Madonna: „In den besten Jahren“ – Das ROLLING STONE-Interview

Seit 30 Jahren provoziert Madonna. Mit Sex, Style, Symbolen – und nun mit ihrem Alter. Ein Hausbesuch von Brian Hiatt.

Sie stellten auch fest, dass Ihre Brüder mehr Freiheiten hatten als Sie selbst.

Ja, mein Vater war äußerst streng mit mir. Ich wurde ständig mit diesem Ungleichgewicht konfrontiert: Meine Brüder hatten alle Freiheiten dieser Welt und gleichzeitig keinerlei Verpflichtungen. Und dann kam natürlich die katholische Kirche mit all ihren Vorschriften: Warum muss ich ein Kleid tragen, während sie ihre Hose anziehen können? „Wird Jesus mich wirklich weniger lieben, wenn ich Hosen trage?“, fragte ich meinen Vater. „Muss ich jetzt in die Hölle?“ Ich wollte wissen, warum die Menschen blind Regeln befolgen – oder warum sich Mädchen nach bestimmten Vorgaben verhalten und Jungs nicht. Warum durften Jungs die Mädchen zu einem Date einladen – aber nicht umgekehrt? Warum mussten Mädchen sich die Beine rasieren und Jungs nicht? Warum hat uns die Gesellschaft gerade diese Vorschriften mit auf den Weg gegeben? Meine ganze Jugend war voll von unbeantworteten Fragen. Und weil sie nie beantwortet wurden, hörte ich nicht auf, überall Feuer zu legen – metaphorisch gesprochen.

Und als Sie dann erst einmal im Licht der Öffentlichkeit standen …

Na ja, es ging einfach weiter, nur dass dieses „Warum?“ nun in einem größeren gesellschaftlichen Kontext stand und ich mir Kommentare anhören musste wie: „Wer sich nuttig anzieht, zeigt damit doch nur, dass er nichts im Kopf hat.“ Oder: „Wer Sexualität so in den Vordergrund stellt, muss doch eine Hure sein. Du tust das doch nur, um mit allen Mitteln Karriere zu machen. Talent hast du jedenfalls nicht.“ Also fragte ich mich: Warum kann ich nicht sexuell attraktiv und intelligent sein? Warum kann ich nicht wie Mick Jagger über die Bühne stolzieren, ohne gleich als Schlampe abgestempelt zu werden? Warum?

Oder wie Prince, der ja zur gleichen Zeit Ähnliches praktizierte.

Genau. Danke.

Sie reagierten genauso störrisch wie schon auf der Schule: „Euch gefällt es nicht, wie ich mich anziehe? Na, wie wär’s dann damit? Oder wie wär’s mit diesem Buch hier?“

Genau das Gleiche, ja. Provokation ist nun mal meine Natur – ich kann nicht anders. Aber immerhin mache ich es stets mit den besten Absichten.

In Ihrer Film-Doku „I’m Going To Tell You A Secret“ von 2005 nennen Sie die frühere Madonna „einen Idioten” – was doch ein ziemlich harsches Urteil ist.

Na ja, es gibt viele idiotische Dinge, die man über mein altes Ich sagen kann – über das neue allerdings auch. Machen wir uns doch nichts vor: Letzten Endes ist man immer ein Idiot.

Sehen Sie Ihr altes Ich denn inzwischen in einem etwas milderen Licht?

Ja, vielleicht. Um ehrlich zu sein, weiß ich jetzt nicht mal mehr, warum ich mich damals als Idioten bezeichnet habe. Ich kann manchmal extrem selbstkritisch sein. Es hängt eben viel von der Stimmung ab – und natürlich davon, in welcher Phase meines Lebens ich mich gerade befinde. Sehe ich mich inzwischen in einem etwas milderen Licht? Na ja, ich arbeite dran. (lacht)

Tun wir das nicht alle?

Doch, genau. Obwohl, manch einer nicht. Einige Leute sind dermaßen narkotisiert, dass sie gar nicht die Notwendigkeit verspüren, sich selbst in den Arm zu nehmen. Wenn man nicht fühlen kann, kann man auch nicht umarmen.

Macht Ihnen das Provozieren denn noch immer Spaß?

Äh, ja. (lacht) Wollen Sie mich etwa provozieren? Sie fragen das doch nicht, weil Sie die Antwort nicht wüssten – oder?

Also es gab zumindest mal eine Zeit, als Sie über Provokationen sprachen, als gehörten sie der Vergangenheit an.

Wirklich? Ich? Ja, vielleicht gab es eine Zeit, als ich weniger provokant war – damals, als ich verheiratet war.

Ich hätte diesen Bezug nicht herzustellen gewagt.

Das können Sie ruhig. (lacht)

Wie darf man sich das denn vorstellen? Inwiefern hatte Ihre Ehe einen Einfluss auf Ihre Lust zu provozieren?

Ich denke, dass mein Ex nicht gerade begeistert davon war – oder es einfach nicht verstand. Ich könnte mir vorstellen, dass ihm das Prinzip der Provokation grundsätzlich fremd war. Er war zum Beispiel nicht davon angetan, dass ich Britney Spears auf der Bühne küsste. War das provokativ? Ich denke schon. Wobei, inzwischen ist das natürlich schon längst ein alter Hut.

Bis zu einem gewissen Grad muss er aber doch gewusst haben, wen er da heiratet.

Schon, aber wir machen eben immer wieder den gleichen Fehler. Wir glauben, wir könnten den Menschen ändern, mit dem wir zusammenleben. Können wir aber nicht. Die Menschen bleiben so, wie sie sind. Und wenn sie sich verändern, dann nach ihrem ganz eigenen Fahrplan.

Zu Zeiten Ihrer Ehe konnte man gelegentlich auch beobachten, wie Sie zum Bierglas griffen. Irgendetwas war an diesem idyllischen Bild faul.

(Lacht) Stimmt. Als ich in England lebte, versuchte ich mir englische Gepflogenheiten anzueignen. Ich war oft in Pubs – und wenn man in Pubs geht, sollte man mit Ale nicht gerade auf Kriegsfuß stehen.

Wie kann man ein Leben lang aufmüpfig sein, gleichzeitig aber auch als Mutter dafür sorgen, dass die Kinder …

… ihre Hausaufgaben machen? Ich sage ihnen: „Wollt ihr die Welt verändern? Wollt ihr so sein wie jemand, der das geschafft hat?“ Rocco verehrt Leute wie Bob Marley, für David ist es eher Michael Jackson. „Eine Erziehung zu bekommen“, sage ich dann, „ist die notwendige Voraussetzung, um ein Rebell zu werden.“ Und auch dass Disziplin ein elementarer Faktor ist, um aus seinem Leben etwas zu machen – die Disziplin etwa, ein Projekt anzufangen und auch zu Ende zu bringen.

Klingt gut. Funktioniert es auch?

Es funktioniert. Und natürlich gibt’s auch noch das andere Argument:

„Auf der ganzen Welt gibt es Kinder, die dafür sterben würden, zur Schule gehen zu können – aber sie können’s nicht, und du sitzt hier und jammerst rum. Halt gefälligst den Mund und geh zur Schule!“

Sie sind auch mit mir nach Afrika gefahren und haben eine Schule besucht, die ich gebaut habe. Sie sehen dort mit eigenen Augen, wie dankbar die Kinder sind, barfuß zu einer Schule kommen zu können, die aus gerade mal zwei Räumen mit primitiven Schulbänken besteht. Es ist eine Erfahrung, die alles in die richtige Perspektive rückt.

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