Im Schatten des Boykotts
Politik statt Partystimmung. Für Fußballfans bleibt die Hoffnung auf eine EM mit großem Sport
Früher war vieles besser, manches, weil es so eindeutig war. 1996 zum Beispiel. Fußball-EM in England. Samt einer nicht zu Peinlichkeitszuckungen führenden Hymne. In „Three Lions“ teilten The Lightning Seeds mit, der Fußball käme mit diesem Turnier nach Hause. In diesem Song ging um nichts als: Fußball. Genauer gesagt: Fußball und Leiden. Leiden am Fußball, aber nicht gleich am Elend der Welt.
Anders als bei der WM 1966 blieb der Titel des Turniers 30 Jahre später zwar nicht im Mutterland des Fußballs. Aber an diese Art von Enttäuschungen waren die Engländer ja seit Dekaden gewöhnt („Thirty years of hurt never stopped me dreaming“), sie träumten auch nach 1996 – und tun das bis heute – einfach weiter, dass irgendwann doch wieder das ganz große Ding passiert. Es gehört zu den Notwendigkeiten des Lebens als Fußballfan, dass man der Wirklichkeit nicht zu viel Raum gibt, jedenfalls nie mehr als der eigenen Fantasie.
Früher war vieles schlechter, manches, weil es so eindeutig war. 1978 zum Beispiel. Fußball-WM in Argentinien. Samt eines Ausrichterlandes, dessen Regime Menschen folterte und ermordete. Die ganze Dimension des Terrors wurde erst später aufgedeckt, aber ein Geheimnis waren Menschenrechtsverletzungen in Argentinien schon 1978 nicht. Auch damals geisterte das Wort Boykott durch die Bundesrepublik wie nun, 34 Jahre später, erneut, als einen Monat vor dem Turnier all die Aufrechten in Wallung gerieten und nach politischem Boykott der Spiele in der Ukraine zu rufen begannen. Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern München, gefiel sich mit der Aufforderung an die Nationalspieler, vor Ort Stellung zur Lage in der Ukraine zu beziehen. Auch interessant: Dass Spieler, die gemeinhin zu Hause ohne Erlaubnis des Vereins kein Wort über Kinkerlitzchen in der Kabine verlieren dürfen, nun auf einmal in der Fremde zu mündigen Bürgern erklärt wurden.
1978 machten sich dann doch alle auf die Reise nach Südamerika. Argentinien schummelte sich durch eine Spielverschiebung im zeitlichen Sinne (vermutlich aber auch noch in einem anderen) zum Titel. Das Regime hatte erreicht, was es erreichen wollen: Anerkennung. Außer vom eigenen Nationaltrainer César Luis Menotti, genannt „El Flaco“ (der Dürre), der seine offen demonstrierte Opposition zur rechten Diktatur gleich noch durch eine Philosophie vom linken Fußball anreicherte.
Der EM-Gastgeber Ukraine wird die EM nicht gewinnen – es sei denn, alle anderen Mannschaften inklusive Ko-Gastgeber Polen treten nicht an. Doch selbst wenn die Ukraine ein reguläres Finale am 1. Juli in Kiew für sich entschiede, fiele kein Funken Glanz für die Machthaber ab. Ein Nationaltrainer, der hernach der aufrechten Welt als aufrechter Held dienen könnte, stünde mit Oleg Blochin, genannt Blocha (Floh), auch nicht zur Verfügung. Blochin würde wohl nur wiederholen, was er schon vor Jahren tat: sich vor Viktor Janukowitsch verbeugen. Wie auch immer: Man tut sich heutzutage keinen Gefallen mehr damit, ein sportliches Großereignis wie eine Europameisterschaft oder ein halb kulturelles Event wie den Eurovision Songcontest ins eigene Land zu holen, wenn es in diesem Land anders zugeht als in westlichen Demokratien. Dann gucken auf einmal alle hin und sind aus dem Stand aufgebracht, und die Zahl der Mitteilungskanäle für schäumende Empörung und ultimative Forderungen ist bekanntlich groß. Nur über die einzig richtige Aufstellung einer Fußballmannschaft wissen noch mehr Menschen alternativlos Bescheid als in Fragen, welche die Instrumentalisierung des Sports betreffen.
Im Übrigen: Ein Boykott 1978 hätte dem deutschen Fußball einiges erspart, zuvörderst die sogenannte Schmach von Córdoba, eine historische Niederlage gegen Österreich. Allerdings wäre auch der legendär gewordene Radiokommentar Edi Fingers zum entscheidenden 3:2 ungesagt geblieben: „I wer narrisch…“ Mangels Österreich im Teilnehmerfeld ist ein Aufeinandertreffen mit dem notorisch minderwertigkeitskomplexverarbeitenden Nachbarn im Juni nicht möglich. Fest stehen die Gruppengegner Portugal und Niederlande.
Und: Dänemark. Womit wir wieder bei Fußball und Politik wären. Die Dänen, das sind die, die bei der EM 1992 als Nachrücker für die aus politischen Gründen aus dem Turnier geworfenen Jugoslawen nachnominiert wurden. Der Legende nach reisten die Spieler direkt aus dem Strandurlaub nach Schweden, um dann fastfoodgestärkt im Finale Deutschland, den amtierenden Weltmeister, zu schlagen. Wenn die Politik ernst macht, kann es auf dem Spielfeld lustig werden.
Die deutsche Elf gewann den Titel vier Jahre später im „Three-Lions“-Land. Auch jetzt wieder tritt Deutschland als Vizeeuropameister an. Da die juvenile Auswahl inzwischen gereift ist, während ihr juveniler Trainer Joachim Löw kleidsame graue Haare bekommt, gilt sie als Topfavorit. Derartige Vorschusslorbeeren schreien nach Unkerei: Das kann ja nur schiefgehen. Was soll man sagen: Nur ein EM-Boykott der Nationalmannschaft selbst schützt zuverlässig vor sportlicher Enttäuschung. Nur wer nicht mitmacht, kann träumen, er hätte gewonnen, wäre er dabei gewesen.
Fußballfans bleibt die Hoffnung auf eine EM mit großem Sport. Politisch korrekten Fußballfans mit Affinität zu Deutschland die Vision, wie die DFB-Spieler nach gewonnenem Finale T-Shirts überstreifen, auf denen steht: „People of Ukraine – never forget: you are the people.“ Oder so. Nur die Engländer könnten im Fall eines Titelgewinns noch eins draufsetzen: „20 years of cheating, never stopped you dreaming.“ Es wäre eine Verbeugung vor den Ukrainern, zugleich die Stabweitergabe aller Träumerei.