„Ich mag den Moment des Nicht-Verstehens“: Interview mit Sandra Hüller

Sandra Hüller ist eine der interessantesten Schauspielerinnen ihrer Generation. Sie brilliert im Kino genauso wie vor allem auf der Theaterbühne. Im Interview gibt sie sich nachdenklich und zugleich konzentriert.

Wer Billboard kennenlernen will, beginnt mit Beatles‘ „Abbey Road“, der Sixtinischen Kapelle des Pop und landet später erst bei The Monks und wer 2014 ins Theater (neu) einsteigt, geht zu René Pollesch, der in den Münchner Kammerspielen inszeniert, direkt gegenüber des euphemistisch „nicht ganz billig“ im Netz apostrophierten Ralph-Lauren-Shops in der edlen Maximilianstraße.

Dort wird „Gasoline Bill“ gegeben, mit der alles überstrahlenden, mit jedem guten Preis bedachten Sandra Hüller in einer der Hauptrollen. Die Besprechungen waren durchweg positiv. Kaum ein Wunder, bei dieser Glanzbesetzung mit Dauerwellenmähne, Lockenwicklerlocken und so weiter.

Sandra Hüller (36) ist 2013 zur Schauspielerin des Jahres gewählt worden – zehn Jahre nachdem sie bereits Nachwuchsschauspielerin des Jahres war. Dazwischen gab es unzählbar viele weitere Auszeichnungen: vom Silbernen Bären 2006 bis dann ganz aktuell in diesem Jahr den Deutschen Filmpreis für die beste Nebenrolle. In dem aktuellen René-Pollesch-Stück „Gasoline Bill“ spielt Sandra Hüller eine der Hauptrollen.

Drinnen Kapitalismuskritik, draußen Käseteller und Aperol, die Theatergastronomie der Kammerspiele besteht aus Schäumchen und Sößchen und Fingerfood. Eigentlich sollte hier das Perlende in 80er-Jahre-Flöten gereicht werden, wie in „Kir Royal“, so fühlt man sich dann doch – zum Interview nach dem Stück gibt es aber zwischen Kantine und Bühne ganz normales Bier, Zigaretten, wir steigen ein mit einer scheuen Frage, die lediglich vom Theater Unbedarften wie mir kommen kann, dieses Klassische „Warum“?

Ich hörte in den vergangenen Wochen in verschiedenen Theatern immer wieder den Satz, „heute lief es gut“, auch von Dir gerade in der Kantine. Was ist damit eigentlich gemeint?

Ich glaube, wir haben heute die Leute erreicht. Das ist nicht immer so.

Aber passiert nicht jeden Abend das Gleiche?

Wenn es einfach nachgesagt ist, so wie man es vor zwei Tagen schon gemacht hat, dann könnte man eigentlich auch nach Hause gehen.

Heute haben auf jeden Fall alle gelacht.

Es geht um die Art des Lachens. Es gibt ja höhnisches Lachen. Es gibt erkennendes Lachen. Ich glaube, dass sie in dem Moment verstanden haben, was der Punkt ist.

Werden wir Zuschauer eigentlich von Euch Schauspielern gesehen?

Wenn man will, sieht man’s. Man kann’s aber vermeiden. Manchmal guck ich hin. Also, in dem Fall schon, bei Pollesch. Weil mir da nichts passieren kann. Es gibt andere Sachen, da würde ich das nicht machen.

Alles fängt mit dieser ellenlangen Diskussion an. Ihr raucht und debattiert, werft teilweise sehr ambitionierte, wie abgelesene Sätze ein. Das wirkt derart ironisch, da muss man lachen. Ist das überhaupt auch: lustig gemeint?

Wir versuchen schon, uns diesen Dingen ernsthaft zu nähern. Der Begriff Ironie tauchte in der Probe mit René nie auf. Natürlich könnten wir das alles auch noch extrem überhöhen und uns andere Stimmen zu legen und so. Um Leute zu spielen, die diskutieren. Aber das machen wir nicht. Wir diskutieren tatsächlich.

Gehst Du intellektuell, von der Theorie aus an so einen Text?

Also angefangen bei der Schauspieltheorie: mit der habe ich mich gar nicht beschäftigt, auch im Studium nicht. Und speziell bei „Gasoline Bill“ geht es um Theorien von Jacques Lacan und Slavoj Žižek. Das würde ich gern lesen. Aber meine Tochter ist dreieinhalb. Mir fehlt die Zeit. Ich bin einfach nicht belesen. Das ist halt so.

Du redest über Lacan und Žižek auf der Bühne, aber hast es nur auswendig gelernt?

Natürlich arbeite ich mich da da ein und versuche herauszufinden, warum wir zum Beispiel permanent die Leute kleiner machen und degradieren, indem wir in ihnen uns selber suchen. Ich denke über die Thesen nach, ich eigne sie mir an.

Es gibt mehr Theorien als Figurenzeichnung, oder?

Es gibt keinen Charakter, dem man sich annähern müsste, sondern eher den Gedankengängen. Die muss man so halbwegs nachvollziehen. Das gelingt mir auch nicht immer. Das ist ja sehr sprunghaft teilweise. Das ist im Film auch anders als am Theater, teilweise.

Wo liegen diese Unterschiede?

Es kommt auf den Regisseur an, was der für ein Theaterverständnis hat. Es gibt Leute, die wollen komplette Figuren sehen. Es gibt Leute, die wollen psychologische Figuren sehen, von vorne bis hinten durcherzählt. Die wollen eben, dass das logisch ist, dass man es nachvollziehen kann. Ich vergleiche das immer so – und ich meine das gar nicht abwertend – mit dem Kasperletheater, wenn ein Kind sagt: „Geh da nicht hin!“, also dass man als Zuschauer tatsächlich in einer Geschichte drin ist. Das ist hier, heute Abend nicht der Fall. Das lehnt René total ab. Also, man muss jederzeit aussteigen können.

Aussteigen im Sinne von: weggehen?

Ja, dass man dann beispielsweise sagt: „Ich kann das nicht.“ Oder: „Ich hab jetzt auch keine Lust heute“. Oder: „Macht das doch alleine.“ Oder: „Ich nehme jetzt den Text in die Hand.“ Oder: „Wie war das nochmal, Joachim, – der Souffleur – kannst du mir mal kurz helfen? Deshalb ist es auch entlastend, das zu spielen. Weil man an keiner Stelle so tut.

Auf welche Weise versuchst Du als Zuschauerin, wenn Du selbst ins Theater gehst, nachzuvollziehen, wie Deine Kolleginnen agieren?

Ich versuche, nicht zu verstehen, was die Schauspielerin gemacht hat. Ich mag den Moment des Nicht-Verstehens. Ich mag sozusagen die Fremdheit eines Gedankens oder einer Situation. Ich mag es nicht, wenn Leute darüber hinweggehen. Und ich mag es auch nicht sehen, wie jemand etwas zu gut kann. Das finde ich dann eher langweilig.

Es geht in „Gasoline Bill“ viel um das Verstehen des Anderen. In welcher Weise?

Ich denke, was gemeint ist, diese Mitmenschlichkeit, diese Betaversion von einem selbst, dass man in dem anderen vermutet, dass davon auch etwas in mir ist. Das ist ja das Grundmissverständnis, obwohl sich da etwas nur monströs zeigt. Das Unverständliche ist das, was ich ernst nehmen kann, im Gegenüber.

Das ist ja fast Heiddegger-Esoterik. Das Falsche ist das Wahre. Ist da etwas dran?

So funktioniert eigentlich Beziehung. So funktioniert jedes soziale Miteinander. Das ist eine Utopie. So funktioniert es im Moment ja nicht. Wir suchen ja immer, was wir kennen. Wir suchen, auch wenn wir lesen, die Stellen raus, die uns etwas sagen.

Das Selektieren verstellt unseren Blick auf eine tiefere Wirklichkeit?

Wir halten uns an bestimmte Begriffe fest, um einfach zurecht zu kommen in diesem ganzen Chaos.  Eigentlich geht es wahrscheinlich darum, und ich weiß gar nicht, ob das lebbar ist, aber: Es bringt einen weiter, das Chaos zu akzeptieren. Auch im anderen. Auch in sich. Den anderen sich fremd zu machen und ihn zu lassen. Zu sagen: „Ich kenn‘ dich nicht. Jetzt erzähl‘ halt mal oder auch nicht. Du bist eben so.“

„Gasoline Bill“ zeigt das sehr expressiv.

Ich finde, Klarheit entsteht durch Bewusstsein. Jetzt kommen wir wirklich in die esoterische Ecke. Natürlich findet man Sachen, wie: „den anderen fremd machen und ihn nicht angleichen“ in jedem Beziehungsratgeber. Das ist trivial. Da könnte man auch sagen, da geht man zur Paartherapie und man fragt dann: „Kennen Sie ihren Ehepartner eigentlich? Was hat er denn für verborgene Wünsche?“

Eine Form von Klarheit sind auch Preise, die man verliehen bekommt. Verändert sich durch Preise die Art, wie Du schauspielerst?

Die Preise waren für mich immer eine große Überraschung, ernsthaft. Als das damals losging mit dem Bayrischen Filmpreis und dann mit dem Bären und so. Das habe ich ja alles nicht kommen sehen. Da habe ich immer einfach meine Arbeit gemacht.

Ohne die Medaillen im Hinterkopf?

Ich lese gerade dieses Interviewbuch mit Lars Eidinger und der würde mich jetzt wahrscheinlich ohrfeigen und sagen, ich stapele tief. Aber für mich war das echt nie wichtig. Ich wusste wirklich nicht, dass es so etwas gibt. Ich komme aus der totalen Provinz.

Ist Können nicht etwas, was sich notwendigerweise durchsetzt?

Das kann alles sein. Trotzdem braucht man Leute, die einen unterstützen.

Beweisen Preise denn nicht, dass man mit seiner Kunst richtig liegt?

Ich weiß nicht, ob Preise zeigen, dass man auf dem rechten Weg ist. Das kann ja genau umgekehrt sein.

Warum?

Vielleicht erreicht man die falschen Leute oder so. Das ist kein Gradmesser. Es ist schön. Vor allem, wenn Geld damit verbunden ist. Es ermöglicht Pausen. Es ermöglicht, dass man Projekte genauer auswählen kann. Es macht einen freier.

Fürchtest Du Dich davor, dass irgendwann aller Ruhm vorbei sein kann?

Furcht ist es nicht, aber das Wissen darum, dass das alles möglich ist. Eigentlich denke ich jeden Tag daran, dass es vorbei sein kann. Dass das plötzlich Leuten nicht mehr gefällt und dann muss ich mir halt etwas anderes suchen. Ich überlege immer was ich machen könnte, wenn nicht.

Etwas anderes als Schauspiel?

Ja.

Kommen diese Gedanken auch, wenn wie heute zwei, drei Leute plötzlich aufstehen und mitten im Stück rausgehen?

Ach, vielleicht hat denen auch einfach der Rauch nicht gefallen. Man weiß das ja nicht. Man weiß ja nie, warum Leute gehen. Vielleicht müssen sie tierisch aufs Klo, oder sie haben einen Anruf vom Babysitter gekriegt oder so. Da gibt es tausend Gründe, Man denkt immer erst, es hat mit einem selber zu tun oder mit dem, was man da macht. Aber, letztlich weiß man’s nicht.

Das Interview führte Jan Drees.

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