ auf die Leinwand zu bekommen, ich beschäftige mich mit dieser Erzählung seit bald 20 Jahren. „Dragged Across Concrete“ schrieb ich gerade mal ein Jahr, bevor ich ihn ins Kino brachte, 2004 dagegen verfasste ich bereits die erste „Hug Chickenpenny“-Fassung. Die Figur ist ja liebenswert, aber unangenehm anzusehen. Das wird die Herausforderung sein, denn über Hugs Aussehen zu lesen ist natürlich etwas ganz anderes als ihn erstmals vors Gesicht zu bekommen. Und ich will Hug Chickenpenny verwirklicht sehen.