In die norwegische Musik-Szene: Briefmarken gegen Kälte und Langeweile

Wer sich hierzulande angesichts Schmuddelwetters und frostiger Temperaturen kränklicher Laune hingibt, sollte mal einen Blick über den Suppenteller-Rand wagen, in den hohen Norden, nach Norwegen, wo gegen die triste Jahreszeit fleißig musiziert wird.

Während der HTC Audio Tour in eine der kleinsten Hauptstädte des Europäischen Kontinentes, der norwegischen Metropole Oslo, zeichnet sich bereits ab, dass dieses bevölkerungsarme Land eine der interessantesten und vielseitigsten Musikszenen der Gegenwart hervorbringt. Klar, Gallionsfiguren, wie Erlend Øye’s Kings of Convenience und Whitest Boy Alive, oder Røyksopp, sowie Singer-Songwriter Sondre Lerche haben es mittlerweile auch über die Landesgrenzen hinaus zu beachtlichen Karrieren geschafft, doch die zahlreichen Clubs und Plattenläden allein in der Hauptstadt bedeuten nur eines: da tummelt sich halbverborgen in winterlicher Dämmerung noch wesentlich mehr!

Im Osloer Club Jaeger sieht sich Radiomacher und Produzent DJ Abstract mit meinem Verdacht konfrontiert: Die Jugendlichen in Norwegen haben wegen des langen harten Winters und des sparsamen Freizeitangebotes sehr viel Zeit Instrumente zu lernen und eine Band zu gründen. DJ Abstract packt sich an seinen imposanten Bart und weicht aus, anscheinend findet er es nicht ganz so prima, dass ich sein Land gerade indirekt als „langweilig“ bezeichnet habe. Gut, war ungeschickt, zumal ich ja, zumindest auf die Musik bezogen, das Gegenteil meinte. Dann versuche ich eben anderswo mein Glück.

Daheim führt meine Cyber-Ermittlung zur Seite des Oslo Indie Office, die sich als genauso kompetent, wie auskunftsfreudig erweisen. Mit einem Fokus auf norwegische Indie-Bands, haben sie es sich zur Aufgabe gemacht Musik, die sie gut finden (unabhängig davon, ob signed Artist, oder nicht) einem breiteren Publikum vorzustellen. Neben der Verbreitung neuer Songs, arbeiten sie gerade mit Hochdruck daran eigene OIO-Touren und Festivals auf die Beine zu stellen. Neugierde auf die norwegische Szene ist ihnen daher sehr willkommen.

Gibt es so etwas, wie ein typisch norwegischen Sound?

OIO: Die gegenwärtige Indie-Szene Norwegens ist eine Mischung verschiedenster Indie-Pop-Rock Disziplinen, New Wave Projekten mit einem starken Trend hin dazu mehr und mehr elektronische Elemente einzubinden. Dazu kommen noch experimentelle Cross-Genre-Projekte mit Folk-Einflüssen. Im Großen und Ganzen sind es die gleichen Einflüsse, wie für das restliche Europa auch, allerdings hat Norwegen eine eigene Geschichte an großen Musikern, das fördert die Selbstverständlichkeit selbst Musik zu machen und damit auch anderswo zu bestehen.

Die Tatsache, dass auch heute noch ziemlich viele Bands auf Norwegisch singen, steht ebenfalls für diese Selbstverständlichkeit. Auch wenn es jetzt, dank neuer Medien einfacher ist auch internationales Publikum zu erreichen.

Spielen die langen und harten Winter und der Mangel an Freizeitangeboten eine Rolle darin die Kreativität zu fördern? Oder wie erklärt Ihr Euch das hohe Aufkommen an Musikern pro Einwohner?

OIO: Klar, die einzigartigen Witterungsbedingungen Norwegens, die das Leben hier je nach Jahreszeit sehr unterschiedlich gestalten, spielen sicherlich eine Rolle. Dunkle Winter und nie endende, strahlende Sommernächte tragen zur Kreativität bei, indem sie dem Leben etwas Exotik verleihen. Norwegen ist daher seit Jahrzehnten ein gutes Umfeld für Musiker. Es gibt allerdings auch überall viele lokale Rock-Gemeinschaften, die alle Kinder und Jugendliche ganz natürlich an Instrumente führen und Musikprojekte fördern. Das ist hierzulande total normal und Teil der norwegischen Mentalität.

Kann man von einer Norwegischen Gemeinschaft unter Musikern sprechen? Kennt man sich und fördert sich gegenseitig, so wie es vor einigen Jahren Erlend Øye mit Kakkmaddafakka getan hat?

OIO: Ja, das ist ein gutes Beispiel. Es gibt auf jeden Fall eine Tradition sich unter Musikern gegenseitig unter die Arme zu greifen. Daher gibt es ganz gewiss so etwas, wie einen engen Zusammenhalt der Szene. Ein weiteres Beispiel ist Sondre Lerche, der es mittlerweile zu größerer Bekanntheit gebracht hat, und auf seine Touren neue norwegische Indie-Bands als Support mitgenommen hat.

Während meiner kleinen Recherche über Sondre Lerche, stellt sich heraus, dass der Mann in Norwegen sogar seine eigene Briefmarke besitzt. Eine Ehre, die in Deutschland nur verdienten Toten, oder Staatsoberhäuptern und in Großbritannien nur der Queen und Goldmedaillen-Gewinnern zuteil wird. Und ein weiteres Indiz dafür, dass Norwegen ein sehr Musiker-freundliches Land ist. Weil das so ist, gibt es das ganze Jahr über auch reichlich Festivals, wie beispielsweise im November das Sørveiv (Southern Wave) in Kristiansand, ganz im Süden des Landes. Das Festival bietet tagsüber Workshops für Musiker, Musikmanager und solche, die es werden wollen, an. Abends geben sich lokale, wie internationale Acts in kleinen Venues  und privater Atmosphäre die Klinke in die Hand. Auch Oslo hat sein eigenes Festival, das ØYA, das jedes Jahr im Sommer im historischen Park im Zentrum stattfindet und dessen Hauptbühne auf dem Wasser treibt.

Mal abgesehen von Fische fangen, Wandern und Zelten, gibt es also noch viel anderes zu tun in hohen Norden. Damit ist zumindest der Verdacht, man würde sich dort langweilen, aus der Welt geräumt. Zusammenfassend lässt sich die hohe Dichte an guter Musik aus Norwegen zurückführen auf eine Ansammlung günstiger gesellschaftlicher, finanzieller und witterungsbedingter Umstände, die kreatives Schaffen anspornen, unterstützen und so auch über die Landesgrenzen hinaus verbreiten. Da kann man aus Deutschland schon ein bisschen neidisch rüber schielen!

Zeit sich anzuhören, was die Landeskinder uns ans Herz legen. OIO haben für den Rolling Stone eine Playlist an hierzulande größtenteils unbekannten norwegischen Künstlern zusammengestellt, die ebenfalls auf dem Weg zur eigenen Briefmarke sind:

Kid Astray – „The Mess“: Sehr eingängiger und tanzbarer Track der jüngst gegründeten und sehr jungen Band aus Akershus, die selbst Kaizer Orchestra und Foster The People als Einflüsse nennt.

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Cascam – „Want To Me“: verträumter Synthie Pop; dieser Track ist die Debutsingle ein paar Freunde, die neben Photographien und Kunstausstellungen auch Musik machen.

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Deaf Phonetics – „Like A Clown“: schöner Indi-Pop aus Olso, von einer Band, deren Mitglieder schon seit ihrer Kindheit zusammen Musik machen.

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Highasakite – „Indian Summer“: Exotische Indi-Pop-Band, die laut eigener Aussage Musik macht, um mal aus Norwegen rauszukommen. Dieses Jahr hat es geklappt, denn neben allen wichtigen norwegischen Festivals, waren sie auf Berlin Festival vertreten. Einflüsse: Lykke Li und der Film „Where The Wild Things Are“.

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We Had You at Hello – „Broken/Mend“: Band-Kollektiv, deren Markenzeichen 3-Stimmiger Gesang ist. Als Einflüsse geben sie neben Curtis Mayfield und Florence and the Machine auch Wandern und Angeln an.

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Divisjonen – „Tilfeldig Romanse“: Tanzbarer Pop-Rock mit 80’er Jahre-Faible und norwegischen Lyrics aus Bergen. Das erste Album entstand in Koproduktion mit zahlreichen norwegischen Künstlern, unter anderem auch Casiokids.

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Malmø – „Wake Up“: Elektro-Pop Duo aus Oslo, das gerade an seinem ersten Album arbeitet. Musikalisch geht es laut eigener Aussage um tanzbare Vibes und viel nordische Melancholie.

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Eik – „Love Storm“: Irgendwo zwischen Slow-House, Elektro-Pop und Dance liegt Eiks Debutalbum „Undetected“. Einflüsse sind Goldfrapp, Röyksopp, Groove Armada und Jamie Woon.

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Klang Kollektif – „Baby Horses“: Aus Oslo stammt dieses Kollektiv, dass nach eigenen Angaben klingt, „wie ein betrunkener Trompeter“, nur besser. Für die Mischung aus Pop, Rock und Jazz sind PJ Harvey, Air und Chuck Norris die Vorbilder.

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Kasket Club – „Moody Melody“: Neues Duo, das obwohl sie erst seit einem halben Jahr gemeinsam Musik machen schon viel von sich Reden macht. Akustische Instrumente treffen auf elektronische Beats.

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