Idris Elba – Keine Absolution
Der Horror in London: Idris Elba büßt als "Luther" für die Sünden der Menschen.
London ist in dieser Serie eine Stadt der Abrisshalden, der leeren Straßen und dunklen Ecken, der Schrottplätze, Gammelwohnungen und Industrieruinen; die Wohnungen liegen über Wäschereien oder Staubsaugergeschäften oder sind hässliche, beinahe unmöblierte Lofts in Hochhäusern. Das London von „Luther“ sieht aus, als wären die Krawalle permanent geworden und die Bauten seit der Serie „Die Profis“ aus den 70er-Jahren unverändert, bloß vollkommen verlottert. Man wundert sich, dass in der Totalen zu Beginn tatsächlich die Sonne aufgeht über dem Moloch, einem menschenfeindlichen Revier, in dem Autos fahren, für die es nicht mal mehr eine Abwrackprämie gibt.
Am Sonntagabend im Zweiten war man die betulichen Inspektoren Barnaby und Lynley gewohnt, die im England von Miss Marple ermittelten: Der Mörder war der Gärtner oder ein alter Knabe aus dem Herrenclub, die Polizisten fuhren gemächlich übers Land oder schauten sich in Internaten und auf Gutshöfen um. Man hatte Zeit, man wahrte Distanz, man sprach distinguiert. Helen Mirren als überforderte Kommissarin in „Heißer Verdacht“ dagegen verstörte das Publikum: Es ging um Flüchtlinge aus Serbien, Serienmörder von nebenan, Vergewaltiger aus der Unterschicht und den Zwist und das Zuständigkeitsgerangel innerhalb der Behörde.
Mirren spielte eine realistische Figur – Idris Elba als John Luther ist dagegen ein Polizist aus dem Reich des Films, eine Ausgeburt der einerseits immer verfeinerteren, andererseits immer brutaleren Fantasie der Autoren. Luther ist ein „Black Gladiator“, er ist Shaft, er ist ein Psychologe, ein Berserker, ein verzweifelter Schmerzensmann. Schon zu Beginn sehen wir ihn als Problembären, als einen Wüterich, der sich nicht beherrschen kann und einen Delinquenten in den Tod stürzen lässt; beinahe wird Luther suspendiert. Die Büros der Polizei sind offene Räume, durch die ungehindert irgendwelche Leute latschen, die Vorgesetzten sitzen in Verschlägen – auch Mörder könnten hier unauffällig einen Kaffee trinken oder die Fahndung verfolgen. Luther kämpft um seine Geliebte Zoe, die seine Temperamentsausbrüche und Unbotmäßigkeiten nicht ertragen kann; sie hat schon einen anderen Freund.
Dann kommt Luther zu einem Tatort, an dem ein Ehepaar bestalialisch ermordet wurde; bald findet er heraus, dass die erwachsene Tochter ihre Eltern getötet hat. Die dämonische Alice Morgan (Ruth Wilson) will entlarvt werden, sie verliebt sich in Luther, stellt ihm nach und hintertreibt sein Bemühen um Zoe. Die Passagen mit Alice erinnern zunächst an einen Horrorfilm, Luther wird im Liebeswahn beinahe verrückt, bevor in einem wahrhaft unerträglichen Entführungsfall nicht nur die Geisel stirbt, sondern auch Zoe. Der Verdacht fällt auf Luther, der fortan als Vogelfreier durch die Straßen läuft, unterstützt von der paranoiden und hochgescheiten Alice, seiner treuen Komplizin. Am Ende bietet sie dem maladen Polizisten die gemeinsame Flucht an.
Die BBC-Serie, die vom ZDF auf fünf lange Folgen zurechtgeschnitten wurde, verbindet Elemente von „The Wire“ und „Fitz“, „Heißer Verdacht“ und „Criminal Minds“: Sie ist schmuddelig. Sie ist brutal. Sie arbeitet mit herbeigezauberter Küchenpsychologie. Sie spielt mit dem Unglück ihres Helden. Sie nimmt immer unwahrscheinlichere Wendungen zum Schlimmeren. Mit einem Wort: „Luther“ ist die aufregendste unter den großartigen Krimi-Serien, wobei „Krimi“ natürlich ein Euphemismus ist. Die vollkommen unbritische Figur John Luther vereint Züge von Wesley Snipes, Denzel Washington und Samuel L. Jackson – Idris Elba stapft in seinem feinen Mantel breitbeinig durch die irdische Hölle, ein Nagel wird ihm durch die Hand und in einen Tisch getrieben, er wird geschlagen und verhöhnt; sein Adlatus wird mit einem Schweißbrenner gefoltert; einer Frau wird ein Ohr abgeschnitten, bevor ihr Körper aufgeschnitten wird: „Luther“ geht über die Grenzen des Zumutbaren hinaus, und manchmal muss man beinahe vor Anstrengung, Zorn und Ohnmacht weinen.
Dass eine Gruppe von Kindern nicht mit Abgasen erstickt wird, ist zwar eine Erleichterung, aber nicht die Erlösung: John Luther nimmt sich schon wieder eines Opfers an, als müsste er das Gewicht der Welt tragen. In seiner Wohnung ist sogar der Wasserkocher vergammelt; Luther legt sich wie ein Embryo auf das Sofa. Wenn er aufwacht, wird er wieder die Sünden der Menschen ergründen – und seine eigene Schuld.