In London sind die Höllenhunde los
Dezember 2002 Für viele fühlte es sich wie eine zweite Punk-Explosion an, als die „The-Bands“ in Britannien einfielen – allen voran The Libertines mit Pete Doherty.
Die fiesesten Schläge kommen ohne Ankündigung. Zuerst in den Unterleib und dann, wenn du dich schon krümmst, direkt zwischen Wangenknochen und Nasenflügel. Das Lied beginnt mit einem Saiten-Twang, wölfisch, wehmütig. Man hört kurz, wie die Fäuste in Stellung rutschen, dann pumpt die Gitarre Kraft und – Mist, sie sind zu zweit! – haut zu, ein paar Mal. Aus. Diese böse kleine Pause. Und dann stampfen The Libertines zu viert auf den ausschwingenden Boden: „What a waster, what a fucking waster, you pissed it all up the wall round the corner where they chased her“, ab Zeile zwei in militärischem Doppel gesungen, ein Song ohne Satzzeichen, so atemlos und aufdringlich und trotzdem irgendwie verletzt und traurig, eine Reizwortgeschichte aus erbrochenen Schimpfwörtern, in der das ganze Geld die Nase hoch geht und jemand Panik vor den Taliban hat. Die Band schlingert und tritt am Ende noch einige Male fest zu, bis Ruhe ist. „What A Waster“, die erste Single, vergangenen Juni.
Ziemlich genau ein Jahr und zehn Monate vorher sitzen die Libertines (es regnet heftig im Osten von London) im „Red Lion“. Auf dem Tisch liegen Papierblätter, denn sie wollen an diesem Tag ein Manifest niederlegen, das ihnen den Weg nach oben zeigen soll. Es ist nicht viel passiert in den ersten drei Jahren ihrer Bandgeschichte, und auch jetzt können sie sich auf nichts Konkretes einigen, trinken viel und gehen mit der simplen Resolution auseinander, dass sie bessere Songs komponieren müssen. „Die entscheidende Entscheidung war, alle verfügbare Kraft in die Band zu investieren“, wird der baumlange, triefäugige Pete Doherty später sagen. „Die Alternative wäre gewesen, gleich eine Armee zu gründen oder weiter die Köpfe gegen die Wand zu hauen.“
Ziemlich genau zwei Jahre und drei Monate nach der Regensitzung stehen dann zwei Mädchen nachts vor dem geschlossenen HMV-Plattenladen in der Oxford Street, London-Zentrum. Eine schreit: „Ich brauch diese Badges!“, die andere versucht zu erklären, warum sie die Libertines liebt: „Sie sehen super aus. Ihre Musik ist so besonders. Sie machen’s nicht wegen dem Geld. Sie haben einen schwarzen Schlagzeuger, das sieht man so selten.“ Liegt es auch daran, dass es nach dem Aufruhr um die Strokes und die White Stripes nun endlich eine vergleichbar coole britische Band gibt? „Könnte sein.“ Und die Strokes selbst? „Ach, die sind so Mainstream mittlerweile!“ In einer Stunde werden die Libertines im Laden auftreten, seit einer Woche sind die Einlassbändchen ausverkauft.
Wie immer gibt es zwei Versionen der Wahrheit, die beide irgendwie richtig sind. Zum einen ist London im Spätherbst 2002 genauso scheiße wie die meisten anderen Orte der Welt: Die Regierung hilft beim nächsten Anti-Terror-Krieg, deshalb erschrecken viele mehr als sonst, wenn die U-Bahn mitten im Tunnel stehenbliebt. Auch hier ist Bildungsnotstand, die Feuerwehr hat einen Streik angekündigt, und so weiter. Zum anderen kann man aber den Eindruck kriegen, dass diese Straßen glühen, in Erwartung einer gewaltigen Mobilisierung, einer heraufdämmernden Zeit, in der Rock’n’Roll wieder mehr sein wird als nur Schallplatten. „Letzte Woche war London das Sturmauge der New Rock Explosion“, schrieb der „New Musical Express“, nachdem an zwei aufeinanderfolgenden Abenden The Datsuns aus Neuseeland und The Von Bondies aus Detroit in überhitzten Pubs vor orgiastisch randalierenden Studenten und Teenagern gespielt haben. Auf jedem dritten Verteilerkasten klebt das Plakat für die neue Single von The Vines, der Rasiermesser-Rockband des 26-jährigen Australiers Craig Nicholls. Das gutbürgerliche „Q Magazine“ verleiht den schwedischen Neo-Garagisten The Hives den Award als beste Live-Band. Dann noch die vielen kleinen, aggressiven Gitarrenbands, deren Debütsingles ausverkauft sind, im großen „Tower Records“-Laden am Picadilly Circus, aber auch vorher nie zu haben waren, wo die Stones mit ihren „40 Licks“ und Bon Jovi die Schaufenster füllen. Wie gesagt, wenn man falsch guckt, merkt man nichts von der Explosion.
Lange suchen muss man dort sogar das Libertines-Album „Up The Bracket“, eben erschienen und das heißeste Versprechen überhaupt. Sie werden in diesen Tagen von einer Tour durch englische Großdörfer zurück erwartet, die laut Botenberichten eine Achterbahn aus Groupie-Sex und Drogenchaos gewesen sein soll. Der Roadmanager hat entnervt gekündigt, ebenso der Tontechniker, von dem der Satz überliefert ist, dass die Strokes im Vergleich zu den Libertines Schmusekatzen gewesen seien. Ja ja, die Strokes, das erste große Signing nach dem Neustart von Geoff Travis‘ Label Rough Trade. Die Libertines: das zweite.
„Die Strokes haben ihre Platte auf ProTools produziert“, sagt Pete Doherty, der so verschlafen aussehende Frühzwanziger, der ständig halblaut Lieder vor sich hersingt und sehr schnell sehr aggressiv werden kann. „Ich weiß doch, wie eine analoge Aufnahme klingt!“ In einer Backstagekabine der Londoner BBC-Fernsehstudios sitzt der Sänger und Gitarrist der Libertines neben Carlos Barât, der sein bester Freund und ebenfalls Sänger und Gitarrist der Libertines ist. Auf dem Sofa liegt Bassist John Hassall, Schlagzeuger Gary Powell ist kurz irgendwo – die Band hat den Auftritt in Bristol gestrichen, weil sie zur Aufzeichnung der Sendung „Later“ eingeladen wurde. Bei Jools Holland, der die Sendung als Biolek-Udo-Jürgens moderiert, müssen die Bands live im Studio spielen. Und obwohl die Libertines an diesem Abend neben Peter Gabriel, Groove Armada und dem linken Diplomaten James Dean Bradfield so deplatziert wirken, sind sie doch hundertprozentig richtig.
Denn sie erklären ausführlich, wie The Clash-Veteran Mick Jones ihre Platte komplett live und ursprünglich produziert hat. Die Predigt, die seit Jahrhunderten alle halten, die sich von Discosound und tanzenden Antichristinnen (Britney Spears) distanzieren wollen. Ohne ProTools, folglich: noch besser als die Strokes. Sollte Purismus schon das gesamte Geheimnis der New Rock Explosion sein – wieso gelten dann die Libertines als besonders explosiv? „Tja, man provoziert die Leute eben, wenn man jung ist und gut aussieht und gute Songs spielt“, sagt Doherty. „Die Leute sind nicht direkt neidisch, die sagen bloß:, Das kann nicht sein, das ist viel zu einfach, was die machen.‘ Das klingt so kotz-arrogant, dass es kaum jemand aussprechen würde. Aber natürlich hat Pete Doherty vollkommen recht.
Eine Armee gründen, davon war die Rede. Teenager bevorzugen immer noch die Gründung von Bands, doch die Libertines haben so viele bewaffnete Tugenden in ihrem Gruppenkonzept, dass die Ursprungsidee sichtbar bleibt (auch, wenn sie nur ein Witz war). Die roten Uniformjacken, in denen sie oft aufgetreten sind, haben sie nach und nach verschenkt. Heute, fürs Fernsehen und überhaupt, trägt Carlos Barât eine Jeans, die mit Filzstift vollgeschrieben ist wie die Wand einer Bahnhofstoilette. Doherty hat unter dem quer gestreiften Hemd mit zerrissenem Ausschnitt ein nachlässig geschnürtes Oberteil, dessen Band ihm über den Hintern hängt. Alle vier in schwarzen Lederjacken, wie die Ramones, die sich ja zusätzlich uniforme Nachnamen gegeben hatten wie jetzt The Datsuns. Dass Kleider die Schlagfertigkeit erhöhen, sieht man auch bei: The Hives, The White Stripes, The (International) Noise Conspiracy.
„Die Industrie ist darauf angewiesen, dass ihre Bands irgendwas verkörpern. Wenn es wirklich nur um Menschen ginge, die Musik machen, das wäre wie in Arkadien, wie im alten Griechenland, eine Idylle, in der alle nur nach Melodien leben“, fantasiert Doherty, gerade noch essigsauer. „Das geht nicht. Aber dieses Gejammer über manufactured bands: In dem Moment, wo man seiner Band einen Namen gibt, ist sie schon manufactured. Die Sex Pistols waren manufactured. Die Velvet Underground waren manufactured, aber hörst du das?“
Vielleicht sind diese neuen Bands die erste Generation der Geschichte, die einfachen Rock’n’Roll liebt, aber mit der Image-Idee Frieden geschlossen hat. Auch mit dem Drogen-Image. Barât läuft schon einige Zeit unruhig im Raum auf und ab, als Doherty dem Berichterstatter ein Zettelchen zusteckt, auf dem steht, dass die Libertines beim Heroinspritzen lieber keine Gäste haben. Ob das wieder ein Witz ist, klärt sich auf dem Weg vor die Garderobentür nicht. Als sich die Libertines drei Stunden später im Fernsehstudio auf die markierten Positionen stellen, ist Pete Dohertys T-Shirt-Ausschnitt so viel weiter eingerissen, dass eine Brustwarze herausguckt.
Den Gedanken, bei dieser Aufzeichnung von den rund 200 erregten Peter-Gabriel- und Groove-Armada-Freunden angestarrt zu werden, mögen sie offensichtlich nicht, und als ob der Regisseur das geahnt hätte, haben die Libertines als einzige Band ihre eigene Fan-Tribüne bekommen, eine erhöhte Plattform hinter dem Schlagzeug. Vor der Tür pflücken BBC-Leute mit Klemmbrettern Interessenten aus der Schlange, unter anderem fünf ausgesprochen minderjährige Mädchen, stark angeschwipst und in einer schwer verortbaren Mischung aus Hippie- und 77er-Punk-Mode: mit Kappen und Haarblumen, Lederminis und Netzstrumpfhosen, eine im Mieder wie eine viktorianische Prostituierte. Also doch, leicht verspätet, die Groupies.
Die Mädchen bemerken erfreulich schnell, dass sie hier sind, um eine Fernsehsendung zu retten. Irgendwas muss passieren nach den anderen, kompetent gearbeiteten Erwachsenenmusik-Beiträgen, und der Aufnahmeleiter ist dann auch wahnsinnig begeistert, als – Moderator Holland zeigt auf die Libertines – auf der Plattform ein Chaostanz losbricht und die jungen Frauen sich direkt vor der Kamera übermütige Zungenküsse geben. Die Band spielt „Up The Bracket“, noch ein Kampflied, ein „Blitzkrieg Bop“ für eine nächtliche Rollerfahrt durch Soho, natürlich versauen sie es, weil mitten im Solo bei Carlos eine Saite reißt.
Als Zweites kommt „Boys In The Band“, es klingt im Refrain nach den Kinks und hat schon spezielle Zeilen für die Fans, die es beim Verfassen des Textes gar nicht gab: „They scream and they shout for – only for the boys in the band!“, singt Carlos. Auf der schmalen, rutschigen Tribüne wird der Aufruhr in dem Moment so wild, dass zwei der Mädchen in hohem Bogen nach hinten in die Dekoration fliegen und sich bestens amüsiert die Haare und die derangierte Kleidung richten.
Mick Jones ist da. Mit dem rosa Hemd unter dem Jackett und der Frisiercreme auf dem Kopf sieht er wie ein Pizzabuden-Mafioso aus und erzählt, als Jools Holland ihm das Mikrofon hinstreckt, genau das, was vor sechs Jahren der Produzent von Ocean Colour Scene oder Counting Crows erzählt hätte: dass sie im Studio keine Gimmicks gebraucht hätten, dass die Libertines nicht manufactured seien und so. Zu einer nicht uninteressanten Aussage lässt er sich erst durch Hollands Frage hinreißen, ob ihn die Libertines an The Clash erinnern würden. „Eigentlich“, sagt Jones, „erinnern sie mich mehr an die Beatles.“
Beim dritten Versuch schaffen es die Libertines, „Up The Bracket“ ohne größere Fehler zu spielen.
Die Beatles waren am Anfang Amphetamin. Schreibt Simon Napier-Bell, alter Pop-Impresario und ehemaliger Wham!-Manager, im großartigen Buch „Black Vinyl, White Powder“, in dem er die ganze britische Popgeschichte so nacherzählt, wie sie seiner Meinung nach von den saisonalen Drogen und den sexuellen Orientierungen ihrer Hauptdarsteller determiniert war. Der Hedonismus des Glamrock als Kokstraum, der Furor des Punk als physische Reaktion auf grob gehacktes Amphetaminsulphat. Für die vielen jungen Stürmer, um die es hier geht, findet man unter dieser Arbeitshypothese keinen gemeinsamen Ort, unabhängig davon, was und wie viel davon sie tatsächlich konsumieren: Ein kompletter Apotheken-Giftschrank ist das, der Inhalt vermörsert, zusammen mit musikalischen Referenzen und Image-Ideen. Sie sind alle mit Musikfernsehen aufgewachsen, sie haben viel gesehen und gehört und wissen genau, was davon sie brauchen können und was nicht. Sie sind alles, nur keine verzweifelt Getriebenen.
Das macht sie umso schlagkräftiger. Es wäre auch völlig falsch zu glauben, dass für die Libertines die gut sechs öffentlichen Monate seit der Vertragsunterzeichnung die wichtigsten ihrer Karriere waren. „Genau andersrum“, sagt Pete Doherty. „In den Jahren davor ist viel mehr passiert, als uns keiner kannte und wir nie irgendwas erklären mussten.“ Eine Statistik über ein- und ausgestiegene Bandmitglieder fehlt, „manchmal verging ein Sommer wie ein Lichtblitz, man erinnert sich an nichts, schaut hinterher einen Videomitschnitt an und fragt sich: Wer ist eigentlich der Kerl, der da am Schlagzeug sitzt?“ Einmal hätten sie eine Deutsche in der Band gehabt, die sich Fräulein Schmidt nannte und wie Nico sein wollte, aber auf der Bühne zu scheu zum Singen war. Der Mythos (dieser Begriff ist bei allen Episoden der Libertines-Geschichte unbedingt wörtlich zu nehmen) erzählt von einem Bassisten, der aufbrach, um in Afghanistan für die Taliban zu kämpfen. Die Textzeile in „What A Waster“.
Ein anderer Mythos handelt von Sidney James, dem „Carry On“-Schauspieler und Radio-Komiker der Sechziger, der den Ausdruck „Up the bracket!“ erfunden hat – es heißt „Auf die Schnauze!“ und ist im heutigen Umgangsenglisch eher ungebräuchlich. Den Mythos haben die vier Libertines-Mitglieder als Kinder auf den Polstermöbeln der Eltern gelernt, die Pflege einer idealisierten britischen Kultur, die ebenso an den Entertainern in Bingohallen und Strandbad-Pavillons hängt wie an den Kings-Road-Punks der Sex-Pistols-Zeit.
„Did you see the stylish kids in the riot?“, fragt Pete Doherty in einem Song, und sie kommen alle, die stylish kids. Sie stehen in der Schlange vor dem Hintereingang des erwähnten HMV-Plattenladens in der Oxford Street, eine Stunde vor dem Instore-Auftritt der Libertines. Die jungen Männer in Sakkos oder kurzen Lederjacken, mit Sid-Vicious-Frisuren und den Badges der ganzen „The“-Bands. Die jungen Frauen in Querstreifen, in Bustiers mit Sportjacken drüber. Sie stehen und warten und stellen sich vielleicht vor, dass die schwarzen Kids von London an den Wochenenden genau so erwartungsvoll in den Hinterhöfen undergroundiger 2Step-Clubs warten. In all den vergangenen Jahren, als der Britpop längst ausgeschwappt war und die weißen Kids sich nach der nächsten Explosion gesehnt haben. Wenn man konzentriert genug wartet, passieren die Dinge manchmal.
Die strenge Ordner-Nachtschicht sorgt dann dafür, dass heute zur Abwechslung kein riot stattfindet. Gordon Raphael, der Strokes-Produzent aus New York, beschwert sich, weil er nicht gleich durchgelassen wurde, Geoff Travis von Rough Trade ist da, Gäste von allen Musikmagazinen, die aber nichts schreiben werden über den (wie immer) halbstündigen, hingeschleuderten Auftritt der Libertines, an dessen Höhepunkt Pete Doherty ein Buch vom Verkaufsregal schnappt und in die Menge der rund 200 Fans wirft, die sich zwischen die staubsicher abgedeckten CD-Ständer pressen.
Noch eine halbe Stunde später schlängelt Doherty sich durch die Lieferanten-Tür und wird bereitwillig vom mittelgroßen Mob an die Hinterhofwand gequetscht. Er gibt keine freundlichen Worte, nur Autogramme.
Ein blondes Mädchen mit gestreiftem Schal und Jeansrock steht nachts auf der Londoner Oxford Street und schreit: „Ich habe ihn geküsst!“
Joachim Hentschel begann 2000 (mit einer Rezension über die Band Brassy) für den ROLLING STONE zu schreiben, stieß 2001 zur Redaktion, verließ das Magazin später für zwei Jahre und kehrte 2010 zurück. Und träumt immer noch von einem Interviewtermin mit Neil Young.