In Berlin erklärt Quentin Tarantino, wie er wurde, wer er ist
„I can't fucking complain about my life!“. Bei seiner Lesung im Berliner Admiralspalast erzählt Tarantino mitreißend, wie er als Siebenjähriger seine Kino-Leidenschaft entdeckte
In seinem Buch „Cinema Speculation“, halb Autobiografie, halb Filmtheorie, beschreibt Quentin Tarantino seine Kindheit anhand von Filmen der 1970er-Jahre, die ihn erwachsen machten, überwiegend Werke des New Hollywood. Und bei seiner Lesung im Berliner Admiralspalast am Mittwoch (12. April), präsentiert von ROLLING STONE, wollen seine Jünger natürlich hören, wie er von diesen Anti-Helden des Kinos schwärmt, wie er Outlaw-Regiekollegen in den Himmel hebt, wie er überschätzte Kinogrößen einordnet. Und sie bekommen das alles auch zu hören. Aber viel lieber noch wollen sie wohl etwas anderes hören: Wie dieser heute 60-jährige Sohn einer alleinerziehenden, mittellosen kalifornischen Krankenschwester zu einem der besten Filmemacher seiner Generation, mindestens dem besten Filmerzähler seiner Generation werden konnte. Seine Vita beinhaltet einige Klassiker, die allesamt eine paradoxe Wirkung haben: Sie eint eine unverwechselbare Filmsprache und sind doch allesamt Ehrerbietungen. Es gibt zum Beispiel keinen zweiten Film wie „Pulp Fiction“ (1994), was ironisch erscheint, ist dieses, sein zweites Werk doch vor allem eine Hommage an all die Werke, die der junge Quentin einst im Kino sah.
Also, die Leute wollen wissen: Wie wird man zu einem Quentin Tarantino? Und auch das legt Tarantino dar, und genau dieser Bericht macht den noch interessanteren Abschnitt des Abends aus.
Die Geschichte, die Tarantino dem Publikum – sowie dem stets zuverlässig hingebungsvollen Moderator Steven Gätjen („let’s give a big applause to the living legend, the master himself“) – erzählt, ist eine sehr schöne Aufsteigergeschichte. Dass Tarantino sich einst „Clerks“-mäßig als Videothekar-Klugscheißer sein immenses Filmwissen aneignete, ist seit Jahren bekannt. Dass er jedoch als bereits Siebenjähriger die Gelegenheit nutzte, vor allem deshalb viel ins Kino gehen zu können, weil Kinobesuche billig waren, ist die noch schönere Pointe. Tarantino erzählt von Footballspielen, die er im Stadion nicht sehen konnte, weil sie zu teuer waren. Sport-Veranstaltungen waren nicht drin. Kino aber: ging immer. Und seine Mutter ging oft mit ihm ins Kino. Sie bildete ihn quasi aus, genau wie seine vielen Ziehväter, die mitgingen, denn Mama Connie hatte viele Dates. Heute ist er mit ihr übrigens etwas verkracht, und er will ihr keinen Cent seines Vermögens abgeben – bedenkenswert, dürfte er ihr doch einiges an seinem Ruhm verdanken. Davon erzählt Tarantino leider nichts.
Tarantino wurde also auch der, der er ist, weil er gut mit seinem Geld umgehen konnte. Und weil er sich von seiner Mutter eben oft auch einladen ließ. Entscheidend, sagt Tarantino an diesem Abend, sei ihre Großzügigkeit in der Filmauswahl gewesen: Zwar versuchte sie den Kleinen durchaus altersentsprechend zu erziehen, schleppte ihn selbstlos in Disney-Streifen mit (Tarantino reiht kurioserweise auch den „Planet der Affen“ darin ein, womöglich ein Versprecher dieses Ultrafast-Talkers), grundsätzlich aber durfte er vor allem Erwachsenenfilme anschauen (eine ähnliche Erfahrung teilt Tarantinos Freund Bret Easton Ellis, mehr dazu in der kommenden Ausgabe des ROLLING STONE, 5/23). Als Junge inmitten vieler Erwachsener im Kinosaal erhielt er die Chance, zu sehen, wie Eltern sich ausleben, indem sie emotional auf Geschehnisse auf einer Leinwand reagieren und dabei vergessen, dass neben ihnen ein Kind sitzt und sie dabei beobachtet – er bekam also mit, wie Erwachsene sich verhalten, wenn sie sich nicht wie Erziehungsberechtigte aufführen müssen.
Podcast: „Cinema Speculation“ – die Filme seines Lebens:
Es ist eine herrliche from-rags-to-riches-Story, die Tarantino erzählt, alles besser also, als in Hollywood ein „Nepo Baby“ zu sein, angereichert dazu um die Erfahrung, überwiegend Schwarze Ersatzväter – und äußerst maskulin agierende Rollenvorbilder – kennengelernt zu haben. Der wichtigste hieß Floyd Ray Wilson, ein mittelloser Streuner, dem er die Drehbuch-Idee zu „Django Unchained“ verdankt, und dem er, könnte er die Zeit zurückdrehen, von der Oscar-Bühne am liebsten gegrüßt hätte, wo Tarantino eben jenen Drehbuch-Oscar für „Django Unchained“ erhielt (die „Cinema Speculation“-Rezension lesen Sie hier). Diese Passage, den letzten Abschnitt seines Buchs, liest er an diesem Abend auch vor, und changiert gekonnt zwischen seiner Sprache und dem Slang-Idiom Wilsons.
Die Kino-Analysen Tarantinos sind erwartungsgemäß euphorisch, aber auch schnippisch. Dabei erhält er natürlich Unterstützung. Für seine eher affektionierte Art der Gesprächsführung ist Steven Gätjen bekannt. Aber Gätjen stellt die richtigen Fragen, besonders in Bezug auf Tarantinos Vorbilder sowie dessen gegenwärtige Kollegen, außerdem skizziert er ambitionierte „Was wäre, wenn …?“-Situationen. Auch das sind die Momente, in denen Tarantino liefert. Er erklärt, warum Steve McQueen sich wohl eher als Filmstar, weniger als Schauspieler sah, und memoriert dazu eine Analyse von Walter Hill. Er macht eine lange Denkpause, um Gätjen die richtige Antwort auf die Frage zu geben, wen er in den Siebzigerjahren gerne zum Gespräch getroffen hätte, und gibt bemerkenswerte Auskünfte über den Mut Sam Peckinpahs und den noch größeren Mut Ken Russells, ein Regisseur, über den er in „Cinema Speculation“ gar nicht so viel schreibt (überhaupt scheint er es in dem Buch mit Briten nicht all zu sehr zu haben, John Boorman ausgenommen). Den lustigsten Kommentar gibt Tarantino zu James Cameron ab, der es bereut, nicht viele Filme gedreht zu haben – „nun, würde er sich nicht immer 15 Jahre Zeit lassen, wäre das kein Thema gewesen, but he spent all his time fucking deep diving“.
Denn auch das ist Quentin Tarantinos überzeugend klingende Einschätzung: Er selbst bereut es nicht, nicht alle seine Ideen für die Leinwand umgesetzt zu haben (er bleibt dabei, nur noch ein Werk drehen zu wollen und bestätigt an diesem Abend auch den kommenden Filmtitel: „The Movie Critic“). Nein, er sei vielmehr dankbar, dass ihm überhaupt eine Karriere gelang: „I can’t fucking complain about my life, I can’t can’t can’t!“.
Das ist die Freude eines Mannes, eher noch: eines einst träumenden Kindes, das mit nichts gestartet ist außer der Hoffnung, irgendwann mal beruflich mit einer Leidenschaft, die schon sehr früh jedes andere Interesse vertrieben hat, etwas anfangen zu können.