Im Straßenfieber
Vor 50 Jahren wurde "On The Road" von Jack Kerouac veröffentlicht - bis heute der Beat-Roman, aus dessen Mythenschatz die ganze Popkultur schöpft
Salvatore „Sal“ Paradise, New Yorker Campus-Rumhänger und versuchter Schriftsteller, hat im Sommer 1947 eben die erste große Hitchhike-Reise begonnen, die ihn westwärts über Chicago und Denver bis San Francisco bringen soll, als er beim Zwischenstopp in Des Moines in einem nicht so schönen Eisenbahnhotel erschöpft dengesamten Tag verschläft. Beim Aufwachen hat er dann einen ganz sonderbaren Moment der Klarheit. Als ob er, kurz nachdem er sich von der statischen Sicherheit seines Zuhauses hat losreißen können, nachdem er die eigene Sehnsucht damit beantwortet hat, dass er ein ebenso sehr persönliches Risiko eingegangen ist – als ob er also an diesem Punkt direkt in ein neues Dasein hineinerwacht.
„Und ich blickte zu der rissigen Zimmerdecke hinauf, schreibt Jack Kerouac in der besagten Szene im dritten Kapitel des Romans „On The Road“, „und wusste wirklich nicht, wer ich war. Vielleicht 15 sonderbare Sekunden lang. Angst hatte ich nicht, ich war einfach jemand anders, ein Fremder. Und mein ganzes Leben war ein spukhaftes Leben, das Leben eines Gespenstes. Ich war auf halbem Weg meiner Reise durch Amerika, an der Trennlinie zwischen dem Osten meiner Jugend und dem Westen meiner Zukunft.“
Es ist fast zu schön und überraschend, dass „On The Road“, eines der nachhaltig bedeutendsten Bücher der amerikanischen Nachkriegsgeschichte, bis heute nicht verfilmt worden ist. Obwohl man, nicht nur wegen des Titels, Jim Jarmuschs „Stranger Than Paradise“ als eine Art kinematografische Nachschrift betrachten könnte, und obwohl Francis Ford Coppola und Walter Salles derzeit an einer Adaption arbeiten, deren Vollendung noch weit in den Sternen steht.
Verführerisch muss es die gesamten 50 Jahre lang gewesen sein, seit der Roman am 5. September 1957 erstmals bei Viking erschien: das originale Roadmovie, die smarten Rebellen, die „sordid hipsters of America“ mit ihren Zigaretten, die sich im Bop-Rhythmus an die Brust hauen, die rants des Dean Moriarty, die tollen Girls, die kein Problem mit lockeren Verhältnissen haben. Der wundertätig Rock&Roll
rinnende Schweiß des rockendenJazz-Pianisten George Shearing, dessen leeren Klavierschemel Dean Moriarty „God’s empty chair“ nennt. Diese Bilder, erfunden zu einer Zeit, als Marion Brando gerade mal „A Streetcar Named Desire“ gedreht hatte. Wenn man absichtlich ein bisschen hoch zielen wollte, könnte man gleich behaupten, Hollywood habe praktisch sein gesamtes domestisches Bilderarsenal aus „On The Road“ entnommen. Wann immer man auf DVD-Hintern eine Inhaltsangabe liest, in der drei Freunde in einem alten Auto quer durchs Land fahren, um nach dem wahren Herzen Amerikas zu suchen, weiß man eh, woher der Wind weht.
Warum es trotzdem so schön ist, dass es noch keine Eins-zu-eins-Übersetzung dieser Geschichte in bewegte Bilder gibt: weil der Roman natürlich auch vom Schreiben handelt. Nicht nur, weil er das Ergebnis umfangreicher Stilübungen Kerouacs war, und abgesehen von der zweifellos korrekten, aber etwas überstrapazierten Sichtweise. Kerouacs Prosa klinge beim lauten Vorlesen gelegentlich wie harter, eiliger Jazz.
Nein, man spürt bei der Lektüre auch die Geschwindigkeit der Reise. Wie die Schrift übers Papier saust, gewissermaßen die eigene Spur verwischt, nichts festschreibt, stattdessen jeden Satz zur Fortbewegung nutzt. Kein besseres Bild könnte es dafür geben als die Tora-artige Rolle, zusammengeklebt aus den Endlosstreifen, die Jack Kerouac in der Schreibmaschine hatte, als er im April 1951 in Manhattan innerhalb von drei Wochen die erste Version von „On The Road“ verfasste. Ohne Punkt und Komma, tatsächlich, was Truman Capote später zu der süffisanten Bemerkung provozierte, was Kerouac mache, sei ja nicht Schreiben, sondern Tippen.
Kerouac, 1922 in Massachusetts als Sohn franko-kanadischer Eltern geboren, Star-Footballer an der Columbia-Universität, war ebendort auf den Kreis um Lucien Carr, Allen Ginsberg und William S. Burroughs gestoßen, hatte Ersterfahrungen mit Drogen, Musik und intellektuellem Lotterleben gemacht, einen Debütroman geschrieben und den Lebenskünstler Neal Cassady kennengelernt, der zum unverblümten Vorbild wurde. Im Papierrollen-Original heißt Dean Moriarty auch noch Neal, wie man in der eben erschienenen Jubiläumsausgabe „On The Road – The Original Scroll“ nachlesen kann, die Kerouacs allererste Version dokumentiert.
„Wenn Kerouac nachts, angeschlossen an den großen Himmlischen Dynamo, einen Kilometer nach dem anderen auf der Schreibmaschine zurücklegte und seine „spontane Bop-Prosa schuf, hörte er Jazz“, schrieb der holländische Journalist Roel Bentz van den Berg in seinem 1999 erschienenen Essay „Die Über-Tat“. „Was ich aber beim Lesen hörte, war nicht Charlie Parker, sondern Elvis, Rock’n’Roll, und das war okay so, denn es ging um ein und denselben Beat. Es war das perfekte musikalisch-spirituelle Timing‘, in dem alles Leben rhythmisch zu einem Ausrufezeichen zusammengezogen wird, das Jetzt! Jetzt! Jetzt!“ sagt und so immer als Ganzes und im Triumph weitergegeben wird.“
Für van den Berg ist der Beat, der von Elvis und der von Kerouac, wie eine Protesthandlung ohne Ziel, ein gewaltiges, unartikuliertes Aufbegehren, um sich selbst und die Welt zu überwinden-die Zahlder Rockmusiker, die „On The Road“ als Initial-Inspiration nennen, ist entsprechend mächtig. David Bowie, Ray Manzarek von den Doors, Jerry Garcia, Tom Waits natürlich. Der junge Bob Dylan wäre als Moriarty eine Traumbesetzung, beeinflusst war er allerdings mehr von Kerouacs Gedichten in „Mexico City Blues“. Springsteen nennt Kerouac nicht, aber noch offensichtlicher kann man sich an derartigen Mythen kaum nähren.
Es reicht weit in die Gegenwart. Marissa und Seth aus „O.C., California“ nennen in einer Folge beide „On The Road“ als Lieblingsbuch, Ben Gibbard von der Indie-Pop-Band Death Cab For Cutie mietete sich sogar für eine zweiwöchige Klausur im Häuschen in Bie Sur ein, in dem Kerouac seinen gleichnamigen Roman schrieb. Die Neo-Rockgruppe The Hold Steady aus Brooklyn feierte ihren Bekanntheitsdurchbruch letztes Jahr mit einer Platte, die programmatisch komplett auf einer Passage aus „On The Road“ fußt: .Jungen und Mädchen in Amerika haben es nicht schön miteinander“, steht im zehnten Kapitel. Weltgewandtheit verlangt von ihnen, dass sie sofort miteinander ins Bett gehen, ohne vorher richtig zu reden. Kein Umwerben, keine echten und ehrlichen Gespräche über die Seele.“ „Boys And Girls In America“ heißt das Album.
„Um das Buch kommt man noch immer nicht herum, wenn man die Gegenkultur kennenlernt“, sagt Craig Finn, Sänger und Songwrker von The Hold Steady. ,Wer anfängt, Rockmusik zu hören, der sieht eben irgendwann ,Easy Rider‘, und der liest eben irgendwann ,On The Road‘. Ob das in Amerika Schullektüre ist? Aber nein!“ Finn selbst fand den Roman als 16-Jähnger doof, entdeckte ihn erst mit 32 für sich. „Es geht in dem Buch ja um ein älteres Amerika. Ich hatte als Teenager noch nicht die Lebenserfahrung, um zu verstehen, wie wild so eine Reise wirklich war, in einer Zeit, als es noch nicht mal die Highways gab. Heute wird alles von Ladenketten beherrscht – damals war der Unterschied zwischen New York und Denver noch gewaltig. In dem Buch ein Amerika zu entdecken, das so viel regionalistischer ist als heute, das fand ich aufregend.“
Nach ebenso vielen Verrissen wie Lobpreisungen, nach hundert Erklärungen, was Beat bedeutet, und tausend Verzweiflungen darüber, dass die coole Rezeption seinen katholisch angeweihrauchten Spiritualismus nicht sehen wollte, starb Kerouac am 21. Oktober 1969 an den Folgen des Alkohols. „Für mich war er ein sehr typischer Amerikaner“, meint Craig Finn. „Er sagte: Ich will an keinem Schreibtisch festsitzen, obwohl ich auf einer Super-Uni war, gerne Football spiele und meine Mutter liebe. Ich will raus, ich will die ganze Nacht lang fahren, neben der Straße schlafen und sehen, was es da draußen noch alles gibt. Ich will Fragen stellen und alles selbst rauskriegen.“
Was Jack Kerouac gesucht hatte, steht ja mit anderen Worten im berühmten ersten Kapitel des dritten Teils von „On The Road“: ecstasy, life, joy, kicks, darkness, music, night. Wie er das gesucht hatte: mit Coolness und Fortbewegung. Zwei Dinge, die sich irgendwann mal widersprochen hatten.