Im Camp der Rebellen
Vom getwitterten Demo-Aufruf zur weltweiten Protestbewegung - Schadensbilanz einer Revolte
Es war bitterkalt, als Marisa Holmes, eine 25-jährige Anarchis-tin, die zum organisatorischen Nukleus von „Occupy Wall Street“ zählt, ein ungewöhnliches Angebot bekam. Ein Assistent des Eiscreme-Herstellers „Ben & Jerry“ regte eine Telefonkonferenz mit den Firmengründern Ben Cohen und Jerry Greenfield an, die aus ihrer linksliberalen Gesinnung keinen Hehl machen. Als die Bewegung – gerade mal sechs Monate alt – in den Wintermonaten vom Radar zu verschwinden schien, waren Ben und Jerry zu der Einsicht gekommen, dass „Occupy Wall Street“ vor allem eines brauche: eine professionelle Organisation für das Einsammeln von Spendengeldern. Mit Hilfe von Gleichgesinnten wie dem einstigen Nirvana-Manager Danny Goldberg glaubten sie, rund zwei Millionen Dollar zusammenkratzen zu können, um OWS-Aktionen im ganzen Land zu unterstützen und der noch unfokussierten Bewegung ein festes Hauptquartier in New York einzurichten. Allerdings war ihnen zu Ohren gekommen, dass Holmes und andere Occupy-Mitglieder Bedenken gegen ihren Vorschlag geäußert hatten.
Holmes stammt aus Columbus/Ohio und wuchs in einer linksliberalen Familie der oberen Mittelschicht auf, deren politische Präferenzen mit denen von Ben und Jerry durchaus vergleichbar sind. Ihr Vater ist Anwalt, und als er für einen Sitz im Stadtrat kandidierte, setzte sich die 14-jährige Marisa tatkräftig für seine Kampagne ein. Doch seitdem hat sich ihre politische Position zunehmend radikalisiert. Im letzten Frühjahr reiste sie allein nach Ägypten, um – obwohl sie kein Wort Arabisch spricht – am Tahrir Square eine filmische Dokumentation zu drehen. Im September war sie eine der ersten, die im New Yorker Zuccotti Park übernachteten. Sie war von ihrem Freund David Graeber eingeladen worden, dem brillanten Akademiker und Anarchisten, der gemeinhin als Urheber des Slogans „Wir sind die 99%“ gilt.
Holmes ist klein und wirkt auf den ersten Blick verschlafen, kann aber durchaus temperamentvoll und resolut sein. Was manchmal nervtötend ist (wenn sie bei Occupy-Meetings darauf besteht, dass die Teilnehmer sich mit Namen und der gewünschten Anrede vorstellen), an anderen Tagen aber durchaus effektvoll. Als HipHop-Impresario Russell Simmons am Zuccotti Park erschien und darauf drängte, auf der Liste der angekündigten Sprecher weiter oben geführt zu werden, fuhr sie ihn an: „Sind Sie verrückt geworden? Sie sind auf Platz zwölf. Finden Sie sich gefälligst damit ab.“
Kein Wunder, dass auch die Telefonkonferenz unter keinem guten Stern stand. Ben und Jerry schienen ihre Einwände einfach nicht nachvollziehen zu können. „Sie sagten:, Wo ist das Problem? Warum wollt ihr unser Geld und unsere Unterstützung denn nicht?'“, erinnert sich Holmes. Aber OWS war nun einmal auf dem anarchistischen Prinzip der „horizontalen“, der führerlosen, direkten Demokratie entstanden. „Und sie konnten einfach nicht nachvollziehen, dass es problematisch ist, eine hierarchische Non-Profit-Organisation zu gründen, die dann zwangsläufig vertikale Strukturen bekommt. Anfangs war ich ja noch wirklich nett zu ihnen“, fährt Holmes fort, „aber am Ende sagte ich ihnen klipp und klar:, Ich weiß, dass Sie in der Vergangenheit so vorgegangen sind, aber das ist nicht das Modell, nach dem wir verfahren.'“
Holmes hatte nicht zuletzt deshalb Berührungsängste, weil sich Geld schon in der Vergangenheit als Zankapfel erwiesen hatte. Nach der polizeilichen Räumung des Parks war Occupy mit Spenden überschüttet worden, rieb sich aber schnell in Diskussionen darüber auf, wie man das Geld sinnvoll einsetzen solle. Streitereien über Banalitäten wie eine kostenlose Subway-Karte für Occupy-Teilnehmer hatten ein Schlaglicht nicht nur auf offene Fragen der Taktik geworfen, sondern auch auf ein grundlegendes Problem. Nachdem man praktisch über Nacht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen hatte, stellte sich plötzlich die schlichte Frage: Wie sollte es mit Occupy eigentlich weitergehen?
Es gab einige Köpfe in der Bewegung, die dem Angebot von Ben und Jerry durchaus positiv gegenüberstanden. Einer von ihnen ist Shen Tong, ein 43-jähriger Software-Unternehmer, der in den 80er-Jahren ein radikaler Student in Peking war, an dem Aufstand vom Tiananmen-Platz teilnahm und in einer studentischen Kommission saß, die mit der chinesischen Regierung einen Kompromiss auszuhandeln versuchte. Als dann doch die Panzer rollten, lief er auf die Straße und flehte die Soldaten an, nicht zu schießen. Vergeblich. Ein Soldat schoss ein Loch in den Kopf der Frau, die gerade neben ihm stand. Shen hatte Glück, sich noch rechtzeitig nach Boston absetzen zu können, wo er an der Harvard-Universität Philosophie und Soziologie studierte.
Mit seiner Frau und drei Kindern lebt er heute in Soho, nicht weit vom Zuccotti Park entfernt. Wir treffen uns in der Nähe seines Apartments in einem Cafe. Er schaut kurz hinter sich. „Wenn wir jetzt in Peking wären, würde der Sicherheitsdienst an diesem Tisch da sitzen. Wir würden auf Schritt und Tritt verfolgt.“
Shen hatte das Geschehen im Zuccotti Park zunächst nur aus der Distanz beobachtet. Nach ein paar Wochen, als Occupy mit seiner simplen, aber präg-nanten Botschaft weiterhin Schlagzeilen machte und ein erstaunlich breites Spektrum an Unterstützern fand, spazierte er mit seinen Kindern zum Park, um sich selbst ein Bild zu machen. Als er dann beim zweiten Mal alleine kam, ging es ihm durch den Kopf: „Das ist es!“ Es war sein zweites Tiananmen-Erlebnis – eine Erfahrung, die er bis dahin nicht für möglich gehalten hatte.
Er trat als Präsident seiner Software-Firma zurück, um sich ganz Occupy widmen zu können und dabei seine spezifischen Talente einzubringen – „die Art von tödlich langweiligen Schreibtisch-Projekten, für die man einen global agierenden Geschäftsführer gut brauchen kann“. Shen hatte auch keine Probleme damit, sich mit 1-Prozentern wie Ben und Jerry zusammenzusetzen. Als Kenner der weltweiten Protestbewegungen ist er überzeugt, dass Occupy einen soliden Unterbau braucht, um den Kampf fortsetzen zu können.
„Wir wären hier nicht ohne die Revoluzzer“, sagt er. „Die bedingungslosen Idealisten sind elementar wichtig, um eine gesellschaftliche Bewegung überhaupt erst loszutreten. Ich war schließlich selbst einer von ihnen. Ich verstehe durchaus, was sie tun: Sie öffnen die Fluttore. Aber mein Job ist inzwischen ein anderer. Es geht darum, eine Massenbewegung zu organisieren oder – als Minimal-Ziel – die anderen 99 Prozent da draußen überhaupt anzusprechen.“
Aber Occupy ist längst eine Massenbewegung, wird Marisa Holmes darauf verärgert entgegnen. Sie ist davon überzeugt, dass die Bewegung einfach nur das fortsetzen muss, was sie begonnen hat. „Wir fragen nicht um Erlaubnis“, sagt sie, „aber wir stellen auch keine Forderungen.“
Sie saß im Publikum, als Ben und Jerry ihre eigene „Movement Resource Group“ bei einer Podiumsdiskussion vorstellten. Während der Veranstaltung (in einer Kirche auf Manhattans West Side) stand sie auf und sagte mit bewegter Stimme, dass sie davon ausgehe, dass jeder der Beteiligten nur die besten Absichten habe. Aber dass die MRG mit ihrer vertikalen Organisation „genau die Art von Organisation ist, die Occupy nicht ist und auch nicht sein will. Ich kann mich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, dass genau dieses Vorgehen das Fundament der Bewegung unterminieren wird, die ich aufzubauen versuche. Was hoffen Sie mit Ihrer Organisation denn zu erreichen?“
Nach einer langen, etwas peinlichen Pause beugte sich Ben Cohen zu seinem Mikrofon und sagte: „Ich denke mal, dass wir alle hoffen, dass die Bewegung wächst und gedeiht.“
Was natürlich genau das Problem ist: wessen Bewegung? Und: Wie soll die Zukunft dieser Bewegung aussehen?
Alles passierte so rasend schnell, dass man die zarten Anfänge der Bewegung noch einmal rekapitulieren sollte. Es war ein kleiner Kreis von Aktivisten (die sich ausnahmslos als Anarchisten bezeichnen), viele von ihnen Veteranen des Anti-Globalisierungs-Kampfes der Neunziger, die von der Hoffnung getrieben waren, den unkontrollierten Einfluss des Kapitalismus auf alle gesellschaftlichen Aspekte des Lebens zu torpedieren – und eines Tages vielleicht gänzlich zu unterbinden. Es waren Leute wie David Graeber, aber auch die neo-situationistischen Scherzkekse des Satire-Magazins „Adbusters“, die zur Besetzung der Wall Street aufriefen und dabei den Slogan „Occupy Wall Street“ kreierten. „Seit Jahren palavern wir darüber, dass wir endlich über die Leiche der alten Linken springen müssen“, sagt „Adbusters“-Gründer Kalle Lasn. „Insofern war ich nicht einmal überrascht, dass es in New York einen Urknall gab. Aber als sich die Bewegung dann blitzartig ausweitete und mehr als tausend Besetzungen registriert wurden – doch, das hat mich schon überrascht. Nachdem wir 20 Jahre lang erfolglos über ein neues, 1968′ gesprochen hatten, war ich zwischenzeitlich schon etwas desillusioniert.“
Es war sicher kein Zufall, dass die Zelte im Zuccotti Park zu einem Zeitpunkt auftauchten, als sich die politischen Organe in den USA als zunehmend handlungsunfähig erwiesen, als eine dreijährige Rezession Millionen Amerikanern plastisch vor Augen führte, dass selbst die gnädigen Gaben, die an die Mittelklasse verteilt werden – Erziehung, Eigenheim, Rente, Arztbesuch -, nur noch dadurch möglich sind, dass man sich an ein Finanzsystem kettet, das letztlich als Casino für die Oligarchie fungiert. Graeber, dessen Buch „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ zur Pflichtlektüre der Bewegung wurde, bemüht in diesem Zusammenhang gerne Aristoteles. Wenn man den griechischen Philosophen per Zeitmaschine in die Gegenwart beamen könnte, würde er kaum einen Unterschied ausmachen können zwischen den westlichen Arbeitern, die sich an ihren Arbeitgeber verkaufen – und seinen hoffnungslos verschuldeten Zeitgenossen der Antike, die sich freiwillig als Sklaven anboten.
Occupy machte keine Versprechungen. Man wollte nicht irgendetwas „verkaufen“ – ob es nun Hoffnung war oder der große Systemwechsel oder eine kleine, zahnlose Reform. Es war letztlich nur eine Geste der Verweigerung, ein „Danke, aber ohne mich“ an die Adresse eines Systems, das uns alle über den Tisch zieht. Der Kulturkritiker Douglas Rushkoff (dessen kommendes Buch „Present Shock“ sich auch mit der Occupy-Bewegung auseinandersetzt) zieht eine Parallele zur Vergangenheit: „Wenn man in den letzten 300, 400 Jahren der feudalen Oberschicht Zugeständnisse abringen wollte, dann ging das nur dadurch, dass sich größere Menschenmengen zusammenrotteten, vors Schloss des Fürsten zogen und dort lautstark ihre Forderungen vortrugen.“ Rushkoff vergleicht daher Occupy nicht mit dem zielfixierten politischen Aktivismus des 20. Jahrhunderts, sondern mehr mit einer generellen gesellschaftlichen Erleuchtung: „Moment mal, warum entscheidet eigentlich der Fürst, was mit den Bauern passiert? Und der Vertrag, dass der Bauer einen Teil seiner Ernte dem Fürsten abliefern muss – ist das letztlich nicht nur ein Stück Papier?“
In gewisser Weise wurde Occupy das Opfer des eigenen, nie erwarteten Erfolges. Lasn, früher selbst im Marketing erfolgreich, schaffte es zwar, eine geniale, griffige Marke zu kreieren, war aber überfordert, als es darum ging, unrealistische Erwartungshaltungen zu kanalisieren. Von Occupy-Aktivisten zu erwarten, dass sie mit einem zweiten Akt aufwarten könnten, der dem Urknall in nichts nachsteht, erwies sich rückblickend als ebenso unrealistisch wie der Versuch, dem Debütalbum der Strokes einen adäquaten Nachfolger hinterherzuschicken.
Einige Occupy-Mitglieder hielten es deshalb für sinnvoll, eine zweite Aktion zu starten, die die Augen der Weltöffentlichkeit einmal mehr auf die Bewegung lenken würde. Wenn man in den vergangenen Monaten nach dem Status quo von Occupy fragte, konnte man es deswegen regelmäßig raunen hören: „Warte nur bis zum 1. Mai.“ Der internationale Tag der Arbeit schien der ideale Anlass, den Winterschlaf zu beenden und die Frühjahrsoffensive mit einem landesweiten Generalstreik zu starten.
Am Tag der Arbeit versammelten sich Tausende Menschen am New Yorker Union Square, wo Musiker wie Tom Morello und Das Racist ein kostenloses Konzert gaben – unter ihnen auch Haywood Carey aus Chapel Hill, North Carolina, der den Herbst im Zuccotti Park verbracht hatte und zuvor als Organisator für die Gewerkschaft und die Demokratische Partei gearbeitet hatte. Nach dem faulen Kompromiss bei Obamas Krankenversicherungreform war Carey ausgestiegen und hatte die nächsten sechs Monate in tiefster Depression verbracht. Dann passierte Occupy. „Und“, so Carey, „ich sagte:, Das ist es!'“ Da er sich eh gerade von seiner Freundin getrennt hatte, gab er sein Apartment in Chapel Hill auf, verkaufte sein Auto und fuhr per Anhalter nach New York. Es war morgens um sieben, als er im Zuccotti Park eintraf. Es war weniger los, als er sich vorgestellt hatte – was banalerweise darauf zurückzuführen war, dass die meisten noch schliefen. Schließlich öffnete die Küche, wo er erst einmal frühstückte, dann der Informationsstand, wo er einige grundsätzliche Fragen stellte. Doch die Dame auf der anderen Seite meinte nur: „Ich hab keine Ahnung. Dies ist mein erster Tag heute. Vielleicht wollen Sie ja mit aushelfen?“ Also wechselte er auf die andere Seite des Tisches – „was eigentlich alles über den Geist von Occupy sagt“.
Da er sich mit Gewerkschaftsarbeit auskannte, war er Mitglied der Planungsgruppe für den 1. Mai geworden, hatte sein Amt aber schnell wieder niedergelegt, weil er mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Aktion nicht einverstanden war. Ein Generalstreik bedeutet nun einmal, dass die meisten Arbeiter zu Hause bleiben, und die Absicht von Occupy, ohne nennenswerte gewerkschaftliche Unterstützung zu einem Generalstreik aufzurufen, hatte vielerorts nur Kopfschütteln ausgelöst. Ohne ein Massenaufgebot an Streikwilligen lief die Aktion von vornherein Gefahr, als krasser Fehlschlag eingestuft zu werden – und genau dieser Fall trat dann schließlich auch ein.
Am Ende ruderte Occupy kräftig zurück und behauptete, man habe nur „redefinieren“ wollen, wie ein Generalstreik aussehen könnte – was etwa so überzeugend klang wie die Aussage eines Internet-Users, der zu Pornoseiten onaniert, um anschließend festzustellen, er habe „redefinieren“ wollen, was eine Orgie ist.
Die unausgegorene Idee eines Generalstreiks warf indes ein bezeichnendes Schlaglicht auf die immanenten Spannungen mit der etablierten Linken. Viele Occupy-Anarchos haben ein fundamentales Problem mit der „undemokratischen“ Struktur der Gewerkschaften und schrecken nicht davor zurück, sich offen mit dem traditionellen Partner der Demokraten anzulegen. Hafen-Blockaden, wie sie von „Occupy Oakland“ durchgeführt worden waren, hatten bereits früher den Finger auf die Wunde gelegt und Gewerkschaftler an der Westküste auf die Palme getrieben. Ein hochrangiger Funktionär, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte mir Folgendes: „Dies sind die gleichen Leute, die schon frustriert von der Vorstellung sind, mit gewählten Volksvertretern sprechen zu müssen. Und dann gehen sie hin und lassen Deklarationen vom Stapel wie ein fetter Arsch im Iran, der einfach mal so eine Fatwa in die Welt setzt. Das ganze Gerede mit dem Generalstreik war kompletter Blödsinn. Wer will sich mit so einem Scheiß überhaupt ernsthaft auseinandersetzen?“
Auch wenn er das Planungskomitee verlassen hatte, war Carey doch bester Dinge, als er sich der Demo am Union Square anschloss. Er lebte inzwischen ganz in der Nähe: Ein betuchter Occupy-Unterstützer hatte ihm und seiner Freundin (mit der er sich wieder arrangiert hatte) seinen geräumigen Weinkeller in nobler Umgebung zur Verfügung gestellt. „Es ist bizarr“, so Carey: „Jetzt bin ich von der Wall Street ins West Village umgezogen. Ich bin nur noch von Reichen umgeben.“ Eine gut gelaunte Menschenmenge, die auf 30.000 Teilnehmer geschätzt wurde, machte sich auf den Weg zur Wall Street, wo gleich in der Nähe der Börse eine triumphale Abschlussversammlung stattfand. „Wir sollten besser sofort all unsere Kreditkarten überziehen“, scherzte einer von Careys euphorisierten Freunden. „In ein paar Stunden ist der Kapitalismus mausetot.“
Ein Stück weiter downtown hatte einige Stunden zuvor bereits eine andere Kundgebung stattgefunden: Eine radikalere Gruppe von Occupy-Aktivisten hatte sich in einem Park an der Lower East Side versammelt. Vor Jahren war diese Gegend noch eine wenig einladende Adresse, doch inzwischen säumen Bioläden und ein Artfilm-Kino den Park. Für den kompromissloseren Flügel der Bewegung war die Vorstellung, an einem „genehmigten“ Marsch teilzunehmen, selbstredend ein rotes Tuch. Dem anarchischen Geist der Bewegung folgend, wollte die Splittergruppe die „öffentlichen Plätze“ für sich reklamieren und hatte deshalb zum eigenen, nicht genehmigten „Black Bloc“-Marsch aufgerufen.
Der „Schwarze Block“ ist ein weiteres Indiz, dass sich innerhalb der Bewegung unübersehbare Risse auftun. Die militanten und vermummten Aktivisten propagieren unverhohlen die Revolution und haben keine Scheu, zu illegalen, notfalls auch gewalttätigen Mitteln zu greifen (wie etwa bei den Anti-Globalisierungs-Demonstrationen 1999 in Seattle, wo massenhaft Schaufensterscheiben zu Bruch gingen). Bislang trat der „Schwarze Block“ nur in Oakland in Erscheinung, und die dortige Occupy-Bewegung hat es stets abgelehnt, sich von gewalttätigen Aktionen zu distanzieren. Und da sich wiederum Occupy-Gruppierungen aus dem ganzen Land mit Oakland solidarisierten (und dabei das etwas euphemistische Argument der „verschiedenen strategischen Ansätze“ bemühten), gibt es nun immer mehr kühlere Köpfe im Occupy-Lager, die sich angesichts dieser Entwicklung alles andere als wohl fühlen.
In der Lower East Side kam es natürlich zur erwarteten Konfrontation. Auf der Straße zum Eingang des Parks hatte eine beeindruckende Formation New Yorker Cops Stellung bezogen – ihnen gegenüber etwa 200 Protestierer, fast ausnahmslos schwarz vermummt. Einige schwenkten Transparente mit wirren Slogans wie „The State kills Faggots -Castrate The State“, während sich andere mit „Fuck The Police“ zumindest unmissverständlicher ausdrückten.
Als die Demonstranten aus dem Park auf den Bürgersteig traten, setzten sich auch die Cops in Bewegung. Als erste Teilnehmer festgenommen wurden, zog sich die Gruppe umgehend in den Park zurück und lief von dort aus auf die engen Straßen der Lower East Side. Es war offensichtlich eine vorher verabredete Taktik; die Polizei war jedenfalls nicht darauf vorbereitet, die Gruppe zu verfolgen. Der Mob zog gegen die Fahrtrichtung in Einbahnstraßen, legte den Verkehr lahm, zerrte Polizeibarrikaden auf die Straße, trat Mülleimer um und schlug auf parkende LKWs ein.
Als sie in Chinatown eintrafen, reagierten die chinesischen Anwohner – von denen vermutlich einige schon mit den Schattenseiten einer wirklichen Revolution konfrontiert gewesen waren – teils verstört, teils völlig desinteressiert. Ein junger, übergewichtiger Bursche aus dem „Schwarzen Block“ stürzte auf einen Fotografen am Straßenrand, schlug ihm mit der Faust auf die Schläfe und schrie „Keine Fotos!“, bevor er weiterlief. Ein zweiter Demonstrant hielt an, um sich davon zu überzeugen, dass der Fotograf nicht verletzt war. Als er anfing, sich zu entschuldigen, rief der Fotograf: „What the fuck is wrong with you people?“
Als der Marsch sich den Shopping-Straßen von Soho näherte, wurden weitere Mitglieder verhaftet – woraufhin sich die Demonstration langsam auflöste. Der Junge, der den Fotografen geschlagen hatte, fing an zu singen: „Kill all the cops. Burn all the prisons. C-O-M-M. Comm-u-nism.“
Es war frappierend, wie gut seine Stimme auch aus größerer Entfernung noch zu hören war. Um ihn herum war es völlig still geworden. Und für einen Moment sah es so aus, als wolle er ganz allein weitermarschieren. Doch dann brachen die letzten Demonstranten hinter ihm in Gelächter und lautes Gejohle aus.
Selbst wenn man den jugendlichen Adrenalinschub, sich mit Autoritäten anzulegen, nicht auf die Goldwaage legen sollte, bleibt die Frage, was der strategische Gewinn der Aktion war. Sollte Occupy die Absicht verfolgt haben, Sympathisanten zu gewinnen, so ging der Schuss mit Sicherheit nach hinten los. Obendrein liefern derartige Aktionen der Polizei nur den willkommenen Vorwand, ihr eigenes, oft genug völlig inakzeptables Vorgehen zu rechtfertigen.
Im letzten Herbst war man in einer konzertierten Aktion gegen alle Occupy-Besetzungen vorgegangen und hatte innerhalb weniger Wochen sämtliche Camps geräumt. Über 700 Aktivisten wurden allein auf der Brooklyn Bridge festgenommen. In Seattle und Oakland wurde Tränengas eingesetzt. Nicht zuletzt die New Yorker Cops behandelten Demonstranten so, als seien sie Terrorismus-Verdächtige. Führende Occupy-Mitglieder wurden überwacht. Am Tag vor dem geplanten Generalstreik wurden die Wohnungen mehrerer Mitglieder mit den haarsträubendsten Begründungen durchsucht – in einem Fall ging es um eine Anzeige wegen eines unverschlossenen Müllcontainers, die schon Jahre zurücklag. Auch die juristische Keule wurde herausgeholt: Occupy-Demonstranten an der University of California, die mit ihrer Blockade die vorübergehende Schließung einer Bank-Filiale ausgelöst hatten, wurden auf Zahlung von einer Million Dollar verklagt. Der New Yorker Staatsanwalt wiederum ließ sich dazu ermächtigen, die Twitter-Feeds von Aktivisten gegen diese verwenden zu können.
„Wenn wir unsere Dynamik wirklich verloren haben“, sagt die Dokumentarfilmerin Astra Taylor, die die Zeitung „Occupy! Gazette“ herausgibt, „sollte man auch klipp und klar sagen, warum. Weil ein unfassbarer, ungesetzlicher Angriff auf das Recht der freien Meinungsäußerung inszeniert wurde. Hat also Occupy wirklich seine Dynamik verloren – oder ist die Bewegung nur gegen die große hässliche Mauer staatlicher Repression gelaufen?“
Wie dem auch sei: Aus einer unglaublich populären Bewegung, die aus dem Protest gegen die Käuflichkeit der Wall Street geboren wurde, entwickelte sich Occupy zu einer Protestbewegung, die für ihr Recht auf Protest eintritt. Was fraglos eine berechtigte Forderung ist, doch die ursprüngliche und unschlagbar populäre Message verwässerte.
Durch die inhaltliche Öffnung ergaben sich allerdings auch neue Perspektiven. Ende Februar rief „Occupy Portland“ dazu auf, auf nationaler Ebene den „American Legislative Exchange Council“ – kurz ALEC – ins Kreuzfeuer zu nehmen. Die Organisation hatte sich die Aufmerksamkeit wahrlich verdient: Praktisch nicht auf dem Radar der Öffentlichkeit, betreibt ALEC Lobby-Arbeit für Mitglieder wie Walmart, Exxon-Mobil oder die Bank of America, setzt aber auch Themen der radikalen Rechten auf die Agenda. So unterstützte man die xenophobe Anti-Immigrationspolitik in Arizona, stellte rechtliche Mittel für den Kampf gegen Obamas Gesundheitsreform zur Verfügung und setzte sich für das umstrittene Selbstwehr-Gesetz „Stand Your Ground“ ein, das in Florida zum Tod des 17-jährigen Trayvon Martin führte. Nachdem sich daraufhin Mitglieder wie Coca-Cola distanzierten, knickte ALEC ein und löste sein dazu arbeitendes Komitee auf. Eine Woche später konstatierte die „Washington Post“, dass sich ALEC in kürzester Zeit „von einer kaum bekannten Abkürzung zu einem politisch heißen Eisen“ entwickelt habe.
Solch nachweislichen Erfolge mögen die Richtung vorgeben, in die sich Occupy entwickeln könnte: konkrete Aktionen gegen zweifelhafte Konzernpraktiken, gerne auch umgesetzt in Zusammenarbeit mit bereits existierenden lokalen Gruppierungen. Tatsächlich haben Occupy-Mitglieder bereits Aktionen auf Aktionärsversammlungen durchgeführt, haben zwangsvollstreckte Häuser besetzt oder auf den Universitäten Kampagnen gegen die kriminellen Praktiken bei Studenten-Krediten initiiert.
Carne Ross kam zum Zuccotti Park zum gleichen Zeitpunkt wie Haywood Carey, auch wenn ihre soziale Herkunft unterschiedlicher kaum sein könnten. Ross ist ein eleganter 45-jähriger Brite, der auch gut einen Wall-Street-Banker mimen könnte. Tatsächlich ist er ein ehemaliger Diplomat, der – damals unter erheblichem medialen Aufsehen – den Dienst quittierte, als sich England auf den Einmarsch im Irak vorbereitete. Seitdem ist er zum Anarchismus konvertiert und leitet in einem gediegenen New Yorker Loft eine Art diplomatischen Think Tank. Ross hat nicht eine Nacht im Zuccotti Park verbracht. Er hat Frau und Kinder und gibt offen zu, dass „ich mich aus ästhetischen Gründen von der Aktion eher abgestoßen fühlte. Occupy ist kein Wort, das für mich einen positiven Beigeschmack hat.“
Aber trotzdem war er von den Möglichkeiten begeistert, die sich durch die Bewegung auftaten. Als gelernter Ökonom initiierte er eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Etablierung einer alternativen Bank beschäftigten will, einer „Occupy-Bank“, die sich an dem Vorbild der lokalen Genossenschaftsbanken orientiert, aber landesweit arbeiten würde. „In der Hyde Street gibt es einen großen englischen Einzelhändler“, erzählt er, „der substanzielle Gewinne macht, diesen Profit aber unter seinen Angestellten aufteilt. Zudem bekommt jeder acht Wochen Urlaub im Jahr und nennenswerte Einzahlungen in seinen Renten-Fonds. In der westlichen Welt sind wir in dem Glauben aufgewachsen, dass es nur eine Form eines Unternehmens gibt, nämlich die Firma, die ausschließlich profitorientiert ist und seinen Mitarbeitern nur das absolut notwendige Minimum zahlt. Tatsächlich ist das aber nicht das optimale Modell für eine nachhaltige und zukunftsfähige Ökonomie. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass Mitarbeiter – wenn man sie besser bezahlt und ihnen sogar einen Teil des Unternehmens überträgt – erheblich effizienter arbeiten. Was eigentlich eine Binsenwahrheit ist.“
So sinnvoll Gespräche über Genossenschaftsbanken auch sein mögen: Die Tatsache ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Phase der Bewegung weit weniger aufregend ist als die Besetzung des Zuccotti Parks. Und trotzdem sind einige führende Aktivisten entschlossen, diese Phase endgültig hinter sich zu lassen. „Es wäre leicht, aus der Besetzung des Parks einen Fetisch zu machen“, sagt Brian Bean von „Occupy Chicago“. „Aber ich persönlich habe wenig Interesse, eine Mini-Gesellschaft zu organisieren. Ich möchte die Gesellschaft organisieren.“
Zwei Tage nach dem Marsch zum 1. Mai treffen sich deshalb verschiedene Occupy-Gruppen in den Räumlichkeiten der „United Auto Workers“ in Manhattan, um konkrete Aktionen zu besprechen – jeder Tag mit einem anderen Schwerpunkt. Es ist inhaltlich eine irritierende Gemengelage, die auf der Tagesordnung steht: die Zustände in den überfüllten Gefängnissen, Einwanderungsbeschränkungen, Lebensmittelsicherheit, die Umwelt. (Ein befreundeter Aktivist, der sich vor allem für die Proteste gegen den Irak-Krieg engagiert hatte, erklärte mir, dass der Niedergang einer Bewegung immer daran ablesbar sei, wie viele Schlagworte auf den Plakaten untergebracht werden müssten.)
Als das Treffen mit der Formierung kleinerer Diskussionsrunden fortgesetzt wird, treten prompt allzu bekannte Spannungen auf. In der Gruppe, die ich mir ausgesucht habe, nimmt auch ein Mann teil, der mit seiner Peace-Kette um den Hals und den nackten schmutzigen Füßen fast schon wie die Persiflage eines Demonstranten aussieht. Spontan hege ich die Vermutung, dass es sich um einen Maulwurf aus den Reihen der Polizei handeln könnte, doch alle hier scheinen ihn bestens zu kennen. Er schneidet den anderen Sprechern das Wort ab und macht sinnlose Einwände, die alle Anwesenden nur mit Rollen der Augen quittieren. Nach 30 Minuten sind zwar einige Ideen angedacht worden, doch der eigentliche Konsens besteht darin, dass man das Meeting zu einem späteren Termin fortsetzen müsse.
Anwesend in meiner Gruppe ist allerdings auch Lucas Vasquez, der eines Tages vielleicht einmal die Zukunft von Occupy repräsentieren könnte. Vasquez ist zwar gerade erst 18 Jahre alt, aber so unglaublich talentiert und artikuliert, dass er problemlos in einem Wes-Anderson-Film mitspielen könnte. Sein Engagement begann damit, dass er von seinem Zuhause auf Long Island regelmäßig zum Zuccotti Park kam und seine Eltern – argentinische Einwanderer, die während der dortigen Diktatur radikalisiert wurden – davon überzeugte, jede zweite Nacht im Park übernachten zu dürfen. „,Es ist für die Revolution‘, sagte ich ihnen immer.“
Vasquez bezieht seine Inspiration aus den Arbeiterkollektiven, die in Argentinien nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Ende der Neunziger -jahre entstanden – seien es in kleinen Nachbarschaftsversammlungen, seien es Arbeiter, die in still gelegten Fabriken selbstverwaltete Kooperativen ins Leben riefen und sich für den Austausch der produzierten Waren sogar eine eigene Währung gaben. Vasquez glaubt, dass derartige Modelle auch in den USA eine Zukunft haben könnten. „Die Besetzung des Parks war wichtig, weil der Begriff, öffentlicher Platz‘ dringend einer Neudefinition bedurfte. Doch inzwischen mache ich mir mehr Gedanken, in welche Richtung sich die Bewegung entwickeln sollte. Occupy war zunächst einmal ein symbolischer Akt, doch früher oder später kommt der Punkt, wo der Symbolismus der Realität weichen muss. Wir müssen damit anfangen, alternative Strukturen aufzubauen, wir müssen zu dem Punkt kommen, wo wir sagen:, Wir werden dich ersetzen, Kapital, weil wir unsere eigenen Strukturen aufgebaut haben.'“
Marisa Holmes ist ebenfalls anwesend und versucht sich in die Diskussion einzubringen, erweist sich dabei aber nicht gerade als mäßigender Faktor. Die Aktionen, die heute diskutiert wurden, haben diverse Einwände ausgelöst, da einige Teilnehmer aus eher traditionell linken Gruppierungen kommen – denen Holmes wiederum „autoritäres Denken“ bescheinigt.
Wir setzen uns in den Gemeinschaftsraum, und Marisa schaut so besorgt durch die Reihen, als säße sie in der Höhle des Löwen. „Viele der Leute hier haben anfangs unsere Bewegung belächelt“, sagt sie und spricht leiser. „Sie kamen zu unseren ersten Meetings und gingen wieder, weil sie keine Kontrolle auf uns ausüben konnten. Inzwischen kommen die gleichen Leute wieder zurück und versuchen, auf den fahrenden Zug zu springen.“
„Occupy ist eine Marke geworden“, sagt sie dann. „Ich hatte zunächst angenommen, das sei etwas Positives, weil sie sich – wie ein Internet-Hype – blitzschnell verbreiten kann.“ Sie lächelt, doch ihr Gesichtsausdruck ist eher melancholisch. „Inzwischen macht es mir Sorgen. Weil sich etablierte Gruppen, die größere Ressourcen haben als wir, dieses Phänomen greifen und es für ihre Zwecke benutzen können.“
Demgegenüber hat Shen Tong keine Probleme, weiterhin mit der „Movement Resource Group“ zusammenzuarbeiten. Er hat sogar seine eigene Gruppe „99% Solidarity“ ins Leben gerufen, die unlängst die Bus-Transporte nach Chicago organisierte, wo zum Gipfeltreffen der NATO eine Woche lang protestiert wurde. „99% Solidarity“ hat auch eine Liste mit Forderungen veröffentlicht, auf der alle Occupy-Gruppen dazu aufgefordert worden sind, sich von Gewalt zu distanzieren.
„Das Problem sind nicht die Anarchisten“, sagt er. „Sie sind für einen ehrlichen gesellschaftlichen Dialog unabdingbar. Das Problem sind die dogmatischen Anarchisten, die mit ihrem neuen – wenn auch nicht immer fundierten – Wissen über Phänomene wie Anarchie einfach übers Ziel hinausschießen. Unnötige Hierarchien einzureißen ist ein löbliches Ziel. Doch andererseits ist so etwas wie Struktur nicht minder notwendig. Chomsky – sicher ein Anarchist im positiven Sinne – wird Ihnen sogar erzählen, dass eine Bewegung bis zu einem gewissen Grad ihre Repräsentanten haben muss. Sie brauchen nur zwei und zwei zusammenzählen – es geht einfach nicht anders. Was eine wirklich revolutionäre Bewegung braucht, ist ein großer Schirm. Viele Leute machen sich Sorgen, die Bewegung werde vereinnahmt, doch ich plädiere dafür, dass sich alle an dieser Vereinnahmung beteiligen. Occupy ist eine Idee. Einige Leute behaupten nun:, Das ist Occupy!‘, während andere sagen:, Nein, nein, genau das ist es nicht!‘ Aber das ist ein heilsamer Vorgang. Das Wort, Konspiration‘ kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie ‚zusammen atmen‘. Wir sollten zu dem Punkt kommen, wo wir gemeinsam die gleiche Luft atmen.“
Ein Faktor, in dessen Bedeutung sich alle Beteiligten einig sind, ist die Geduld. „Schau dir doch nur die Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern an“, sagt mir ein 26-jähriger Demonstrant namens Yotam Moram. „Jahrelang hat man selbst prominenten Aktivisten in den Arsch getreten. Nicht auszuschließen, dass Occupy nur ein Sturm im Wasserglas war, aber genauso gut könnte es der Anfang einer sozialen Umwälzung sein. Und sollte das der Fall sein, sind die vergangenen Monate nur ein Klacks. Eine nachhaltige Umwälzung passiert nicht von heute auf morgen. So was kann ein ganzes Leben dauern.“
Aus der Mitte der Gesellschaft
Wolfgang Kraushaar kennt sich aus mit Protestbewegungen. Die globale Dynamik von Occupy hat ihn beeindruckt. Doch nun muss der politische Raum erobert werden
Vor dem Interview erzählt Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, über die rettende Wirkung von Musik. Ernüchtert von den Grabenkämpfen in der Frankfurter Studentenszene Ende der Sechziger, waren für ihn Zappa, Miles Davis oder auch „Beggars Banquet“ ein willkommenes Gegengift zu den verschwurbelten Debatten seiner Generation. Die Wirkung der heutigen Popmusik auf neue Protestkulturen kann er nicht mehr abschätzen. „Da bin ich zu sehr raus“, sagt er.
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Protestkulturen und haben besonders die 68er-Bewegung eingehend analysiert. Wie kam es zu ihrem Buch über Occupy?
Aus Erkenntnisinteresse eines sympathisierend-kritischen Beobachters. Ich wollte die globalen Dimensionen dokumentieren und herausfinden, wo Chancen und Grenzen einer künftigen Mobilisierung auch im politischen Raum liegen.
Wenn wir die Arabellion in Nord-afrika ausklammern, wo sehen sie die Bewegung heute?
In einer schwierigen Situation. Die objektiven Bedingungen der Proteste bestehen weiter oder sind sogar schlechter geworden. Die Anfangsphase im letzten Jahr muss für die Akteure berauschend gewesen sein. Doch nach dem Verlust der zentralen Anlaufstelle im New Yorker Zuccotti-Park und den massiven Polizeiaktionen auch in anderen Städten der USA, ist es nicht gelungen, den Schub in eine Form zu transformieren, in der weiter Druck ausgeübt werden kann. Das ist zweifelsohne ein enormer Rückschlag.
Wie beurteilen sie die Situation in Deutschland, wo man ganz bewusst auf Vordenker und Leit-figuren verzichtet hat?
Zumindest existierte für zwei, drei Wochen mit Wolfram Siener, dem Leiter der Presseabteilung in dem vor der EZB errichteten Camp, eine durchaus prägnante Figur. Doch der wurde nach Talkshow-Auftritten und Zeitungsinterviews abgesägt, mit der Botschaft: Wir wollen keine Führungsfiguren! Ich halte das für einen Fehler. Bei den Grünen hat etwa Petra Kelly glaubwürdig den Zusammenschluss der Öko- mit der Friedensbewegung vermitteln können. Ab einem gewissen Level braucht es symbolisch starke Figuren. Diese können ja intern wieder kritisiert werden. Doch ohne charismatisches Personal funktioniert es nicht. So wurde das Ganze in Deutschland wie ein soziokulturelles Phänomen aufgenommen. Es gab Zustimmungsraten wie noch nie – weder bei der Anti-AKW- noch bei der großen Friedensbewegung in den 1980ern. Anstatt zu spalten hat Occupy die Bevölkerung geeint. Doch der Unmut wurde damit wegdeligiert. Was blieb, war ein eher symbolischer Akt gegen die Finanzpolitik.
Wie beurteilen Sie die Situation innerhalb der Bewegung?
Wenn ein paar Hundert Leute monatelang in einem Camp leben, in Zelten übernachten und dort ihre Diskussionen führen, dann bekommt das schnell den Charakter einer Sekte. Während die Akteure zumeist nur mit sich selbst beschäftigt sind, schwindet zugleich der Außenimpuls. Es ist schön und gut, sich vor der Europäischen Zentralbank zu positionieren. Doch irgendwann muss man einen Adressaten mit Forderungen konfrontieren.
Ist Finanzwirtschaft als Protestthema möglicherweise zu vielschichtig und komplex?
Natürlich hat es Occupy schwieriger als etwa die Anti-AKW-Bewegung, wo es das vergleichsweise simple wie konkrete Ziel „Abschalten“ gab. Bei Occupy existiert keine singuläre Forderung, mit der man in der Öffentlichkeit stehen könnte – außer utopische Parolen, die Wall Street zu besetzen oder Banken zu enteignen. Die Strategie, ganz bewusst auf konkrete Forderungen zu verzichten, ist ins Leere gelaufen.
Bleibt das enorme Mobilisierungspotenzial …
Bei Logistik, Öffentlichkeitsarbeit, Radio oder Websites war man ja bestens organisiert. In den USA gab es eine immense mediale Vernetzung. Ich habe mal den Vorschlag gemacht, nach dem Vorbild von „Live Aid“ 1985 ein Doppelkonzert auf dem Tahrir-Platz in Kairo und im Central Park in New York durchzuführen. Als Würdigung des bereits Erreichten und als materielle Unterstützung der Protagonisten, mit ihren Aktivitäten fortzufahren. The Bangles sollten noch einmal „Walk Like An Egyptian“ spielen, das als „Fight Like An Egyptian“ zum Protestsong in Ägypten umgedichtet worden war.
Wo sehen Sie die Hauptunterschiede dieses „Aufstands der Ausgebildeten“ zu früheren Protestkulturen?
Im Gegensatz zu den 68ern und anderen Bewegungen will Occupy nicht mit dem System brechen. Im Kern ist es eine Protestbewegung aus der Mitte der Gesellschaft, die Angst davor hat, sich auf ihrem angestammten Platz nicht mehr etablieren zu können. Es besteht eine berechtigte Angst, trotz qualifizierter Abschlüsse ausgeschlossen zu bleiben. Gerade in Spanien, wo es dramatisch hohe Jugendarbeitslosenzahlen gibt, stellen die „Empörten“ eine wirkliche Massenbewegung dar. Occupy steht für den Verlust von Mittelschichten als Gravitationspunkt westlicher Gesellschaften. Wenn zugelassen wird, dass zigtausende Menschen fallen gelassen werden, entsteht ein großes Problem. Man verliert nicht nur diese qualifizierten Leute, auch das Gleichgewicht der Gesellschaft erscheint mir gefährdet. Aus Portugal ziehen Tausende nach Brasilien, auch Spanien wird wieder zum Auswandererland.
Haben sie eigentlich eine Verbindung zwischen den Riots in London und der dortigen Protestbewegung festgestellt?
Ja und nein. Großbritannien ist ein Sonderfall. Denn dort hat sich die Klassenspaltung auch im Auseinanderdriften der Protestkulturen niedergeschlagen. Einerseits exis-tiert eine starke britische Studentenbewegung, die aufgrund der hohen Studiengebühren immer wieder neu aufflackert, andererseits gibt es die Riots in den Vororten. Diese jungen Leute, zumeist Kinder aus Einwandererfamilien, sind ausgegrenzt von allem, vom Erwerbsleben, von politischer Teilhabe und den Medien. Das ist ein Erbe der Thatcher-Ära, das auch unter Blairs Labour-Regierung unangetastet blieb.
Sehen sie in Deutschland einen Übergang des Protests in den politischen Raum, etwa zur Piratenpartei?
Das kann ich bislang noch nicht erkennen. Jedenfalls nicht in dem Maße wie das für die frühen Grünen zutraf, als sie sich noch als „Anti-Parteien-Partei“ verstanden.
Stellen sie auf der anderen Seite eine Radikalisierung fest?
Auch das nicht. Frühere Protestbewegungen waren ja maßgeblich von Aussteigern geprägt. Das war mit einer starken Negation von Familie, Beruf, Karriere und normalen Lebensläufen verbunden. Das erscheint mir inzwischen passé. Genauso wie die Gewalterfahrungen im Terrorismus oder die Gruppendynamik in konkurrierenden linken K-Gruppen oder Sekten. Auch der Weg eines Joschka Fischer vom Straßenkämpfer zum Außenminister wird sich sicherlich nicht mehr so wiederholen. Für die Akteure der Occupy-Bewegung oder auch der Piratenpartei scheint die Erfahrung eines Bruchs mit der Gesellschaft nicht mehr zentral zu sein. Gerade die Piraten repräsentieren ja eher Normalos; wenn man Computerfreaks und Netzwerk-Administratoren dazu zählen darf.
Und ein Vorsitzender, der sich um Bundeswehr-Unis kümmert.Es wäre in bisherigen Protestbewegungen oder -parteien unvorstellbar gewesen, dass ein leitender Angestellter aus dem Bundesverteidigungsministerium eine führende Rolle einnimmt. Womit ich andererseits aber nicht behaupten will, dass der Bruch mit der Gesellschaft heute noch die notwendige Voraussetzung für die politische Umsetzung einer Bewegung ist. Das muss sich nicht mehr ausschließen.
Interview: Ralf Niemczyk
„Der Aufstand der Ausgebildeten – Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung“ dokumentiert auf 255 Seiten die Entwicklung der neuen Proteste. Als Politikwissenschaftler und Zeithistoriker hat Wolfgang Kraushaar zahlreiche Bücher über die 68er-Bewegung geschrieben. Er arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Aufruhr am Planschbecken
Konfrontation in Frankfurt: Wer sind die Menschen, die Occupy zu „Blockupy“ machen?
Bevor ihr kleines Dorf geräumt wird, sitzt Annika mit ihrem Freund vor dem gemeinsamen Zelt, dem „tent of love“. Beide machen richtig doll rum, mit Zunge und Fummeln, das ganze Programm. Annika ist 44, Schwedin und arbeitet in einem Reisebüro in der Nähe. Sie verkauft dort Kreuzfahrten. Das scheint ihr ein bisschen peinlich, sie lacht das so verlegen raus. Der Freund ist gerade auf der Suche nach einem Namen. „Snord“ sei eine gute Übergangslösung, wie er findet und streichelt über die Oberschenkel seiner Partnerin. Drei weitere Namen seien dazu noch in der engeren Auswahl. Er komme aus dem östlichen Teil der Milchstraße, zumindest behauptet er das. Vermutlich ist er Spanier, Argentinier oder sowas. Sein Englisch hört sich so an. Seine Pupillen sind winzig. Sein Alter habe er vergessen. Und weil ihm das gefällt, sich mal mit einem Reporter zu unterhalten, schnürt er diesem den Kopf eines Gummihuhns, das er zwischen Büchern, Zeitungen und Schuhen aus dem Zelt fischt, an die Jacke – „aus Sicherheitsgründen“.
Snord jedenfalls wohnt in diesem kleinen Zeltdorf, dem Occupy-Camp vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt. Von irgendwo kommt Musik, so dramatisches Trommel-Sphären-Zeug, vielleicht Enya. Bumm. Bumm. Dröhn-Synthesizer mit Orgel-Pathos-Attacke. Kleine Zelte, wild durcheinander gemischt, wie auf einem Musikfestival, stehen vor dem Stahl- und-Glas-Koloss EZB. Mit Stoff abgehangene Holzbretter dienen als Großraumbüro für die IT-Abteilung des Camps. Direkt unter dem blauen Euro-Zeichen wachsen orange Gerbera in Terrakotta-Töpfen. Einen kleinen Garten auf Europaletten haben die Aktivisten angelegt. „Wir wachsen friedlich“ steht auf einem Schild in einem Basilikumtopf.
Weil es Ende März in Frankfurt zu erheblichen Ausschreitungen während der antikapitalistischen Kundgebung „M31“ kam – ein Polizist landete nach einem Steinwurf auf der Intensivstation, Scheiben des Hotels Frankfurter Hof, von Banken und Geschäften wurden eingeschlagen, Polizisten mit Gülle überschüttet, Autos beschädigt – entschied die Stadt alle Veranstaltungen zu verbieten, die unter dem Label „Blockupy Frankfurt“ angemeldet wurden. Mit Ausnahme der Abschlussdemonstration am Samstag.
Für das Wochenende rufen Occupy Frankfurt, die Interventionistische Linke, die Partei „Die Linke“, Attac und die Antifa Frankfurt gemeinsam auf. Über 17 Veranstaltungen, darunter ein Rave, Lesungen und ein Konzert von Konstantin Wecker wurden im Vorfeld angemeldet, mit dem Ziel, den Zugang zur EZB zu blockieren. Deswegen Blockupy. Das Occupy-Camp soll für die Dauer der Aktionstage geräumt werden. Polizei und Behörden rechnen mit 2.000 gewaltbereiten Demonstranten.
Ganz unbegründet schien die Sorge nicht. An einer Infoveranstaltung, die acht Tage zuvor in der FU Berlin stattfand, konnten Interessierte an einem Blockadetraining teilnehmen. Zwischen den Villen im gediegenen Stadtteil Dahlem verkaufen Studenten in Slime-Shirts im Hörsaal 1b Karten für die Fahrt nach Frankfurt – Hin- und Rückfahrt für 40E. Auf einer großen Leinwand, die normalerweise Lehrstoff zeigt, steht „Join The Revolution“. Einer der Redner gibt zu verstehen, dass „wenn ein bisschen was zu Bruch geht, ist das ja nicht so schlimm“. 18 Hände klopfen auf die Tische, größtenteils Jungs-Hände, von Typen mit halbfertigen Bärten, die Zigaretten drehen.
In Frankfurt bekommt man zwischen jungen Kiffern und älteren Herrschaften in leuchtfarbigen Funktionsjacken nur wenig davon mit. Die am gefährlichsten ausschauende Figur ist eine junge Punkerin, die einen Kapuzen-Pullover mit der Aufschrift „Wixen gegen Nazis“ trägt. Auf dem Stoff ist ein ejakulierender Penis zu sehen, der mit dem Ejakulat ein Hakenkreuz zersetzt. Sie läuft barfuß neben den mit Farbe gefüllten Planschbecken herum, in denen Camper sitzen.
Um das begrünte Areal vor der EZB sind Absperrgitter aufgebaut. Schon seit den frühen Morgenstunden sind die Bereitschaftspolizisten bereit, das Camp zu räumen. Sie marschieren artig auf und ab, rauchen, gucken Löcher in die Luft. Es ist der 16. Mai, 9:30 Uhr, einen Tag vor dem offiziellen Beginn von „Blockupy Frankfurt“.
Milchstraßenbürger Snord kichert seiner Annika noch immer in den Arm, während Thomas durch das Camp läuft und Filmaufnahmen macht. Auch Thomas ist ein Aktivist, der nur seinen Vornamen preisgibt. Klingt immerhin echter als Snord. Als Nachnamen wählt er „Occupy“. Früher war er mal „Thomas Infostand“, weil er im Camp für Kommunikation sorgte. Jetzt ist der 52-Jährige der Sprecher des Blockupy-Bündnisses, da gibt’s keinen Infostand. Thomas sieht aus wie Bruno Ganz in „Der Untergang“, nur kräftiger und der Bart ist breiter. Um den Mund herum hat er diesen Bernhardiner-Ausdruck, den viele ältere Männer kriegen. Wenn man eines der Pressetelefone des Bündnisses anruft, meldet sich Thomas mit kräftiger Stimme. Gerade habe er aber keine Zeit. Vielleicht später, wenns ruhiger ist, sagt er und verschwindet wieder. Seine orangefarbene Jacke wird man in den nächsten Tagen überall blitzen sehen.
Snords Freundin Annika kommt seit Dezember 2011 ins Camp. Immer nach der Arbeit zur U-Bahn-Station Willy-Brand-Platz. Knutschen gegen den Kapitalismus. Mit der Kochgruppe für Essen sorgen. Natürlich sind die Zutaten organisch angebaut. Sie stammen von alternativen Biobauern, die Occupy unterstützen.
Gegen 9:50 Uhr kommt dann der Anpfiff zur Räumung. In der Mitte des Camps, auf dem Gehweg, sitzen Punks neben grauhaarigen Frauen und Bartträgern mit Rastafari-Mützen. Sie haken sich friedlich ein, trommeln oder tröten. Dazu wiederholen sie immer wieder ihre Lieblingsmantras „Haut ab! Haut ab!“ und „Wir sind friedlich, was seid ihr?!“ Die Bereitschaftspolizisten beginnen damit, die am harmlosesten aussehenden Menschen höflich aufzufordern, den Platz zu verlassen. Ein paar stehen einfach auf. Dann werden die ersten weggetragen. Die Punkerin im „Wix“-Shirt steht inzwischen in einem der Planschbecken. Zusammen mit einem anderen Punk hat sie sich in einen aufblasbaren Gummiring gezwängt und sie überschütten sich mit Farbe. Grün und Weiß fließt über ihre Kleidung und auch die Haare. Weiße Michelinmänner – Polizisten in Spezialanzügen, um die Uniformen zu schonen, tragen auch sie weg.
Eineinhalb Stunden später ist das Spektakel vorbei. Irgendwie scheinen beide Seiten ganz zufrieden. Bernhard Groß vom 6. Polizeirevier schäkert mit einigen der Occupy-Leute herum. Eine rote Rose steckt an seiner Weste. Farbspritzer zieren die Flügel seiner breiten Nase. Gerne erzählt er nochmal, dass im Großen und Ganzen alles gut verlaufen sei. Dass man das aber auch so vereinbart hätte. Also den Demonstranten eine Bühne geben, und dafür würden sie sich auch friedlich wegtragen lassen.
Kein Mensch ist mehr im Camp. Nur die Polizisten, die einen wunderschönen Kreis um das Gelände zirkeln, stehen hinter den Gittern. Im Inneren liegen Ikea-Lattenroste, Taschenkalender, eine zerfledderte Taz und Lidl-Zigaretten. Einer der Camper hat sogar eine Ausgabe des Männer- und Fleischmagazins „Beef“ zurückgelassen. Kein Enya mehr, kein Tröten, keine Mantras. Das Wetter ist auch nicht so toll, windig, bewölkt. Aber es geht ja weiter. Trotz der Verbote will Blockupy an den Demonstrationen festhalten. Das bestätigt auch Thomas noch mal am Telefon.
Thomas sieht in Occupy die erste Bewegung seit langem, „die die Möglichkeit hat, etwas global an den Verhältnissen zu ändern“. Die Zelter mobilisieren alte Kämpfer wie ihn, die gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert haben, aber auch Globalisierungsgegner, die Ende der Neunziger aktiv wurden, sind dabei. Dazwischen stehen die ganz jungen, die gerade ihren Schulabschluss gemacht und Angst vor einer ungewissen Zukunft mit Staatspleiten und Arbeitslosigkeit haben und deswegen Banken und Regierung weniger Macht zubilligen wollen.
Früher hing Thomas in den besetzten Häusern der Hafenstraße in Hamburg ab, er will einmal die Commerzbank verklagt haben, Geschäftsführer einer Disco für asiatische Seemänner gewesen sein. Er sei in Norddeutschland aufgewachsen, der Vater stamme aus einer Konditorfamilie, die Mutter aus einem Gärtnerhaushalt, beide mit 100 Jahren Betriebsgeschichte. Um zu verstehen, wie die oberen Zehntausend manipulieren, habe auch er mit Kapitalanlagen gehandelt. Mit welchen will er nicht genau sagen. Aber er habe mit Hermann Bahlsen und Dr. Otto telefonier. Er will zweimal auf der Tagesordnung der VW-Vorstandssitzung gestanden haben wegen seiner Finanzgeschäfte. Er bezahle alles in bar, habe kein Konto. Zur Zeit spielt er „Far Cry 2“ am Computer, das ist so ein Ballerspiel, bei dem man aus der Ich-Perspektive auf der Jagd nach einem kriminellen Waffenhändler in Ostafrika ist. Im Übrigen sei er Privatier, und habe im Leben nicht länger als zwei Monate des Geldes wegen arbeiten müssen. Irgendwie will man das glauben, weil es eine Super-Geschichte wäre. Aber irgendwie auch nicht, weil es seltsam klingt. Wie ein Münchhausen oder Eulenspiegel, den es freut, dass ihm alle seine Story abkaufen.
Während wir sprechen, klingelt andauernd sein Telefon. „Russia Today“ sei dran, sagt er stolz. „Jess. Jess. Eim in än Interwjew“, ruft er so laut, dass ganz Frankfurt es hören kann. „Call me later.“ Wo waren wir? Ach ja, Thomas erzählt wieder von den oberen Zehntausend und wie er es geschafft hat, den damaligen Bundespostminister Schwarz-Schilling dazu zu bringen, einem Freund einen Blumenstrauß zu schicken. „Ich komm‘ an jeder Chefsekretärin vorbei“, er haut auf den Tisch wie ein Wikinger-Gott, der beim Anstoßen zwei Liter Met verschüttet und lacht auch so ein Wikinger-Lachen aus der ganzen Fülle seines Bauches. „HAHAHAHAHAHA“. Dann steigt er auf sein Fahrrad und fährt in Richtung DGB-Haus, mal eben kurz die Lage checken. In einer Vokü gibt es Suppe. Spanische Intellektuelle unterhalten sich über die Krise.
Bei der Abschlussdemo am Samstag stoßen dann Antikapitalistische Tierrechtler, Stuttgart-21-Gegner, und Abschiebungskritiker dazu. Bevor der angemeldete Gaudiwurm loszieht, performt ein Ensemble, das auf der Attac-Homepage als Kölner Agitprop-Band Udo und die Nanas angekündigt ist. Frauen und Männer zwischen 30 und 50 singen in weißen Togas „Griechische Pein“, eine umgedichtete Version von Jürgens Gastarbeiter-Gassenhauer. „Es war schon dunkel, als die Troika die Weisung gab/ Die Griechenschulden zahlt das Volk, das davon nichts gehabt/ und nicht der Bonze, der sich dran bereichert hat“, ab in den Refrain und alle: „Griechiche Pein“, hey!
Dahinter kommt ein Zug der Antifa und spielt laute Ballermusik. Egotronics „Raven gegen Deutschland“. Das Lied ist schlimmer Elektro-Schrott, linke Atzenmusik, die sich gegen „Faschisten und Deutschland“ wendet. Insgesamt laufen um die 25.000 Menschen durch die Straßen von Frankfurt. Aber irgendwie ist das mehr Karneval als Demonstration. Bei Attac spielen sie die Sportfreunde Stiller, „Wie lange sollen wir noch warten“. Bei der Antifa ist man bei Rap angekommen. „Schlampen und Schwuchteln vereinigen sich“, wird da ganz schön aggressiv von einer Frauenstimme vorgetragen.
Bei all den verbotenen Kundgebungen, die dann doch stattgefunden haben, weil sich keiner an Verbote hielt, am Paulsplatz oder auf dem Römer, entfernten sich die Teilnehmer von der reinen Kapitalismuskritik. Ursprünglich wollte man gegen das Spardiktat der Troika, dem Dreigestirn aus IWF, EZB und der EU-Kommission protestieren. Aber darum geht es seit dem ersten Tag gar nicht mehr. Das Blockupy-Bündnis ist Projektionsfläche einer neuen Bürgerrechtsbewegung geworden. Für Versammlungsfreiheit, für Demonstrationsfreiheit. Vielleicht ist es das Beste, was Blockupy daraus machen konnte.