Im zwanzigsten Himmel: So war „Pearl Jam Twenty“
Zwei Stunden lang begleitet Cameron Crowe in "Pearl Jam Twenty" die Band aus Seattle auf ihrem Entstehungsweg - und lässt den Zuschauer mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend im Polstersessel zurück. Julia Maehner war für Sie im Kino.
Der Kinosaal wird in cyanfarbenes Licht getaucht als die ersten, segelnden Töne von Pearl Jams „Alive“ ertönen. Auch die Gesichter des Publikums auf der glänzen bläulich, die Arme hochgerissen, die Augen geschlossen. In ihren Gesichtern steht der Ausdruck purer Ekstase, als sie zusammen mit Eddie Vedder die ersten Zeilen des Songs singen „Son, she said, I got a little story for you„.
Vedder, der seinen Griff fest um Mikrofon und Ständer hat, stiert intensiv geradeaus, eine steile Falte zwischen seinen Brauen. Er bewegt sich auf der Stelle rhythmisch zur Musik, es ist nicht viel mehr als ein Zucken und lässt ihn wirken wie ein eingesperrter Tiger – berstend voll mit Energie, die er nirgends los werden kann. Etwas angsteinflößend ist das, kollektive Gänsehaut verbreitet sich im Kinosaal.
Dennoch wird man diese Szene nicht bis etwa zehn Minuten vor Schluss sehen. Man hat zwar fast erwartet, dass Regisseur Cameron Crowe so in den Film einsteigt. Tut er aber nicht.
Noch bevor der Film begonnen hatte, sammelte sich vor dem Cinemaxx am Potsdamer Platz eine ungewöhnlich große Traube an Menschen an. Dabei sah man unwahrscheinlich viele verschiedene Gesichter: Von der jungen Studentin Anfang zwanzig, die Pearl Jam erst für sich entdeckt hatte, nachdem sie in ihrer Jugend Nirvana gehört hatte, bis zum Mittvierziger mit einem graugesträhnten Pferdeschanz und einem alten Pearl Jam-Shirt, ein Fan der ersten Stunde sozusagen.
Sie alle befanden sich um Punkt 20.00 Uhr im Saal sieben, der sich mit freudigen, aufgeregten Gesprächen füllt. Erst etwa zehn Minuten und eine kurze Verlosung zweier Soundtracks später begann die Vorführung. Die Lichter gehen aus, das Logo des Filmverleihs blitzt auf. Keine Werbung. Erleichtertes Aufatmen.
Melodisches Gitarrengezupfe ertönt, als mit einem alten Camcorder die Fahrt von der Autobahn ins Seattle der 90er Jahre dokumentiert wird. Die Musik ist aber zunächst nicht von Pearl Jam, sondern von The Who, Soundgarden, den Ramones. Zusammengeschnitten mit alten Filmszenen: Russel Crowe erscheint kurz, ebenso Elvis und die Space Needle.
Eddie Vedder taucht in „Pearl Jam Twenty“ bis zur 20. Minute gar nicht auf. Es geht zunächst um Mother Love Bone: Stone Gossard an der Gitarre, Jeff Ament am Bass, Andrew Wood an der Front. Der energetische, exzentrische Wood war das krasse Gegenteil von Vedder – stolzierte auf der Bühne umher wie ein Pfau, trug lange Satinhandschuhe und bunte, ausgeflippte Klamotten. Er zog das Publikum in seinen Bann und hielt sie gefesselt. Kurzum – ein echter Rockstar. Doch der Zauber um Andy Wood endete, als er nach einer Überdosis Heroin leblos in seiner Wohnung gefunden wurde.
Stone und Jeff fällt es schwer, darüber zu sprechen. Sie schlucken, sehen zu Boden und erklären, dass sie nicht gewusst haben, was sie tun sollten. Sollen sie mit der Musik aufhören? Das nächste Mal, dass sie sich diese Fragen stellen, wird im Jahr nach dem Roskilde Festival in Dänemark sein.
Doch im Moment befinden sie sich noch in Seattle, Pearl Jam existiert noch nicht einmal. Stone und Jeff begannen wieder zu jammen, dieses Mal mit Mike McCready, schlussendlich nahmen sie auch ein Demo-Tape auf. Über den ehemaligen Red-Hot-Chili-Peppers Drummer Jack Irons gelangte das Tape an Eddie Vedder. Noch bevor man ihn im Film sieht, hört man ihn, wie er über die Aufnahmen dieses Tapes singt – Haare stellen sich im Nacken auf, das Herz klopft. Stone Gossard sagt im Interview, was sich alle Anwesenden im Kinosaal denken: „Als ich das zuerst gehört habe, dachte ich mir: Gibt es dieses Kerl wirklich? Is he for real?„
Danach geht alles schnell. Es ist bekannt, dass Pearl Jam bereits nach fünf Tagen ihr erstes Konzert bestritten. Auch dort haben sie eine Kamera dabei: Eddie Vedder stiert ins Publikum wie das gefangene Raubtier – trotz körniger und relativ mieser Bildqualität spürt man die unmittelbare Energie des Sängers auch nach 20 Jahren noch.
Er ist der Anti-Wood, keine Extravaganzen, keine schillernden Outfits. Er steht da, meistens in Shorts, T-Shirt, Hemd, Arbeiterstiefeln und roten Socken. Seine Performance besteht aus zuckenden Bewegungen zur Musik und, als die Bühnen dann größer wurden, aus Klettereien und Stagediving.
Zwischendrin fragt Cameron Crowe Stone Gossard nach seinen Souveniers aus den gemeinsamen Pearl-Jam-Zeiten. Gossard meint, er habe nicht viel, da müsse Crowe Jeff fragen. In seinem Geschirrschrank findet er einen Tasse, die er sich auf der Tour durch Mexiko als Andenken mitgenommen hat (inklusive tagealtem Kaffeesatz darin), ein paar DVDs und CDs, damit er sich die älteren Songs, die er schon wieder vergessen hat, wieder beibringen kann. Das wär’s. Nein halt, vielleicht noch etwas im Keller! Und tatsächlich kommt dort der überraschte Ausruf: „Hey, schau mal da drüben! Da steht ja ein Grammy!“
Zurück zu den alten Tagen: Pearl Jam startet durch, der Hype um die Bands aus Seattle ist auf dem Höhepunkt. „Ten“ wird veröffentlicht, eine Tour gestartet, Konzerte, Konzerte, Konzerte. Die Band dreht auf der Bühne durch, reißt das Publikum mit, Eddie Vedder stiert, die Falte zwischen den Augen.
Die einzigen wirklich ruhigen Momente in dem Film sind, wenn Crowe die Interviews dazwischen schneidet. Und der einzige Zeitpunkt, wo man Eddie Vedder ohne die steile Falte auf der Stirn sieht, ist, als er zusammen mit Stone Gossard im Tourbus das Lied „Daughter“ schreibt und mit einem leichten Lächeln zum Gitarrenspiel seines Bandkollegen singt.
„Pearl Jam Twenty“ beschreibt die ersten zehn Jahre der Bandgeschichte wirklich im Detail: Die Anfänge, der Hype, die Trauer um Kurt Cobain, der Rechtsstreit mit dem Konzertvertrieb Ticketmaster. Dann kam 2000 und mit ihm kam das Roskilde Festival, bei dem neun Menschen während des Auftritts von Pearl Jam zu Tode getrampelt wurden, drei schwer verletzt. Man sieht Vedder mit entsetzten Gesicht auf der Bühne knien, der Blick ins Leere. Jeff Ament erklärt: „Seitdem kategorisieren wir alles pre-Roskilde und post-Roskilde.“
Post-Roskilde-Pearl-Jam hat nun auch mit dem Älterwerden zu kämpfen. Die etwas düsteren Jahre von 2002 bis 2006 sind geprägt von politischer Agenda gegen George W. Bush und Zwiespältigkeiten in der Band selbst. Doch am Ende blieben sie zusammen, nicht zuletzt wegen Gitarristen Gossard und Bassisten Ament: Nach Mother Love Bone wollten sie eine Band gründen, die bleibt.
Und dann kommt das gleißend blaue Licht, Pearl Jam spielen „Alive“. Die zwei Stunden Film sind um, im Abspann läuft „Just Breathe“ von „Backspacer“ aus dem Jahr 2009. Bis das Licht im Kinosaal angeht und die letzten Töne verklungen sind, verlässt keiner den Saal.
Nach guten Konzerten hat man oftmals den Eindruck, sich an nichts zu erinnern. Aber die Stimme ist weg, man findet auf einmal blaue Flecken, wo eigentlich keine sein dürften, dieses aufdringliche Fiepen im Ohr macht sich breit und das zeigt einem, dass man doch dort war. Bei „Pearl Jam Twenty“ war das ähnlich. Statt blauer Flecken bekamen die in den vorderen Reihen zwar eher Flimmern vor den Augen und Genickstarre, aber das Fiepen blieb. Ebenso das warme Gefühl im Bauch. Und die Klänge von „Alive“, die einen bis in den Schlaf begleiteten.
Diejenigen, die den Film nicht gesehen haben, müssen sich nicht grämen. Am 21. Oktober wird „Pearl Jam Twenty“ auf DVD veröffentlicht. Außerdem berichtet die Band, dass sie bereits mitten in den Aufnahmen für ein neues Album steckt, das voraussichtlich Anfang nächsten Jahres fertiggestellt wird.