„Ich bin nicht besonders gut.“
Der französische Skandalautor Michel Houellebecq hat mit „Karte und Gebiet“ einen Roman geschrieben, den alle lieben.
Es gab in Frankreich tatsächlich keinen Skandal nach der Veröffent-lichung des neuen Romans von Michel Houellebecq. Die Kritik lobte ihn fast einhellig, und der Autor gewann sogar erstmals den renommierten Prix Goncourt. „Karte und Gebiet“ ist nämlich nicht einfach das neueste Pamphlet des houellebecqschen Weltekels, sondern ein geradezu altersmildes Werk, dem man die literarische Ambition durchaus anmerken kann. Größter Sensationswert: Der Autor hat sich selbst hineingeschrieben in diese Lebensgeschichte des Künstlers Jed Martin und wird im letzten Drittel des Romans auf ziemlich sonderbare Art und Weise ermordet und kunstvoll in seine Einzelteile zerlegt, sodass er bei seiner Bestattung in einen Kindersarg passt. Besonders groß ist er auch zusammengesetzt nicht. In seinem geliebten Camel-Legend-Parka, den er auch während des Interviews nicht ablegt, droht er fast zu versinken. Zwischen den Finger seiner Rechten glimmt natürlich die Kippe, an der er, wenn er nachdenkt, mit vorgeschobener Unterlippe gemächlich zieht. Und er denkt sehr viel und sehr lange nach. Was würde man geben, seine Gedanken lesen zu können! Vielleicht einige der einsilbigen, ohne Intonation genuschelten Antworten, die den Fragen immer in einigem Sicherheitsabstand folgen, und oft von mehreren, manchmal minutenlangen Pausen unterbrochen werden, in denen man höchstens ein leises Knurren vernimmt. „Ich bin ganz allgemein überhaupt nicht dafür geschaffen, eine öffentliche Rolle einzunehmen“, schrieb er in seinem Briefwechsel mit dem französischen Salonphilosophen Bernard-Henri Lévy.
Iggy Pop hat in einem Interview gesagt:“Ich kann mir keinen größeren Punk vorstellen als Houellebecq.“ Schmeichelt Ihnen das?
Nein, das schmeichelt mir überhaupt nicht. Ich habe die Punks immer verabscheut.
Der Roman scheint weniger nihilistisch und provokativ zu sein als Ihre früheren Werke.
Nein, nein. Meine Bücher waren nie nihilistisch oder provokativ.
Die Öffentlichkeit hat das anders gesehen.
Nicht die gesamte Öffentlichkeit. Die Leser können nichts für dieses Missverständnis. Die Journalisten sind nur einfach alle zu blöd. Das ist die Wahrheit.
Stimmt es, dass Sie sich beim Schreiben vorstellen, bei der Veröffentlichung des Romans schon tot zu sein?
Bei der Veröffentlichung wohlgemerkt. Die Anlieferung möchte ich noch erleben. Ich will das Buch in den Händen halten. Diese Selbsttäuschung hilft, weil man beim Schreiben den Eindruck hat, man kann machen, was man will. Man muss sich nicht um die Reaktionen der Presse scheren.
Es gibt eine Figur in Ihrem Roman, die Sie aus Presseberichten zusammengesetzt haben. Ein Autor, der „einer alten kranken Schildkröte ähnelt“. Er heißt natürlich Michel Houellebecq.
Ja, das stimmt. Das war amüsant zu schreiben.
Haben Sie die Romanfigur Houellebecq im letzten Teil von „Karte und Gebiet“ gemeuchelt, weil Sie vom Image des betrunkenen Misanthropen die Schnauze voll hatten?
Nein, nein, das ist nicht mein Image, das da stirbt, nicht das Bild von mir, sondern eine andere Gestalt. Eine Figur, die sich im Lauf des Buches sehr viel weiterentwickelt.
Sie haben sich Ihr Image also selbst wieder angeeignet.
Könnte man sagen, ja. (lange Pause, er versinkt noch tiefer in seinem schildkrötenpanzerähnlichen Parka) Es ist schwierig, in einer Branche zu arbeiten, in der die allermeisten Leute Idioten sind. Da genügt es schon, ein kleines bisschen besser zu sein, und schon ist man wer. Das hat etwa zum Erfolg der französischen Kulturzeitschrift „Les Inrockuptibles“ geführt. Die sind nicht schlecht, aber vor allem sind alle anderen Mist. In meinem Fall ist es ähnlich: Ich bin nicht besonders gut, aber das Niveau ist halt verdammt niedrig. Das ist die Wahrheit.
Steht „Karte und Gebiet“ in der Tradition des romantischen Künstlerromans?
Nein, nicht wirklich. Es vermittelt eher den Eindruck, dass die Menschen nicht viel Spielraum haben, und das ist eher eine tragische Seite als eine romantische.
Warum musste es ein bildender Künstler sein? Doch nicht nur, weil man – wie es in „Karte und Gebiet“ heißt – heute Künstler sein muss, um mit den schönsten Frauen zu schlafen?
Die sind einfach viel interessanter als ein Schriftsteller, denn in der Kunst ist alles möglich. Man kann mit allen Materialien arbeiten, mit Bildern und mit Tönen, man kann soziologische Thesen aufstellen usw. Das ist eine große Freiheit, die aber auch dazu führen kann, dass man in Panik gerät. Während ich mich eher in einer Romantradition sehe, die ich nicht wirklich verändert habe. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich ungefähr das Gleiche mache wie Balzac, ist das okay. Aber wenn ein Künstler den Eindruck hat, er mache das Gleiche wie Michelangelo, ist er in einer viel schwierigeren Situation.
Sie haben mal gesagt, dass der Roman gegenüber der Poesie nur eine zweitrangige Kunstform sei.
Ja, das hab ich gesagt. Aber ich kann das nicht begründen. Das ist eher eine Intuition. Poesie lebt länger. Die Beschreibung des Glücks ist für mich im Roman schwer, das ist ein echtes Problem. Dafür ist diese Form nicht sehr geeignet, und man läuft Gefahr, langweilig zu sein.
Sie wollten den Gewinn des Prix Goncourt mit Carla Sarkozy feiern.
Ich habe sie eingeladen, aber sie war verhindert. Wir kennen uns ganz gut. Ihren Mann kenne ich weniger gut, aber ich mag seinen Stil.
Guter Stil hin oder her – Politiker sind Ihrer Meinung nach doch eh machtlos.
Ja, das stimmt. Ich denke, alles unterliegt einem objektiven Mechanismus.
Die Werke des konservativen Autors Alexis de Tocquevilles, der schon im 19. Jahrhundert vor den Gefahren der Demokratie gewarnt hat, scheinen für Ihr Verständnis von Gesellschaft wichtig zu sein.
Ein glänzender Autor! Er liefert eine unglaublich tiefe Analyse historischer Ereignisse. Er hat viele Entwicklungen vorausgesehen. Zum Beispiel, dass die Demokratie letztlich zur Unfreiheit führt.
Sie beschreiben in „Karte und Gebiet“, wie Frankreich im Jahr 2035 aussehen könnte. Die Leute leben von Landwirtschaft, Tourismus und regionaler Küche.
Ja, eine schöne Vorstellung.
Als hätte die industrielle Revolution nie stattgefunden und all die unerfreulichen Nebenwirkungen der Demokratie und des Individualismus, die Tocqueville vorausgeahnt hat, wären nie eingetreten.
Könnte man so sagen, ja. Sicher ist, dass das System heute gegen die Wand fährt. Eine Sache hat Tocqueville allerdings nicht vorhergesehen: die Explosion der Familienstrukturen. Und es ist offensichtlich, dass das Abendland es heute nicht mehr schafft, sich demografisch zu reproduzieren. Und das ist (lacht) eine offensichtliche Todesursache.
So hatten wir uns den Untergang des Abendlandes nicht vorgestellt.
Dazu habe ich keine Meinung. Ich will nur darauf hinweisen, wenn es überleben soll, muss seine Demografie es erlauben.
Neben der gesellschaftlichen Regression gibt es in „Karte und Gebiet“ auch eine individuelle: Die zwei Hauptfiguren kehren jeweils an den Ort ihrer Kindheit zurück.
Die Stadt ist immer weniger interessant. Vor allem das Internet hat natürlich alles verändert. Alle, die es sich leisten können, verlassen die Stadt. Sie können sich das in Berlin nicht vorstellen, das ist keine teure Stadt, aber Paris ist unmöglich geworden. Die Menschen leben unter sehr schlechten Bedingungen.
Das ist ein wichtiges Thema Ihres Romans – die Lebensbedingungen.
Es gibt Leute, die der Meinung sind, dass der Geisteszustand der Menschen davon abhängt, in welchen Gebäuden sie leben. Ich gestehe, dass ich da Zweifel habe. Aber das ist sicher was Persönliches. Mir ist egal, wo ich lebe. Nur die Enge mag ich nicht. Deshalb bin ich auch nach Irland gezogen.
Sind Sie noch oft in Paris?
Ich fahre nur hin, wenn man mir das Hotel bezahlt.
Bekommen Sie Heimweh, wenn Sie im Ausland auf Franzosen treffen?
Dort, wo ich mich aufhalte, treffe ich keine Franzosen.