In ländlicher Isolation haben MERCURY REV Melancholie und weltweise Gefühle entdeckt
Normalerweise gilt die Großstadt als Biotop, in dem neue, innovative Musik unter optimalen Bedingungen gedeihen kann. Vor allem New York hat, seit Beginn der Pop-Zeitrechnung, mehr aufregende Bands ausgespuckt als jede andere Metropole – London mal ausgenommen. Doch der kreativitätsfördernde „Rotten Apple“ mutierte binnen weniger Jahre zu einem ebenso keimfreien wie überteuerten Touristen-Mekka. Selbst schäbige Wohnungen sind unerschwinglich geworden, vor allem für Musiker, die Mainstream und Moden rigoros ignorieren.
Jonathan Donahue, Sean „Grasshopper“ Mackowiak und die anderen Mercury Rev-Mitglieder hatten deshalb der Stadt den Rücken gekehrt: Sie fuhren den Hudson River hinauf, überquerten die Catskill Mountains und ließen sich in der Nähe von Kingston nieder, einem verschlafenen Nest in upstate New ‚York. Dort geht man Fischen und hat Freunde, die Zimmermänner sind oder Maurer. Und wenn die in der local bar zum dritten Mal „Buy me a beer, man“ gröhlen, dann tut man ihnen eben den Gefallen.
Klar, daß sich auch dieser Lebenstil in der Musik niederschlägt: Wurden Mercury Rev früher mit My Bloody Valentine oder Flaming Lips verglichen (bei denen Sänger/Songschreiber/Gitarrist Donahue eine Zeitlang mitspielte), so klingt das neue Album „Deserter’s Songs „eher wie der gemeinsame große Wurf von Neil Young, Van Dyke Parks und dem genial-wahnsinnigen Songwriter Daniel Johnston: verzweifelte Lyrik in großen, gefühlsechten Arrangements, teils mit schwelgendem Orchester eingespielt, teils mit exotischen Instrumenten wie der „singenden Säge“. Es riecht nach klaren Gebirgsbächen und schwarzen Waldseen – und nach einer weltweisen Melancholie, wie sie wohl nur in selbstgewählter Isolation wachsen kann.
„Die letzten drei Jahre waren mit die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt Donahue, „die schlimmsten Jahre für uns alle. ‚Deserter’s Songs‘ ist der Versuch, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen – zumindest die Hoffnung, daß es dort überhaupt eins gibt“ Differenzen in der Band, genährt durch private wie finanzielle Probleme, spiegeln sich in pessimistischen Zeilen wie: „Bands, those funny little plans, that never work quite right“.
Bei der realen Umsetzung ihrer irrealen Vision von Schönheit und Vollendung konnten sie zumindest auf die Hilfe zweier Nachbarn bauen (denen sie natürlich auch schon mal ein Bier spendiert hatten): Garth Hudson und Levon Helm von The Band – Musiker, die man in Kingston beim Friseur oder Metzger trifft. Der musikalische Beitrag der alten Herren war nicht wirklich wichtig fürs Gelingen des Albums, ist aber ein schönes Pendant zu dem wüsten Big-Beat-Remix, den die Chemical Brothers von „Delta Sun Bottleneck Stomp“ machten.
Denn bei aller Liebe zur Natur (selbst Soundtracks für Tierfilme produzieren sie!) haben Donahue & Co. den bösen Bratzsound der Großstadt noch nicht gänzlich sublimiert. The Chemical Brothers gehören ebenso wie Liam Howlett von The Prodigy zu ihrem kreativen Dunstkreis, und als Mercury Rev unlängst in Hamburg gastierten, wippten zwei blondgefärbte Engländer begeistert mit: Underworld nutzten ihre PR-Reise, um sich eine ihrer erklärten Lieblingsbands live anzuschauen.
Mercury Rev mögen der Stadt den Rücken gekehrt haben, doch manchmal lassen sie sich gerne von ihr wieder einholen.