Interview mit Tolkien-Illustrator John Howe: „Wir kennen Mittelerde noch immer kaum“
John Howe gilt als einer der wichtigsten Fantasy-Illustratoren. Für die Serie „Die Ringe der Macht“ ist er als Konzeptkünstler tätig. Ein Interview über verschobene Küstenlinien, die unwahrscheinlichsten Türme und die Eleganz mittelalterlicher Waffen
Menschen, nein: Lebewesen verschiedener Größe, verschiedener Hautfarbe, verschiedenen Geschlechts, ja, auch fluiden Geschlechts bekämpfen gemeinsam einen Feind, der sie knechten will. J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, eine 68 Jahre alte Saga, ist so aktuell wie damals: ein Plädoyer für Diversität. Die Serie „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ (02.09, Prime) greift, wie schon Peter Jacksons Kino-Trilogien (2001-2003, 2012-2014), diesen Leitgedanken auf. Fantasy ist längst nicht mehr alt, weiß und männlich. Nachdem der Trailer eine Schwarze als Zwergin vorstellte, gab es zwar einen Shitstorm der Unverbesserlichen. Den saßen die Showrunner J.D. Payne und Patrick McKay aber locker aus.
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Die Erwartungen an „Die Ringe der Macht“ sind so hoch wie der Mount Doom. Die Filme spielten sechs Milliarden Dollar ein, es gab 17 Oscars. Heute sind immer mehr cineastische Stoffe als Serien zu sehen. Jeff Bezos persönlich beorderte die Produktion eines Mehrteilers, damit Amazon ein „Sword and Sorcery“-Format vorlegt, das „Game of Thrones“ von HBO Konkurrenz macht. Kosten: angeblich eine Milliarde Dollar für fünf Staffeln.
„Die Ringe der Macht“ verfilmt die Anhänge aus den „Ringe“-Romanen, oder, wie Tolkien-Apologeten weihevoller sagen: den Appendizes. Tausende Jahre vor den Abenteuern Frodos werden die neun Ringe geschmiedet, deren Besitz die Weltherrschaft ermöglicht; der böse Sauron steigt auf; Menschen und Elben ziehen in die Schlacht gegen den Aggressor. Es gibt ein Wiedersehen mit Charakteren wie der Elbenkönigin Galadriel, nicht mehr verkörpert von Cate Blanchett, sondern Morfydd Clark. Galadriel führt den Widerstand an. „Kämpfende Frauen haben ihren festen Platz in der Fantasy, auch bei Tolkien“, sagt die 33-Jährige. „Die Ringe der Macht“ spielt im „Zweiten Zeitalter Mittelerdes“. Wird mit dieser Mega-Produktion auch ein neues Serienzeitalter eingeleitet?
Wir sprachen mit den Regisseuren J.A. Bayona („Jurassic World: Fallen Kingdom“) und Charlotte Brändström („The Witcher“), Spezialeffekte-Chef und Produzent Ron Ames, dem Illustrator und Designer John Howe (die „Herr der Ringe“- und „Hobbit“-Trilogie), als auch mit den Schauspielern Benjamin Walker („Abraham Lincoln: Vampire Hunter“) und Morfydd Clark („Saint Maud“).
John Howe gilt als einer der bedeutendsten lebenden Fantasy-Buch-Illustratoren. Gemeinsam mit Alan Lee war er als Konzeptkünstler für die „Herr der Ringe“-Filme Peter Jacksons tätig. Der 65-Jährige Kanadier prägte die Ästhetik und Wahrnehmung der Tolkien-Welt entscheidend mit.
Mr. Howe, Sie sagen, in manchen der von Ihnen illustrierten Fantasy-Figuren, wie Boromir aus „Der Herr der Ringe“, finden Sie selbst sich wieder. Eines ihrer gezeichneten Selbstporträts weist nun frappierende Ähnlichkeit auf mit jenem mysteriösen Menschen, der in Episode zwei der „Ringe der Macht“ vom Himmel fällt …
Das bedeutet also, ich muss mich mal wieder rasieren, vielen Dank! Dabei versuche ich, mich ja gerade nicht in meinen Umsetzungen selbst zu verwirklichen – zumindest nicht als konkrete Charaktere. Natürlich bringen viele Künstler, ob intendiert oder nicht, einen Teil ihrer Persönlichkeit in die Arbeit ein. Mir wurde ja auch schon gesagt, ich trüge Gandalfs Bart oder er meinen. Auch das war keine Absicht. Gut, ich habe mich ein paar Mal als Boromir gemalt …
… der ungeliebte Sohn eines Truchsess, der seinen Vater stolz machen will und aus Schwäche seine Hobbit-Gefährten verrät …
… eine tragische, wundervolle Figur. Aber ich möchte mich nicht mit dem wundervollen Schauspieler Sean Bean vergleichen, der ihn im Film verkörpert. Jeder Darsteller im „Ringe“-Kosmos bringt doch derart viel in seine Rolle ein, dass ich es als redundant empfinden würde, mich selbst einzubauen oder hineinzufantasieren, noch bevor das Casting überhaupt erfolgt ist.
„Die Ringe der Macht“ setzt tausende Jahre vor „Der Herr der Ringe“ an. Die Welt wirkt kolonialisierter, lebendiger, reicher, farbenfroher als das zermürbte Mittelerde abseits von Frodos Auenland. Ist die Visualisierung solch ausgearbeiteter Zivilisationen einfacher?
Verlassene Welten, wie die aus „Der Herr der Ringe“, wirken manchmal romantischer. Menschen fühlen sich oft zu gigantischen Ruinen oder leeren Städten hingezogen, weil sie sich das Leben zu deren Glanzzeiten vorzustellen versuchen. Für mich selbst bedeutet es mehr Arbeit, eine vor Leben vibrierende Welt zu kreieren, aber auch viel Spaß. Die Komplexität meiner Aufgabe in den „Ringen der Macht“ kam darin zum Ausdruck, diese Zivilisationen glaubhaft darzustellen. Besonders eine maritime Nation wie Númenor.
Wie haben Sie versucht, eine bereits mittelalterlich wirkende Kultur, wie sie „Der Herr der Ringe“ zeigt, durch eine Jahrtausende ältere darzustellen, wie in „Die Ringe der Macht“?
Diese Zeitalter verhalten sich zueinander wie das 17. Jahrhundert zum Römischen Reich. Das war natürlich eine Herausforderung. Ich bin eigentlich kein Fan von Retro-Design, also die Neudarstellung eines bereits fiktiv älteren Designs durch die Vorstellung eines noch älteren fiktiven Designs. Ich glaube, diese Art Rückwärtsgestaltung ist noch keinem effektiv gelungen. Ich habe versucht intuitiv an die Serie heranzugehen, vor allem untersuchte ich Tolkiens Ausgangsmaterial erneut.
Können Sie Fantasy-Bücher eigentlich noch als Leser lesen, oder meldet sich in Gedanken bei jeder Zeile sogleich der Illustrator zu Wort – „wie würde das aussehen, wenn ich es sofort auf eine Leinwand brächte“?
Hier spielen sich zwei Prozesse gleichzeitig ab, ja. Zuerst entsteht beim Lesen spontan ein Bild in mir, und das betrifft jeden Text. Aber danach kommt es zu einem Dialog oder eher Trialog, und zwar zwischen dem Thema, dem entstehenden Bild sowie mir als Zeichner. Ich nenne diesen Prozess „Anfänger-Archäologie“: Vordringen in ein Universum, das man noch nicht ganz erkennen kann. Ich will ein Gebäude errichten und nehme dafür Stein für Stein in die Hand.
Gab es auch Dinge, vor deren Sie kapitulierten, die Sie nicht zeichnen konnten?
Diese Situation ist mir nicht unvertraut, und sie bereitet mir wenig Freude. Manchmal bin ich einfach nicht in der Lage, aus den Texten das richtige Bild zu kreieren – manchmal sind aber auch die Autoren nicht in der Lage, gute Bilder zu entwerfen. Möglicherweise mache ich auch in diesen Fällen etwas falsch. Bei Tolkien inspiriert mich alles, jede Seite. Die Herausforderung besteht darin, aus dieser Fülle von Bildern das herauszupicken, was ihm gerecht wird. Bilder, die Glaubwürdigkeit und Solidität ausdrücken und mit den Gefühlen korrespondieren, die beim Lesen des Textes entstehen.
Recherchieren Sie, inwieweit die Architektur von Tolkien-Lebensräumen, wie die unterirdische Zwergenstadt Khazad-dûm, tatsächlich gebaut werden könnte?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich beschäftige mich ausgiebig mit dem Material, das für seine Städte verwendet werden müsste. Hier spielt es für mich auch keine Rolle, ob es sich um eine magische Welt handelt. Barad-dûr, der Dunkle Turm, die Festung Saurons, ist mit einer Höhe von rund 1500 Metern streng genommen zu hoch für eine Struktur, die nur aus Stein besteht. Die Errichtung der Minenstadt Khazad-dûm dagegen sollte, zumindest nach meiner Einschätzung, physikalisch und baustatisch möglich sein. Ich mache mich vorher schlau, über Holz, Stein, Fliese. Khazad-dûm, auch Moria genannt, war für mich besonders interessant, als es für „Die Ringe der Macht“ an die Arbeit ging. Schließlich gab es die Stadt schon in „Die Gefährten“ zu sehen, nur eben als Ruine, nicht als Metropole.
Auch Tolkien-Anhänger achten auf alles. Über Sarumans Turm Orthanc aus der Verfilmung von „Die Gefährten“ gab es eine Diskussion, weil der Turm abweichend von Tolkiens Beschreibung auf seiner Zinne an jeder Ecke eine Spitze erhielt …
Während jeder Filmproduktion gibt es eine Phase, die besonders schön ist: die „Anything Goes“-Phase. Danach muss es darum gehen, in der Prä-Produktion mit einer Fülle von Ideen unterschiedlicher Beteiligter voranzukommen, um am Ende, je nach Vorgabe des Drehbuchs, wieder Ideen wegzunehmen. Auch für mich ist das ein langer Prozess. Bei Türmen genieße ich es, tatsächlich von unten nach oben zu malen, mich hochzumalen. Auch deshalb, weil ich Zeit benötige mir vorzustellen, was sich überhaupt auf dem Dach befindet. Für mich ist das so, als würde ich ein wundervolles, fremdes Land zum allerersten Mal besuchen, umgeben von großartiger Architektur, die gänzlich erfasst werden will – mit dem Unterschied, dass es eben keine gibt, man sie komplett erfinden muss.
Kommt es vor, dass Sie zeichnerische Umsetzungen revidieren, Gebäude oder Kreaturen nach Veröffentlichung neu malen?
Nichts ist in Stein gemeißelt. Es macht aber auch nicht unbedingt Spaß, abgeschlossene Arbeiten zu betrachten. Ich mache lieber Neues. Wir verändern uns doch über die Jahre, unsere künstlerischen Fähigkeiten entwickeln sich weiter. Und ich recherchiere 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Ich versuche permanent zu verstehen, wie Größen oder Umfänge sich bauen und malen ließen. Thema, Motiv, Bleistift, Papier, los geht’s. Man muss da nicht groß nachdenken, ich glaube einfach daran, meiner Intuition vertrauen zu können.
Kommt es vor, dass Set-Designer aus Ihren Vorlagen etwas bauen, das Ihnen nicht gefällt?
Wann immer eines meiner Konzepte akzeptiert und gebaut wird, kann es eine Diskrepanz zu meiner Vision geben. In der Regel jedoch betrachte ich die Sets als Verbesserung davon. Ich vertrauen den Kollegen, die ihre Erfahrung, ihr Wissen mit einbringen. Ich bin froh darüber, loslassen zu können. Genau dafür ist Concept Work ja geschaffen: Es soll Menschen inspirieren, sich in der von Ihnen geschaffen Umwelt einzurichten, in dem sie von ihnen ausgearbeitet wird. Ich würde sogar sagen: Wenn das Ergebnis auf der Leinwand zu weit von meinen Ideen abweicht, dann habe womöglich ich meinen Job nicht gut gemacht. Es kommt ja häufig bei einer künstlerischen Arbeit vor, dass das Bild im Kopf eines ist, das für den Künstler vollständig erscheint – tatsächlich aber nicht an einen Betrachter vermittelt wurde. Sie können sich vorstellen, wie befriedigend es dennoch sein kann, auf der Leinwand ein Gebäude zu sehen, haargenau so, wie Sie es einst entworfen haben.
„Ich würde mir nicht ausmalen wollen, auch nur eine einzige der Waffen zu benutzen, die auf mein Design zurückgehen“
Sie gelten als Experte in Waffenkunde und Rüstungen des Mittelalters.
Ich liebe es, Waffen zu entwerfen. Ich bin kein blutrünstiger Mensch, ganz sicher nicht. Ich würde mir nicht ausmalen wollen, auch nur eine einzige der Waffen zu benutzen, die auf mein Design zurückgehen. An Waffen faszinieren mich deren Eleganz und Energie. Was mir außerdem an Waffen gefällt: Selbst das bescheidenste Objekt verrät uns etwas über die Kultur des Volkes, das sie benutzt. Deshalb sollte deren Design auch nicht leichtfertig angegangen werden, mit der Waffe als Selbstzweck.
Für Tolkien-Bücher haben Sie auch unzählige Landkarten gemalt. Mussten Sie für die neue Serie Anpassungen vornehmen, da Entfernungen schneller zu schaffen sein müssen?
Die Landkarte von Númenor war eine einnehmende Arbeit. Die erste zeichnerische Darstellung dieser Insel stammt von Christopher Tolkien, der die Anweisungen seines Vaters befolgte. Wir kennen die Landkarten Mittelerdes und wissen, dass Númenor im westlichen Meer liegt – allerdings nicht, wie weit es von der Westküste Mittelerdes entfernt liegt. Auch die Küstenlinie Mittelerdes unterscheidet sich ein wenig von der aus „Der Herr der Ringe“. Númenor ist noch nicht versunken, und ihr Untergang wirkt sich natürlich auf den Kontinent aus. Im „Zweiten Zeitalter“ sehen sogar die Wälder noch anders aus. Wir knöpften uns wirklich jede Straße vor: Hier, dieser Weg, er führt durch einen Fluß – muss es also dort auch eine Brücke geben? Wenn Sie sich die Landkarte in den „Ringen der Macht“ ansehen, wird Ihnen auffallen, dass wir von Númenor aus nicht viel weiter nach Westen aufbrechen. Aber dort liegt noch ein weiterer Kontinent. Vielleicht wird der irgendwann noch erkundet.
Ist es nicht unbefriedigend, dass etliche Leser oder Zuschauer gar nichts von Ihrer Detailtreue gegenüber dem Ursprungsmaterial mitbekommen?
Das stört mich doch nicht! Es ist wichtig, wichtig für mich. Aber selbstverständlich freue ich mich über Anerkennung, von nicht-kundigen Menschen genauso wie von den Die-Hard-Fans. Wichtig ist mir, dass ein genereller Eindruck von der Größe Mittelerdes vermittelt werden kann. Ich habe sehr viele Details in den Landkarten versteckt, von denen einige vielleicht noch niemandem aufgefallen sind. Ich freue mich auf den Tag, an dem sie entdeckt werden!
„Fantasy kann ein essenzielles Vehikel sein für die Erinnerung an Dinge, die wir gern vergessen, weil wir doch alle in unserem Alltag verheizt werden“
Warum, glauben Sie, erlebt Fantasy ein Allzeit-Hoch?
Fantasy-Arbeiten begleiten die Menschheit seit Anbeginn. Märchen oder zumindest die Weitergabe nicht-realer Ereignisse hat es schon immer gegeben, in jeder Kultur. Fantasy kann ein essenzielles Vehikel sein für die Erinnerung an Dinge, die wir gern vergessen, weil wir doch alle in unserem Alltag verheizt werden. Tolkiens Fantasy beschäftigt sich mit den großen Dingen, den Introspektionen, dem Blick in die Seele: Was ist Treue? Was ist ein Opfer, was ein Verlust? Fundamentale Fragen, die niemals verschwinden werden, und die unser Miteinander prägen. Es sind solche Fragen, die Fantasy und Realität miteinander vereinen. Und es geht natürlich auch um etwas anderes: die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit. Wir akzeptieren die Fiktion, erkennen sie als realistisch an, damit unser Kunstgenuss nicht gestört wird. Ich glaube wirklich, dass wir intuitiv die Tolkienschen Fragen verstehen, wenn wir das Dargebotene für glaubhaft halten, dieses Universum absorbieren.
Glauben Sie, dass Fantasy auch politische Allegorien widerspiegeln sollte? Tolkien war als Soldat im Ersten Weltkrieg in der Somme-Offensive im Einsatz.
Tolkien hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er es bevorzugt, wenn Leser ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken anwenden.
Manche verwechseln den Begriff der Anwendbarkeit mit dem der Allegorie. Das eine, sagte Tolkien, ist der Freiheit des Lesers überlassen, das andere dem Autoren.
Die Allegorie kann ein simplifizierendes Werkzeug sein. Tolkien ging es um eine viel höhere Ebene. Einem fundamentalen Verständnis von Werten. Mir selbst geht es um die Darstellung von Glaubwürdigkeit und visueller Vielfalt. Ich versuche mich in Tolkiens Landschaften hineinzudenken, zu verstehen, dass seine Landschaften auch Handlungsfiguren sind. Ich versuche, in ihnen einen Archetyp zu entdecken. Für mich ist diese Gedankenarbeit eine Vollbeschäftigung.
„Die Ringe der Macht“ erweckt all jene Monumente zum Leben, die Sam und Frodo Jahrtausende später auf ihren Weg nach Mordor nur noch als Ruinen sehen.
Wie großartig es doch wäre, allein all die Statuen um uns zu haben, die es leider nicht mehr gibt! So oft wünsche ich mir, so oft fantasiere ich beim Wandern davon, die kümmerlichen Ruinen, die ich passiere, in voller Blüte zu sehen. Für die „Hobbit“-Filme habe ich einige zerstörte Monumente entworfen, von denen es aber nicht viele in die Filme schafften. Diese sind kraftvolle Erinnerungsstücke – Statuen dokumentieren die Geburt oder Weiterentwicklung unseres Narzissmus. Das alte Rom liefert dafür schöne Beispiele. Vieles davon ist heute verschwunden. Aus einem Imperium, einem Universum aus Millionen Menschen wurden irgendwann zunächst nur noch Lebensräume für hunderttausende. Das Motiv der verschwundenen Zivilisation durchzieht Tolkiens Werk. Dabei befinden wir uns mit „Die Ringe der Macht“ sogar erst im „Zweiten“, nicht dem „Dritten Zeitalter“.
Heute errichtete Statuen werden oft verspottet. Wir wissen, wie das reale Vorbild aussieht und machen uns über die mangelnde Ähnlichkeit lustig.
Statuen sind kein Teil unserer Kultur mehr. Ich liebe Giganten-Statuten, die man heute noch in Asien findet oder Lateinamerika. Sie inspirieren mich, fließen in meine Arbeit ein. Die Ausdrucksstärke dieser Monumente ist einzigartig.
Die „Anhänge“, auf denen „Die Ringe der Macht“ basiert, bestehen weniger aus literarischen Elementen, als dass sie wie ein Kalendarium funktionieren. War das eine Herausforderung für Sie?
Ja und Nein. Natürlich ist es von Vorteil, viele Informationen geliefert zu bekommen, bevor man sich an den Zeichentisch setzt. Andererseits ist Tolkiens Spirit auch in den Anhängen ganz klar zu fühlen. Reicht mir. Ich muss nicht immer wissen, wie viele Kilometer lang eine Mauer ist. Ich muss nur wissen, wie sie auf die Charaktere wirkt.
Hat Tolkien jemals etwas fantasiert, das Sie nicht überzeugt?
Erstaunlicherweise nicht. „Die Ringe der Macht“ war für mich wie ein Weg, man arbeitet sich an Scripts entlang und versucht sein Bestes, damit das Universum überzeugend ist. Und dann blickt man zum Horizont. Man fühlt, dass da noch mehr liegt. Aber das Drehbuch sieht nicht vor, dass dieser dort draußen liegende Ort besucht wird, obwohl man es sich doch so sehr wünscht … das Gefühl habe ich sehr oft. Ich bin sehr froh, dass „Die Ringe der Macht“ eine neue Grenze überwindet. Dass es aufs Meer geht. Das Meer hat dem „Hobbit“ und dem „Herrn der Ringe“ doch gefehlt.
Die größte erzählerische Errungenschaft Tolkiens besteht meiner Ansicht nach darin, unsere Erwartungen mit dem Ausbleiben einer Schlusskonfrontation zwischen Frodo und Sauron in „Die Rückkehr des Königs“ enttäuscht zu haben. Über mehr als tausend Buchseiten begibt sich der Protagonist auf eine beschwerliche Reise ins Feindesland, um sich dem Antagonisten zu stellen. In jeder klischeehaften Story hätte es dann ein Duell gegeben, Schwerter klirren, der Ring fliegt von einem Hals zum anderen. Aber Frodo entscheidet sich dafür, kurz vor Saurons Festung links abzubiegen und den Ring ins Lavameer des Schicksalsbergs zu werfen. Die beiden bekommen sich nicht ein einziges Mal zu Gesicht, dabei sind sie sich dank ihrer Gedankenreisen doch oft so nah. Im Grunde dreht sich die ganze Saga nur um eine antizipierte Begegnung, die nicht stattfinden wird.
Es besteht eine Herausforderung, ja Gefahr darin, eine physische Konfrontation zwischen einem Lebewesen wie dem Hobbit sowie einer nebulösen, ja mysteriösen Kreatur wie Sauron zu konstruieren. Sauron hat sich entwickelt, von einem verführerischen Menschen, oder vielmehr dem Erscheinungsbild eines Menschen, hin zu einer Wesenheit, die ihre Festung nicht verlassen kann. Es wäre wenig weise gewesen, Frodo und Sauron miteinander kämpfen zu lassen. Tolkien war das völlig klar. Und es hätte die Geschichte auch nicht bereichert. Tolkien hätte aber sicher gewollt, dass man solche Gedankenspiele zulässt. Der Leser bringt sich dadurch in die Geschichte ein. Es entsteht ein gemeinsames Bild zwischen dem Autoren und Ihnen.
Sowohl „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“, als auch „Die Ringe der Macht“ werden wohl nie mehr neu verfilmt werden. Macht Sie das stolz oder verspüren Sie eher Bedauern?
Wer weiß denn, was die Zukunft bereit hält? Für mich als Illustrator kann ich sagen: Es gibt etliche Tolkien-Welten auf geschriebenem Papier, die noch nicht verfilmt wurden, auch solche, die ich noch nicht gemalt habe. Unzählige Male wurde ich gefragt: Hast Du denn nicht irgendwann genug von Tolkien? Gibt es ein Leben nach „Der Herr der Ringe“ für Dich? Ich habe sehr viele Projekte abseits von Tolkien. Unabhängig davon arbeite ich seit einigen Jahrzehnten an seinem Werk und habe gerade mal an der Oberfläche gekratzt. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Tolkien-Arbeiten auch diejenigen meiner Arbeit sind, die die größten Wiedererkennungswerte haben. Ich glaube, wir alle kennen Mittelerde noch immer kaum.