Idylle und Teamgeist haben Radiohead vor dem Wahnsinn gerettet
Mit Kunstsinn und schweren Inhalten haben Radiohead viele Hörer erschreckt, viele Avantgardisten begeistert, überraschenderweise sogar viele Platten erkauft. Thom Yorke und seinen Oxforder Schulfreunden war allerdings klar, dass sie den Psychoterror der "Kid A"-Sessions kein zweites Mal durchstehen würden. "Hail To The Thief" haben sie in nur acht Wochen gemacht, zum Großteil im Landhäuschen. Schwer klingt ihre neue Platte trotzdem.
kurz die schärfsten Facts zum neuen Radiohead-Album „Hail To The Thief“: Der Song „Myxomatosis“ ist nach einer bösen Kaninchenkrankheit benannt. Thom Yorke ist in Wirklichkeit viel kleiner, als er auf Fotos aussieht. Die Mutter von Gitarrist Ed O’Brien hat am selben Tag Geburtstag wie der große Mönchengladbacher Fußballer Rainer Bonhof (am 29. März).
Ach, es wäre zum Händeklatschen schön, wenn man zur Abwechslung solche Radiohead-Geschichten erzählen könnte. Wenn man nicht schon wüsste, bevor man einen einzigen Ton von „Hail Tb The Thief gehört hat, dass man sich wieder in die Hölle der Selbstzerfleischung, des nriter’s block, der bodenlosen politischen Wut und des wochenlangen Ringens um die richtige Lied-Reihenfolge hinabbegeben muss, um die Band andeutungsweise zu verstehen. Allerdings, bei der Rezension eines 700-seitigen Peter-Handke-Buches oder einer Martin-Kippenberger-Ausstellung würde man auch nicht unbedingt anmerken, dass die Künstler lieber geriffelte als gerade Pommes essen oder heimlich Badekappen sammeln – und in der Hochkultur, wo es wenig zu lachen gibt, haben Radiohead sich ja selbstbewusst platziert, als sie der komplexen Platte „OK Computer“ die komplizierten Platten „Kid A“ und „Amtiesiac“ folgen ließen.Jetzt stehen sie da, was soll man tun? Das Avantgarde-Magazin „The Wire“ ersparte sich allerdings nicht eine umständliche und rührende Rechtfertigung für seine Radiohead-Titelstory im Juli 2001. Man räumte ein, dass diese Band allein mehr Platten verkauft habe als alle anderen Künstler in der betreffenden Heft-Ausgabe zusammen.
Dass Radiohead so ernst genommen werden wollen, dass man ihren Platten nicht mehr gerecht werden konnte ohne schmerzhaftes Immer-wieder-Hören und lange Jazz-Elektronik-Verweislisten (meistens mit Charlie Mingus, Boards Of Canada, Can, Aphex Twin), bei denen viele Kommentatoren an die peinlichen Ränder ihres Wissens stießen – das hatte in den drei Jahren seit „KidA“ aber auch den gegenteiligen Effekt. Wer sich von der Musik zu verwirrt fühlte, drückte sich ums Urteil, indem er die Band pauschal als verkopft oder überambitioniert verspottete. Radiohead hätten schlicht „Angst, ihre wahren Gefühle zu zeigen“, schrieb der „New Musical Express“ damals, und Nick Hornby entblödete sich in seiner „New Yorker“-Kolumne nicht, „Kid A“ einen beschränkten Nutzwert zuzuschreiben, weil es berufstätigen Eltern doch nicht zuzumuten sei, zum Feierabend so etwas zu hören. Bei der neuen Platte wird das wieder so sein, viele werden sich mit einem Aufschrei ans Gehirn fassen und die Band dafür haftbar machen, dass die Hörer ihr zuviel Respekt entgegenbringen. Dabei enthält „HaiY 7o Tfte Thief“ wie die Platten davor gute und langweilige, eigenartige und ganz normale Stücke. Um es noch komplizierter zu machen, sind einige der eigenartigen besser gelungen als die normalen, auch umgekehrt. Der experimentelle Ansatz ist zu einem sehr charakteristischen Stil getrocknet, und natürlich kann man auch dieses Jahr Radiohead interviewen, ohne dass sie einem die Geheimnisse ihre Platte erklären würden.
Wir sprechen nur mit Gitarrist Ed O’Brien, Bassist Colin Greenwood und Schlagzeuger Phil Selway. Musikdirektor Jonny Greenwood wurde kurzfristig von der Arbeit zurück ins Mastering-Studio gelockt, Thom Yorke sitzt im Zimmer nebenan und gibt nur die Interviews, aus denen Titelstorys gemacht werden. Vielleicht ist das gut so. Dem „NME“ (erster Titel der Saison!) erzählten Yorke und der wichtigere der Greenwood-Brüder viel Unbrauchbares über inspirierende Stimmen aus dem Dunkel und aus der Luft gegriffene politische Ambitionen. O’Brien, der andere Greenwood und Selway sind der eher handwerklich orientierte Teil der Gruppe – die drei Mitglieder, die an der musikalischen Kunstwende durch „Kid A“ am meisten zu knabbern und zu zweifeln hatten. „Phil, Colin und ich haben viel durchgemacht“, hat Ed O’Brien dem großen Journalisten Nick Kent gebeichtet. „Wir fragten uns ständig: Was können wir zu dieser Musik überhaupt noch beitragen?“
Sie sind schlau, benützen in der Tat viele Fremdwörter (vor allem Selway) und weichen allen Fangfragen diplomatisch aus. „Ob die Arbeit mit Thom dieses Mal leichter war? Ach, wir können alle manchmal sehr schwierige Menschen sein“, windet sich Phil Selway. Und O Brien: „Es wäre unfair, Thom als besonders problematisch darzustellen. Er wurde auch oft durch Misere Launen runtergezogen.“
Die monatelange, irre und mürbe machende Arbeit an“Kid A“(2000) und“/*mnesiac“ (2001 – das Material für beide Platten stammt aus derselben Aufnahme-Phase, deshalb sprechen O‘ Brien und Selway die Titel wie ein einziges Wort aus: Kidamnesiac) wurde in vielen Interviews als Geisterbahnfahrt beschrieben, in deren Verlauf Thom Yorke oft schreiend die Fassung verloren und das Tonband aus der Maschine gezerrt habe. Wie im Waldorf-Kindergarten muss es bei den Sessions mit Produzent Nigel Godrich zugegangen sein, die Band teilte sich in Arbeitsgruppen auf, werkelte an 12 Songs gleichzeitig, an „Knives Out“ angeblich ein ganzes Jahr lang. Die elektronischen Versuche machten einige Instrumentalisten überflüssig, und Ed O’Brien bestätigt: „Klar hat jeder mal mit dem Gedanken gespielt, auszusteigen. Das gehört dazu, oder? In den vergangenen fünf Jahren haben alle gemerkt, dass es nicht nur Spaß macht, bei Radiohead zu sein. Aber der Gedanke wäre einem auch gekommen, wenn man bei jedem Track mitgespielt hätte.“ Heute ist es das Triumphgefühl, die schwere Prüfung gemeinsam bestanden zu haben, das die Band zusammenhält.
Denn wenn sich keiner umbringt und die Plattenfirma mitmacht, die „Kid A“ auch in den USA auf Nummer eins sah, kommt der neue Morgen immer und ganz sicher. „Hail To The Thief“ aufzunehmen hat nur acht Wochen netto gedauert, mickrige acht Wochen. Aber „Hail To The Thiefklingc trotzdem so schwierig wie die Platten davor. Man braucht nicht lange, um schwierig zu klingen, das ist schon mal eine Erkenntnis. Und die Musiker geben unumwunden zu, dass es dieses Mal doch irgendwie Spaß gemacht hat.
Was Radiohead in ihren Ferien gemacht haben: Als von November 2001 bis April 2002 nichts los war, räumten sie ihr Studio in der Countryside von Oxfbrdshire endlich richtig auf. Den Namen des Dorfes verraten sie nicht (kein Problem für Stalker, er wurde schon oft gedruckt), dort hat das Management vor fünf Jahren eine Scheune aus dem 16. Jahrhundert gekauft und als Hauptquartier umbauen lassen. „Vor den Aufnahmen zu Kidamnesiac waren wir fest davon ausgegangen, dass wir dort unser eigenes Reich haben würden“, erzählt Phil Selway, „aber wie es halt ist, die Renovierung verzögerte sich um neun Monate. Als wir endlich dort waren, hat sich der gewünschte Effekt nicht eingestellt. Wir fühlten uns nicht so wohl wie erwartet.“ Um das zu ändern, ließ Ed O’Brien einen Tontechniker kommen und die Räume inspizieren, es wurde nachgerüstet. Jetzt vergleicht O’Brien das Häuschen mit Kraftwerks „Kling Klang“-Studios, „weil es unser Fluchtpunkt ist Zum Proben, zum Aufnehmen, zum Erholen.“ Wenn man andere Künsder ihres Kalibers fragt, ob sie einen Proberaum haben wie jede anständige Band, bekommt man schrofF-schrilles Gelächter. Die drei Musiker von Radiohead behaupten aber, dass die Entdeckung des richtigen Häuschens ein Grund dafür ist, dass es ihnen so unschlagbar gut geht.
Warum Colin Greenwood hier bisher nichts sagen durfte? Leider ist er an diesem Nachmittag ein eher nerviger Interviewpartner, der vor allem Witze macht und die anderen von der schieren Ernsthaftigkeit des tonnenschweren Radiohead-Diskurses ablenkt. Er sagt nachher schon noch etwas. Etwas Lustiges.
Meanwhile, back in Oxfordshire. „Es hat für mich einen gewaltigen Unterschied gemacht, dass wir nun ein Zuhause hatten“, sagt Selway, und man sieht an seinen Stirnfalten, dass er es auch meint. „Der Song ‚Go To Sleep‘ zum Beispiel war schwer zu arrangieren. Wir haben ihn immer wieder und wieder gespielt, bis es plötzlich gefunkt hat Das waren genau die Arbeitsbedingungen, die wir uns immer gewünscht haben. Ein tolles Aufnahmestudio an einem Ort zu haben, an dem man sich entspannt fühlt wie im eigenen Haus. Wir haben so schnell und konzentriert gearbeitet wie lange nicht mehr.“ Vor fünf Jahren bei „OK Computer“ sei es ähnlich reibungslos gelaufen. Ed O’Brien findet sogar, es seien die besten Sessions in der Geschichte der Band überhaupt gewesen.
Ein anderer entscheidender Unterschied war, dass Radiohead einen schlimmen Denkfehler nicht wiederholten, der ihnen bei „Kid A“ und ^4mnesiac“ unterlaufen war. Es gab damals keine fertigen Songs, als die Aufnahmen begannen. Bei den Platten davor hatten die Bandmitglieder immerhin Textblätter von Ybrke bekommen, an denen sie sich beim Verfertigen der Arrangements orientieren konnten, für Kidamnesiac wurde alles bei laufender Bandmaschine erfunden. Eine gute Voraussetzung dafür, neue musikalische Gebiete zu erreichen, aber fatal für Stimmung und Selbstvertrauen der Musiker.
„Hail To The Thief war wiederum komplett vorkomponiert, Yorke hatte seine Demos auf CD gebrannt und verteilt. „Myxomatosis“ war hier schon so weit ausgearbeitet, dass man für die Platte das Original-Drumloop von Yorkes Testversion übernahm. Die charakteristische, schwere Basslinie allerdings (gleichzeitig von Synthesizer, Bass und Gitarre gespielt) kam bei den Proben dazu, weil die Band schneller als sonst feststellen konnte, dass da noch etwas fehlte. Von Mai bis Mitte Juli 2002 wurde ausschließlich im Landhaus geprobt, aber kein Ton aufgenommen. Dann gingen Radiohead auf eine kleine Tournee durch Spanien und Portugal, gekrönt vom Headliner-Auftritt beim Benicassim-Festival. Als sie im September mit Nigel Godrich in die Ocean Way Studios in Los Angeles gingen, um mit „Hail To The Thief“ anzufangen, konnten sie ihr Zeug im Schlaf.
Zwei Wochen L.A., danach sechs Wochen im gemachten Nest in Oxfordshire. Für Radiohead-Verhältnisse die Länge einer B-Seiten-Session. Kurz vor Weihnachten war die Arbeit offenbar so launig, dass man die Fans mit einer nächtlichen Internet-LiveÜbertragung erheiterte, bei der nicht näher identifizierte Mitglieder zeitweise Masken von George W. Bush und Saddam Hussein trugen. „Das kollektive Selbstvertrauen war so intensiv spürbar, wie ich es noch nie erlebt habe“, erinnert sich O’Brien. „Natürlich haben wir manche Lieder bis zu 15 Mal wiederholt, weil wir dachten, dass es bei den Proben besser geklungen hatte. Aber die Stimmung war so: Wir schaffen das, kein Zweifel. Nach vier oder fünf Mal haben wir halt eine Pause gemacht, ganz entspannt.“ Vor allem eine Frage von Autosuggestion, meint Selway: „Wenn man daran glaubt, dass die anderen einen machen und rumprobieren lassen und einen nicht unter Druck setzen, geht alles viel schneller. Es ist wieder so, dass jeder von uns das musikalische Territorium des anderen respektiert.“
Was sie wohl gehört haben in der Zeit? Eine Vermutung: Boards Of Canada. Can. Aphex Twin. Etwas weniger Mingus vielleicht Und vor allem: Radiohead. Das Elegische, Gruselige, Ätherische, Blubbernde, zerhackt Rockende auf „Hail To The Thief (ein Zitat aus dem Slogan „Hail to the thief, our Commander in chief‘, mit dem amerikanische Demonstranten die Einsetzung George W. Bushs als Präsident kommentierten) erinnert so unmittelbar an Stücke aus anderen Radiohead-Stücken – und so, wie sie erzählen, kriegt man den Eindruck, die Herstellung dieser Platte habe zuförderst den Zweck gehabt, die verzettelte Band Radiohead wieder ganz gesund zu machen und in der wirklichen Welt zu verankern. Was nicht heißt, dass man Spaß und Erleichterung auch hört. „Es gibt einige wunderbar komische und alberne Momente auf dem Album!“ jubelt Ed O’Brien. Echt? Das Vampir-Lied, die Sache mit den gehäuteten Katzen, die Kannibalismus-Angelegenheit?
„Wir können uns in Zukunft ja als Clowns verkleiden und rote Nasen tragen“, sagt Colin Greenwood, „dann merkst du’s vielleicht“
Radiohead beklagen sich nicht darüber, dass die Leute sie zu ernst nehmen. Das wäre auch blöd, denn sie sind selbst schuld daran.