Ich habe die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen, und komisch, sie sieht aus wie das Be-On-Air-Studio von Sat. 1
Die Zukunft des Musikhörens sieht aus wie Indira, jene Kokotte, die das Kunststück fertigbrachte, von dem Chor Bro’Sis augeschlossen zu werden: wegen – ein noch größeres Kunststück – ihrer Vorliebe für Pop. Indira kennt sich aus im Geschäft, und deshalb wurde auch keine Berufenere gefunden, um in einem Kieler Plattenladen die Zukunft zu eröffnen: Von jetzt an kann man mit einem Scanner durch die Regale gehen und von den CD-Packungen die Nummern der Songs einlesen, die man auch wirklich hören möchte, und wenn man 20 beisammen hat, falls man so viele überhaupt wirklich hören will, geht man zur Kasse und lässt sich eine CD brennen. Jedes Stück kostet 99 Cent, der Rohling zwei Euro. Das ist zwar erstens teuer und zweitens sowieso idiotisch, aber Indira findet es toll, weil „man will ja doch nur die zwei, drei Veröffentlichungen hören“. Mit Veröffentlichungen meint sie wahrscheinlich das, was früher „Single-Auskopplung“ hieß. 20 000 Tracks gibt es auch schon. Da wird jeder etwas finden.
Vor Jahren war uns versprochen worden, dass Einkaufen mal ganz einfach wird, Internet, E-Commerce, Tauschbörsen und so. So passierte es auch: Die schlauen Kiddies luden alles aufs MP3 und brannten CDs für ganze Schulhöfe, und die dummen Alten suchten mehr und mehr 360-Gramm-Vinyl, um ihre Vergreisung zu zelebrieren. Die sogenannten Sleepers, die von der Industrie noch vor vier Jahren für kubanische Volksmusik begeistert wurden, entschliefen wieder bis zur nächsten Schtons-Platte.
Warum aber einfach, wenn es auch umständlich geht: Der gute alte CD-Supermarkt wird wieder zum Zentrum gesellschaftlichen Geschehens, der Kunde ist König, wenn er mit seinem Tacker durch die Gänge latscht und hier eine Nummer von Christina Aguilera, dort einen Hammerhit von Alexander abzwackt. Da eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten: Nummer 8 von Captain Beefheart, Nummer 2 von John Cale, vielleicht Nummer 5 von Portishead und die 10 von Tom Waits, dazwischen ein Brecher von Glenn Gould. So macht Kompilieren Spaßl Hatten wir bislang nur Kassetten für Angebetete bespielt und „Rare Trax“ vom klugen Zeitschriftenonkel zusammnestellen lassen, so herrscht jetzt die Demokratie des schlechten Geschmacks, die private Trash-Anthologie ersetzt den Themen-Sampler. Menschen, die nach Wetter, Jahreszeit und Fortbewegungsmittel ihre Musik aussuchen, geraten in ein Schlemmerland für Banausen. Wenn die 99-Cent-Preisbindung erst fällt, wird die Schnäppchenjagd nach geilen Tracks unter 50 Cent beginnen, die Plattenindustrie wird genesen, und daheim stapeln sich die coolen Kopplungen in phantastischer Artwork und mit köstlichen Liner Notes!
Jetzt braucht es nur noch einen Schritt bis zur künstlerischen Autarkie des Individuums, und es überrascht uns nicht, dass die Anregung von dem Kultursender Sat. 1 stammt, bei dem Harald Schmidt mittlerweile auch montags mit Mitarbeitern schnackt und dabei etwa Regenjacken testet: Weil Sat. 1 im letzten Jahr alles versuchte, um „Deutschland sucht den Superstar“ als eine Art Folterkammer zu diskreditieren, gründete die Firma jetzt eine eigene Sangesbude unter dem Titel „Star Search – das Duell der Stars von morgen“. Dabei stört es natürlich nicht, dass zu einem Duell stets nur zwei Teilnehmer gehören. „Star Search“ castet, wie man so sagt, aus Hunderttausenden von Schiffsschaukelwärtern, Wurstfachverkäuferinnen und Lehrstellensuchern eine Null wie Alexander Klaws oder eine Krawalltüte wie Daniel Kübfböck, und damit das alles noch bizarrer und aberwitziger wird, hat ein Knallkopf in Biergärten und Restaurants so genannte Be-On-Air-Studios aufgestellt – das Studio ist eine Art Freiluftkabine mit Dach, unter das man sich stellen kann, um ein Lied zu intonieren, was von einer Kamera beobachtet wird. Das Tollste aber: Um teilnehmen zu können, muss man in ein Handy singen und eine teure Nummer wählen. Angeblich, ja ganz bestimmt schaut sich jemand die Darbietung an und hört dazu das Geplärre aus dem Mobiltelefon.
Perfekt wäre allerdings erst die Synthese aus Gaga und Gier: In einer von Dieter Bohlen geleiteten Singzelle darf der Kunde eine speziell für ihn komponierte Nummer singen, die dann auf CD gebrannt wird, moderiert von Carsten Spengemann. Anschließend darf der Künstler sich die Show im Pay-TV ansehen, wenn er parallel eine 0190-Nummer wählt und alle Rechte abtritt. Michelle Hunziker kostet noch mal extra.